Das Problem ist nicht nur das Bankengesetz, sondern auch der mangelhafte Quellenschutz

Die Schweiz hat nicht nur ein Problem mit Art. 47 des Bankengesetzes, der es erlaubt, Journalisten zu bestrafen, wenn sie über Missstände berichten, die dem Bankgeheimnis unterstehen. Der Schutz der Banken vor wichtigen Recherchen hat System: So ist bei Geldwäscherei auch der Quellenschutz ausgehebelt.

Mit blinden Flecken und toten Winkeln lebt es sich schlecht. Das weiss, wer schon einmal rückwärts mit dem Auto einen Pfosten gerammt hat. Die Schweiz leistet sich so einen blinden Fleck in einem zentralen Wirtschaftsbereich: im Finanz- und Bankwesen. Und rammt Pfosten um Pfosten. 

Das zeigt sich im Skandal um die Credit Suisse, den «Suisse Secrets» – die einmal mehr den gesamten Finanzplatz dem Verdacht aussetzen, ein Hort der Geldwäscherei zu sein. Und das kann angesichts des Ukrainekriegs zur Zeitbombe werden für alle Schweizer Banken, die russische Oligarchen als Kunden haben.

Die Zürcher Grossbank CS soll gemäss dem Datenleck von 1940 bis ins letzte Jahrzehnt Geld von Despoten und Kriminellen angenommen haben. Die Bank weist die Vorwürfe zu «angeblichen Geschäftspraktiken entschieden zurück». 

Kein Quellenschutz

Die Schweiz hat aber mehr als nur einen blinden Fleck, sie hat sich ihren Sehnerv bewusst herausoperiert. Warum? Whistleblower, die Informationen über Geldwäscherei oder mangelnde Sorgfalt bei Finanzgeschäften öffentlich machen, können von den Medien nicht geschützt werden. Denn der Gesetzgeber nimmt Whistleblower ausgerechnet bei diesen Delikten vom Quellenschutz aus. Das tut er sonst fast nur bei schweren Straftaten wie Mord, Vergewaltigung oder Pornografie mit Minderjährigen.

Wenn eine Bankangestellte einem Journalisten von Geldwäscherei erzählt, ist der Journalist in der Regel rechtlich verpflichtet, deren Namen einem Staatsanwalt zu nennen. Ausnahmen gibt es nur, wenn das Strafverfolgungsinteresse nicht überwiegt. Damit ist klar: Kaum eine Angestellte einer Bank wird einen Schweizer Journalisten auf Geldwäscherei hinweisen. Whistleblower sind so gezwungen, sich an ausländische Journalisten zu wenden – wie im Fall CS. Die Daten gingen an die «Süddeutsche Zeitung».

Wenn der Whistleblower sich einer Schweizer Journalistin offenbart hätte, wäre sein Schutz nicht garantiert gewesen. Auch die Journalistin wäre ins Visier der Justiz geraten: Wenn sie über Missstände berichtet, die dem Bank- oder dem Finanzmarktgeheimnis unterstehen, kann sie in der Schweiz mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden (Art. 47 Bankengesetz). 

Die Rolle des Nationalrats

«Es gehört nicht zur Aufgabe von Journalisten, geheime, intime, persönliche Daten, die gestohlen wurden, in den Medien auszubreiten», sagte FDP-Politiker Andrea Caroni 2014 im Nationalrat, als die Regelung beschlossen wurde. Nach dem Fall CS rudert Caroni zurück und meint, möglicherweise sei der Regler nicht perfekt eingestellt. Umgehend fordert er aber weitere Einschränkungen des Quellenschutzes – etwa für vertrauliche Kommissionssitzungen. 

Die Forderung hat einen persönlichen Hintergrund. Caroni hatte als Präsident der Gerichtskommission 2021 grosse Mühe, einen neuen Bundesanwalt zu finden. Genervt darüber, wie die Medien über einzelne Kandidaturen berichteten, forderte er, dass Parlamentarier überwacht werden müssten und der Quellenschutz von Journalisten auszuhebeln sei. Das Problem waren aber weder Quellenschutz noch Medien, sondern die Mitglieder der Gerichtskommission. Sie hatten die Geheimhaltung zu wenig ernst genommen und Infos ausgeplaudert. Caroni hätte bei ihnen für Ordnung sorgen müssen – statt bei den Nachrichtenüberbringern.

Das gilt auch im Fall Credit Suisse. Das Problem sind nicht die Medien. Es sind die Banken, die trotz allen Skandalen die Herkunft von Kundengeldern zu wenig sorgfältig prüfen. Deshalb braucht es Whistleblower und Medien: weil die manchmal das letzte Mittel gegen blinde Flecke und tote Winkel sind. Sie sind es, die Licht ins Dunkel bringen – von allen Seiten und in alle Ecken. Damit das möglich ist, muss nicht nur das Banken- (und Finanzinformationsgesetz!) geändert werden, sondern auch der Ausnahmekatalog des Quellenschutzes.

Dieser Text erschien erstmals in Beobachter, 3. März 2022

Grundeigentum als Risiko für Journalist:innen

Das Bundesgericht hat das Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs gegen eine Journalistin eingestellt, die auf ein besetztes Grundstück ging, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Das ist erfreulich. Aber damit ist für den journalistischen Alltag und die Medienfreiheit leider kaum etwas gewonnen.

Vor fünf Jahren, am 20. April 2016, betrat die Journalistin Jana Avanzini in Luzern gegen Abend ein Grundstück des Unternehmers Jørgen Bodum, das von der Gruppe Gundula besetzt worden war. Über ihren Besuch schrieb sie eine Reportage für das Onlinemagazin Zentralplus.

Die Bodum AG hatte am Vormittag des 20. April 2016 einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gegen unbekannte Täterschaft eingereicht. Gestützt darauf eröffnete die Luzerner Staatsanwaltschaft auch ein Strafverfahren gegen Avanzini. Das anschliessende Verfahren ist ein wunderbarer Stoff für eine juristische Masterarbeit. Mindestens.

Dem Strafverfahren nach fünf Jahren den Boden entzogen

Die Strafbehörden zogen alle Register des Strafrechts – von fehlendem Vorsatz über den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen bis hin zum (vermeidbaren) Verbotsirrtum. Alle prüften und argumentierten. Und allen war irgendwie unwohl, eine recherchierende Journalistin zu verurteilen. Fast alle verurteilten doch (vgl. unten). Und am Schluss kommt nun das Bundesgericht und entzieht dem ganzen Strafverfahren den Boden: Es gab gar keinen gültigen Strafantrag (Urteil 6B_1214/2020 vom 25. März 2021).

Ein Strafantrag kann sich gemäss Bundesgericht in der Regel nur auf begangene Delikte beziehen, also auf einen Sachverhalt, der sich bereits ereignet hat. Nur bei einem Dauerdelikt wie Hausbesetzung könne man den Strafantrag auch auf Sachverhalte ausdehnen, die sich später abgespielt haben. Das sei aber beschränkt auf Mittäter oder Gehilfen, die den gleichen Vorsatz wie die Haupttäter haben, meint nun das Bundesgericht.

Im konkreten Fall habe die Journalistin erst nach Einreichen des Strafantrags (Vormittag) das Grundstück betreten (Abend). Von diesem Strafantrag ist sie gemäss Bundesgericht nur miterfasst, wenn sie den gleichen Vorsatz hatte, wie die Täter. Der Strafantrag habe sich zwar gegen unbekannte Täterschaft gerichtet, aber mit ihm wurde gemäss Bundesgericht die durch die Gruppe Gundula „initierte und organisierte Hausbesetzung als Lebenssachverhalt zur Anzeige gebracht“. Das heisst: Der Strafantrag hätte die Journalistin nur miterfasst, wenn sie den Vorsatz gehabt hätte, Mittäterin oder Gehilfin der Hausbesetzer:innen zu sein. Das hatte sie aber gemäss Bundesgericht nicht. Sie habe eine Reportage schreiben wollen und nicht das Haus besetzen. Deshalb fehlt es gemäss Bundesgericht an einem gültigen Strafantrag. Und deshalb stellt es das Strafverfahren ein.

Schlecht für die Medien

Gut für Jana Avanzini. Gut für das Strafprozessrecht, das einen Leading Case mehr hat. Schlecht für die Medien. Denn ein (allenfalls zusätzlicher) gültiger Strafantrag auch gegen missliebig recherchierende Journalist:innen ist in Zukunft schnell gestellt.

Und dann stellen sich wieder all die ungeklärten Grundsatzfragen: Hat ein Journalist, der auf einem besetzten Grundstück recherchiert, den Vorsatz Hausfriedensbruch zu begehen? Muss sich eine Journalistin zuerst bei (Straf-)Behörden über die Rechtslage erkundigen, bevor sie sich auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen kann? Und: Welche Auskunft geben diese Behörden? Denn die Rechtslage ist heute so unklar wie zuvor. Können sich Journalistinnen auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen? Und unter welchen Voraussetzungen? Nur, wenn sie auf dem Grundstück Missstände von öffentlichem Interesse festgestellt haben? Und wie weiss man das als Journalist, wenn man eigentlich gar nicht aufs Grundstück dürfte?

Allen war irgendwie unwohl

Schaut man auf die Prozessgeschichte war allen beteiligten Strafbehörden irgendwie unwohl. Alle suchten sie unterschiedliche Argumentationen, um das Dilemma des Zusammenstosses von Medienfreiheit und Eigentumsgarantie abzumildern.

Die Staatsanwaltschaft Luzern stellte das Verfahren am 18. Juni 2018 auf Einsprache hin ein. Die Journalistin habe keinen Vorsatz für Hausfriedensbruch gehabt; zudem habe sie mit ihrer Recherche vor Ort Informationsinteressen verfolgt und könne sich auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen.

Nachdem das Kantonsgericht Luzern die Staatsanwaltschaft zurückgepfiffen hatte (So grundsätzliche Fragen dürfe nicht ein Staatsanwalt, sondern müsse ein Richter entscheiden), verurteilte das Bezirksgericht Luzern die Journalistin wegen Hausfriedensbruchs am 26. Juni 2019 zu einer Busse von 500 Franken. Das Strafmass fiel sehr tief aus, weil die Richter:innen der Journalistin einen Verbotsirrtum zubilligten, der aber vermeidbar gewesen wäre. Die Journalistin hätte sich vorgängig bei der Staatsanwaltschaft oder einer anderen Behörde über die Rechtslage informieren müssen. Das Kantonsgericht Luzern bestätigte das Urteil.

Alle diese Entscheide der Vorinstanzen sind mit dem Urteil des Bundesgerichts Makulatur. Und Journalist:innen müssen weiterhin mit grosser Rechtsunsicherheit leben, wenn sie auf einem besetzten Grundstück recherchieren.

Etwas höhere Hürde durch ausdrücklichen Strafantrag gegen Medien

Immerhin muss ein Grundeigentümer in Zukunft wohl einen separaten Strafantrag spezifisch gegen die Journalistin, den Journalisten stellen, der auf dem besetzten Gelände recherchierte. Und das tut er vielleicht – im Unterschied zu einem Strafantrag gegen die Hausbesetzer:innen selbst – möglicherweise nicht.

Bodum hätte es wohl getan. Das zeigt die Hartnäckigkeit, mit der er Jana Avanzini ins Recht zu fassen versuchte. Selbst auf das Risiko hin, dafür einen (tiefen) fünfstelligen Betrag für Gerichts- und Anwaltskosten hinblättern zu müssen.

Strafbescheide der Verwaltung – die Liste

Zahlreiche Bundesämter machen ihre Strafentscheide öffentlich: Swissmedic, BAG, Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr, Eidgenössische Steuerverwaltung, EFD etc. Eine Liste mit Sachbereichen und Zugangsmodalitäten erleichtert die Übersicht.

Ihr findet die (unvollständige) Liste der Ämter, Strafzuständigkeitsbereiche und Zugangsmodalitäten hier. Diese Liste könnt ihr kommentieren. Falls ihr Ergänzungen, Anregungen habt, bitte meldet es mir (auch) per Mail (dominique.strebel(at)gmx.ch).

 _ Hier gehts direkt zum Abo des Newsletters von Swissmedic  
_ Hier gehts zum Abo des Newsletters des Dienstes ÜPF 
_ Für Einsicht bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung meldet man sich per Mail einsicht.strafbescheide@estv.admin.ch
_ Hier gehts zum Mustergesuch für den Zugang zu Strafentscheiden der Verwaltung 

Und hier findet ihr ein Handout zu Verwaltungsbescheiden der Verwaltung, das den Hintergrund erklärt.

Viel Erfolg!

„Zitieren Sie mich so oder gar nicht“

Auskunftspersonen können nicht beliebig darüber bestimmen, wie ihre Aussagen zitiert werden – auch dann nicht, wenn sie schriftlich Stellung nehmen oder ihre Zitate schriftlich autorisieren. Umfang und ausgewählte Zitate liegen meist in der Hoheit der Journalistinnen und Journalisten.

Hier ein paar Leitlinien zu zwei Musterfällen (weitere grundsätzliche Ausführungen zur Problematik des Zitierens finden Sie in diesem Blogbeitrag.)

I. Jemand nimmt (zu) ausführlich schriftlich Stellung – ohne eine Bedingung zu stellen. 

Leitlinien sind:
1. Die Journalistin darf gewisse Passagen direkt zitieren, andere paraphrasieren. 
2. Die zitierte Person hat nur die Hoheit über die direkten Zitate, nicht aber über den Umfang des direkt Zitierten oder überhaupt Wiedergegebenen. Der Journalist muss einfach Ziffer 3 beachten.
3. Die betroffene Person muss mit ihren besten Argumenten (direkt oder indirekt) zu Wort kommen. (Ständige Praxis des Presserates, publizistische Leitlinien SRF.)
4. Was direkt – zwischen Anführungsstrichen – zitiert wird, muss wortgenau wiedergegeben werden (Recht am eigenen Wort/Zitat).
5. Die zitierte Person hat keinen Anspruch darauf, die ausgewählten Passagen nochmals zu sehen. Sie hat ja bereits die Aussagen (schriftlich) autorisiert. Die Auswahl liegt alleine in der Hoheit der Journalistin.
6. Ein Rückzug der Zitate ist nur in Ausnahmefällen möglich (wenn die zitierte Person schwere Nachteile zu gewärtigen hätte – etwa eine Anzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung etc. siehe dazu Meili, Basler Komm. zu Art. 28 ZGB, Rz 48 m.H.).

II. Jemand nimmt (zu) ausführlich schriftlich Stellung, stellt aber die Bedingung „So oder gar nicht“. 

Leitlinien sind:
1. Der Journalist/die Journalistin muss diese Bedingung für die direkten Zitate akzeptieren. Es darf also nicht auszugsweise direkt zitiert werden, denn die Einwilligung steht unter der Bedingung „Alles oder nichts“. Falls diese nicht eingehalten wird, fällt die Einwilligung weg. (Und ohne Einwilligung darf man nur im Ausnahmefall des überwiegenden öffentlichen Interesses trotzdem direkt zitieren). 
2. Hingegen darf alles paraphrasiert, also inhaltlich umschrieben werden. Es muss aber alles stimmen. Das zugesandte, nicht verwendete Zitat dient dann als Beleg, dass inhaltlich wahr ist, was man schreibt. Grund: Das Recht am eigenen Wort gibt in der Regel nur die Hoheit über die direkten Zitate, nicht aber über den vermittelten Inhalt. (Ausnahme: Der Widerruf des Gesagten ist ausnahmsweise zulässig vgl. oben).
3. Zudem gilt bei einer Stellungnahme zu einem schweren Vorwurf auch hier: Im umschreibenden Text müssen die besten Argumente der kritisierten Person dargestellt werden. Dann halt ohne wörtliches Zitat.

Mustergesuch für den Zugang zu Strafbefehlen

Staatsanwaltschaften müssen Strafbefehle öffentlich zugänglich machen. Das ist ein Gebot der Bundesverfassung (Art. 30 Abs. 3 BV) und des Gesetzes (Art. 69 Abs. 2 StPO). Ein Mustergesuch erleichtert den Zugang.

Staatsanwaltschaften legen nicht anonymisierte Strafbefehle vor Ort während einer gewissen Frist vor Ort auf (von Kanton zu Kanton unterschiedlich, vgl. etwa die Zusammenstellung in diesem Dokument).

Aber auch nach Ablauf dieser Auflagefrist müssen Staatsanwaltschaften Strafbefehle zugänglich machen – wenn auch in der Regel anonymisiert. Falls Staatsanwaltschaften dafür ein „ernsthaftes“ Interesse verlangen, ist dies bei Medienschaffenden durch das Interesse an Information und Justizkontrolle gegeben.

Damit es einfacher ist, Strafbefehle auch nach Ablauf der Auflagefrist vor Ort herauszuverlangen, habe ich ein Mustergesuch verfasst.

Aber: Fragt bitte immer zuerst telefonisch bei der Staatsanwaltschaft nach und fallt nicht einfach mit dem Gesuch ins Haus. Das führt eher zum Erfolg.

Ich bin interessiert an euren Erfahrungen mit dem Musterbrief. Mailt sie mir. Ich versuche, das Wissen rund um Justizdokumente zu poolen und allgemein zugänglich zu machen.

Vom Ringen um ein Recht – Willkür bei der Staatsanwaltschaft?

Ein Zürcher Staatsanwalt gewährt einem SVP-Kantonsrat, was er einem Betroffenen verweigert: Einblick in Strafbefehle nach dem aufsehen­erregenden Klimaprotest vor dem CS-Hauptsitz.

Christian Philipp, Leiter des Rechts­dienstes der Zürcher Ober­staats­anwaltschaft, gewährte dem Zürcher SVP-Kantons­rat Claudio Schmid Einsicht in 41 nicht anonymisierte Straf­befehle von Klima­aktivisten. Einem betroffenen Aktivisten gegenüber zeigte sich Philipp weniger kulant: Ihm verweigerte er das verfassungs­mässige Recht auf Justiz­öffentlichkeit. Der Fall zeigt, wie fragwürdig die Zürcher Staats­anwaltschaft mit diesem verbrieften Recht umgeht.

Jede Person in der Schweiz hat das Recht, in Gerichts­säle zu sitzen und zuzuhören, wie Richterinnen Recht sprechen. Und weil heute mehr als 98 Prozent aller Straf­verfahren nicht mehr von Gerichten, sondern von Staats­anwälten im einsamen Kämmerlein entschieden werden, darf auch jede Person diese Straf­befehle einsehen. Sie liegen bei den Staats­anwaltschaften auf – im Kanton Zürich 30 Tage lang, nachdem ein Straf­befehl rechtskräftig geworden ist. «Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung», schreibt das Bundes­gericht in einer wieder­kehrenden Formel, «bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinetts­justiz und soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und den übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetz­mässige Behandlung gewährleisten.»

Alles klar? Mitnichten. Das zeigt der Fall des Klima­aktivisten Marco Bähler. Ein Bericht über den Kampf eines David gegen Goliath in drei Runden. Mit Aufwärm- und Dehnphase.

Aufwärmen: Klima­aktivist Marco Bähler spielt am 8. Juli 2019 vor dem CS-Hauptsitz am Zürcher Parade­platz auf der Mund­harmonika «This Land Is Your Land». Der 64-jährige Physik­laborant ist einer von 64 Frauen und Männern, die mit Velos und Pflanzen­kübeln den Eingang der Grossbank verstellen. Wer in die Bank will, muss über die Ketten steigen, mit denen sich Aktivistinnen an die Kübel gefesselt haben. Sie protestieren gegen die Anlage­politik der CS, die ihrer Meinung nach den Klima­wandel beschleunigt. Die Polizei nimmt die Aktivisten fest, Marco Bähler sitzt 47 Stunden lang in Haft. Er verlässt das Polizei­gefängnis mit einem Strafbefehl wegen Nötigung und Haus­friedens­bruch, verurteilt zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tages­sätzen à 30 Franken und 800 Franken Verfahrenskosten.

Runde 1: Am 11. Juli, einen Tag nach seiner Freilassung, verlangt Bähler per Kontakt­formular der Zürcher Staats­anwaltschaft Einsicht in sämtliche Straf­befehle, die bei jener Polizei­aktion ausgestellt wurden – «gestützt auf das Öffentlichkeits­gesetz und die Bundes­verfassung». Er will wissen: Wie wurden seine Aktivisten­kolleginnen bestraft? Und vor allem: Wurden ausländische Beteiligte härter angefasst? Bähler will auch kontrollieren, wie unterschiedliche Straf­masse begründet sind. Mit gutem Grund, wie sich später zeigen wird: In Zürich wurden die Aktivisten zu Geld­strafen von 60 bis 80 Tages­sätzen verdonnert; in Basel, wo eine ähnliche Aktion stattfand, reichen die Strafen gar von 150 bis 170 Tage Freiheits­strafe oder 180 Tages­sätze Geld­strafe. In Lausanne hingegen wurden Klima­aktivistinnen im Januar 2020 wegen «recht­fertigenden Notstands» von der ersten Instanz zuerst freigesprochen, von der zweiten Instanz letzten Donnerstag aber zu bedingten Geld­strafen von 10 bis 20 Tagessätzen verurteilt.

Bähler erhält auf sein Gesuch keine Antwort. Wochen­lang. Wieso reagiert die Staats­anwaltschaft nicht? «Einsichts­begehren, welche über ein Kontakt­formular der Website der Staats­anwaltschaft ohne genügende Identifizierung des Antrags­stellers gestellt und auch nicht unterzeichnet sind, genügen der erforderlichen Form nicht», sagt Staats­anwalt Christian Philipp, Leiter des Rechts­dienstes und stellvertretender Medien­verantwortlicher der Zürcher Ober­staatsanwaltschaft. Das Kontakt­mail sei nur für allgemeine Anfragen gedacht und nicht für Rechts­begehren. Das sei auf der Website auch so vermerkt.

Entscheid des Ringrichters: Ein klares Foul der Staats­anwaltschaft. Sie informiert die Bürger zu wenig transparent darüber, dass sie gesetzlich während 30 Tagen die Möglichkeit haben, einen Straf­befehl einzusehen, und wie dieses Recht wahrgenommen werden kann. Darauf weist die Website nirgends hin.

Pause zwischen Runde 1 und Runde 2: Am 29. Juli 2019 stellt SVP-Kantons­rat Claudio Schmid als Bürger ein Einsichts­begehren per simplem E-Mail, ohne sich zu identifizieren. Auf sein Gesuch antwortet Staats­anwalt Christian Philipp am 5. September 2019: «Ihr Einsichts­gesuch wurde innert dreissig Tagen nach Rechts­kraft eines Teils der Straf­befehle gestellt, weshalb Sie ohne ein spezielles Einsichts­interesse geltend machen zu müssen (…) Einsicht in die Straf­befehle nehmen können.»

Runde 2: Etwa eine Woche später, am 6. August, fragt Physik­laborant Bähler per Mail bei der Staats­anwaltschaft nach, was mit seinem Einsichts­gesuch passiert sei und ob er jetzt Einsicht nehmen könne. Staats­anwalt Philipp antwortet am 7. August, dass man in Straf­befehle nur «nach begründeter Geltend­machung des Einsichts­interesses innert dreissig Tagen nach Eintritt der Rechts­kraft» Einsicht nehmen könne. Zu Bählers konkretem Gesuch meint der Staats­anwalt: «Die unbegründete, pauschale Einsichts­forderung von Ihnen in die besagten, grössten­teils noch nicht rechts­kräftigen Straf­befehle findet somit keine rechtliche Grundlage.»

Wieso könnte Bähler die Straf­befehle erst «nach begründeter Geltend­machung des Einsichts­interesses» einsehen? Rechts­dienstleiter Philipp führt auf Anfrage aus, es gehe bei Bählers Gesuch «um Einsicht in Straf­befehle, welche es Dritt­personen ermöglicht, die politische Gesinnung bestimmter Personen und deren Welt­anschauung offenzulegen (Klima­aktivisten)». Die Ausgangs­lage sei somit nicht die gleiche, wie wenn jemand Einsicht in einen Straf­befehl nehmen wolle, bei dem es nicht um die «gesinnungs­bezogene Ausrichtung der bestraften Person» gehe. Philipp schreibt zudem: In solchen Fällen müsse man allen Verurteilten das rechtliche Gehör gewähren, ob sie in eine Einsicht einwilligen.

Eine Antwort, die Fragen aufwirft: Wieso soll das alles plötzlich bei Klima­aktivist Bähler gelten, nicht aber bei SVP-Politiker Schmid? Wieso muss Schmid kein begründetes Einsichts­interesse dartun, sich nicht identifizieren, und wieso werden bei seinem Gesuch die Betroffenen nicht angehört? Gerade beim SVP-Politiker wäre ja ein Schutz der Gesinnung von Klima­aktivistinnen allenfalls wichtig. Spielt es eine Rolle, dass der SVP-Kantonsrat 2018 einen Vorstoss eingereicht hat, der der Staats­anwaltschaft vorwarf, Verfahren zu verschleppen? Staats­anwalt Christian Philipp will zu diesen Fragen keine Stellung nehmen.

Entscheid des Ringrichters: Ein mehrfaches Foul des Staats­anwalts. Philipp erfindet eine Beschränkung der Justiz­öffentlichkeit, die weder in Verfassung, Gesetz noch in den Weisungen seiner eigenen Behörde, der Ober­staats­anwaltschaft des Kantons Zürich, vorgesehen ist. Das kritisiert Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungs­recht an der Universität Basel: «Offenbart eine Straftat eine gewisse Gesinnung des Verurteilten», erklärt er, «so ist es im Gegenteil umso wichtiger, dass sich die Öffentlichkeit vom Verhalten des Gerichts oder des Staats­anwalts ein Bild machen kann.» Und zum Zweiten misst Staats­anwalt Philipp ohne Grund mit ungleichen Ellen. «Aufgrund der geschilderten Fakten ist kein Grund für die rechts­ungleiche Behandlung ersichtlich», so Staats­rechtler Schefer. «Deshalb scheint es, dass der Staats­anwalt willkürlich gehandelt hat.» Zu diesen Vorwürfen will Philipp ebenfalls keine Stellung nehmen.

Pause zwischen Runde 2 und Runde 3: SVP-Kantons­rat Schmid nimmt Anfang Oktober 2019 Einsicht in die 41 rechts­kräftigen Straf­befehle – nicht anonymisiert, also alle mit Namen versehen. Das ist sein gutes Recht. Er publiziert darauf Namen, Herkunft und Straf­mass auf Twitter. So etwa am 8. Oktober 2019: «Angriff von Klima­aktivisten aus Deutschland gegen den Finanz­platz Zürich – U. B., Alter, Wohnort (von der Redaktion anonymisiert), 80 Tage Geld­strafe unbedingt, vorbestraft». Basierend darauf, erscheint am 18. Oktober 2019 in der rechts­konservativen «Schweizer­zeit» der Artikel «Angriff der Klima-Extremisten», geschrieben von Schmids Partei­kollege Hermann Lei, SVP-Kantons­rat aus dem Kanton Thurgau. Darin werden Herkunft, Tätigkeit, teilweise auch Namen der Aktivistinnen und die jeweiligen Strafen genannt.

Runde 3: Der Schlag­abtausch zwischen Klima­aktivist Bähler und Staats­anwalt Philipp wird intensiv: Einer rechten Geraden folgt ein Haken, dann ein Aufwärts­haken. Und der Rechts­ausleger gibt mit linker Gerade und Aufwärts­haken zurück. Es kommt zu einem Hin und Her von Gesuchen, Entscheiden, einer Beschwerde an die Justiz­direktion und einer Rechts­auskunft des von Bähler angerufenen Daten­schützers des Kantons Zürich. Dieser befindet: «Nach dem Willen des Gesetz­gebers sowie nach herrschender Lehre ist für die Einsicht­nahme in einen Straf­befehl kein Interessen­nachweis voraus­gesetzt. Eine zeitliche Beschränkung des Einsichts­rechts ist weder der Bundes­verfassung noch der Straf­prozess­ordnung zu entnehmen.» Schliesslich verfügt Staats­anwalt Philipp am 3. August 2020, dass Bähler sämtliche 41 rechts­kräftigen Straf­befehle anschauen darf – aber in anonymisierter Form.

Er habe das Einsichts­verfahren nicht verschleppt, wehrt sich Philipp. Das lange Verfahren sei darauf zurück­zuführen, dass Bähler erst im November 2019 ein formal gültiges Gesuch gestellt und danach Beschwerde erhoben habe. Zudem habe der Rechts­dienst der Ober­staatsanwaltschaft jährlich mehrere tausend Einsichts­begehren zu beurteilen.

Schlussentscheid des Kampf­richters: Ein klarer Sieg nach Punkten für Klima­aktivist Marco Bähler. Ein Jahr und 23 Tage nach seinem ersten Gesuch erhält er Zugang zu den Straf­befehlen, wenn auch in anonymisierter Form. Staats­anwalt Christian Philipp liegt angezählt auf der Matte. Transparenz und Justiz­öffentlichkeit leider auch.

Dehnphase: Klima­aktivist Marco Bähler hat eine Aufsichts­beschwerde an die Zürcher Justiz­direktion eingereicht. Er will damit das Verhalten des Leiters des Rechts­dienstes der Zürcher Staats­anwaltschaft sowie dessen Umgang mit dem verfassungs­mässigen Recht auf Justiz­öffentlichkeit grundsätzlich überprüfen lassen.

(Dieser Text ist erstmals erschienen am 30. 9. 2020 in der Onlinezeitschrift www.republik.ch )

Hohe Hürden für Recherchen auf besetzten Grundstücken

In zweiter Instanz verurteilt das Kantonsgericht Luzern eine Journalistin wegen Hausfriedens­bruchs. Der Entscheid hat weitreichende Folgen für den Journalismus.

Am 20. April 2016 betrat die Journalistin Jana Avanzini das besetzte Grund­stück einer Villa in Luzern, das dem Industriellen Jørgen Bodum gehört. Die Journalistin wollte sich vor Ort ein Bild über die Besetzung und den Zustand des Gebäudes machen. Dieser Zustand war entscheidend für die Frage, ob das Haus, das unter Ortsbild­schutz steht, abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden darf, wie Bodum es plante. Das Online­magazin «Zentral­plus» schickte Avanzini deshalb zum Augen­schein und publizierte am nächsten Tag einen Artikel.

Für diese Recherche vor Ort wird Avanzini vom Kantons­gericht Luzern in zweiter Instanz wegen Haus­friedens­bruchs zu 500 Franken Busse verurteilt. Nun liegt die schriftliche Begründung vor: Die Journalistin kann sich gemäss den drei Luzerner Richtern nicht damit rechtfertigen, dass sie die berechtigten Interessen der Öffentlichkeit an Information wahrgenommen habe. Dieser ausser­gesetzliche Rechtfertigungs­grund sei gemäss Bundes­gericht und Europäischem Gerichts­hof für Menschen­rechte nur zu berücksichtigen, wenn die Straftat das einzige Mittel ist, um Informationen «von wirklich erst­rangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit zu erlangen. Und solche Informationen habe Avanzini weder publiziert noch mit ihrer Recherche zu beschaffen beabsichtigt. Ihr Artikel ist in den Augen der Kantons­richter ein reiner Erlebnis­bericht. Die Journalistin habe bei ihrer Recherche vor Ort auch nicht erwarten können, wesentliche Neuigkeiten oder Missstände von erstrangiger Bedeutung festzustellen – etwa Giftstoffe wie Asbest oder Mängel in der Statik –, weil ihr dafür die nötige Fach­kenntnis gefehlt habe.

Verbotsirrtum der Journalistin

Trotzdem hat das Gericht Verständnis für die Journalistin. Es setzt das Straf­mass sehr tief an, weil es ihr einen Verbots­irrtum zubilligt. Die Luzerner Richter nehmen Avanzini ab, dass sie glaubte, als Journalistin das Grund­stück betreten zu dürfen. Aber Avanzini hätte sich laut Kantons­gericht bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft über die Rechts­lage erkundigen müssen. Darum sei der Irrtum vermeidbar gewesen. Und deshalb sieht das Gericht nicht von einer Strafe ab, sondern reduziert sie bloss. Jana Avanzini lässt noch offen, ob sie das Urteil ans Bundes­gericht weiter­ziehen wird. Dafür hat sie 30 Tage Zeit.

Hohe Hürde für Recherchen auf besetzten Grundstücken

Das Urteil des Luzerner Kantons­gerichts ist sorgfältig begründet und setzt sich – im Unterschied zum Urteil der ersten Instanz – auch mit einem wichtigen einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichts­hofs für Menschen­rechte auseinander. Die Luzerner Richter erkennen teilweise auch, dass es nicht darum geht, publizierte journalistische Berichte zu beurteilen, sondern die Ziele einer Recherche. Denn gute Journalistinnen recherchieren ergebnis­offen. Sie wissen nicht im Vornherein, was sie bei einer Recherche, etwa bei einem Augen­schein, heraus­finden werden. Deshalb müssen sie unter Umständen Delikte begehen, bevor sie wissen, dass sie Missstände aufdecken und somit gerechtfertigt handeln. Und da stellt das Luzerner Kantons­gericht in seinem Urteil hohe Anforderungen. Recherchen auch auf einem Grund­stück werden in Zukunft wohl möglich bleiben, falls die Umstände zumindest erahnen lassen, dass man vor Ort Missstände antreffen wird und der Journalist diese auch erkennen kann.

Was soll man Journalistinnen in Zukunft raten?

Sie müssen bei einer Recherche, die eine Straftat in Kauf nimmt, noch sorgfältiger abwägen, ob sie mit einer allfälligen Straftat Informationen «von wirklich erstrangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit erlangen können. Zudem sollten Journalisten vor Ort Beweise sichern – in Form von Fotos oder Boden­proben beispiels­weise –, die es nötigenfalls später Fach­leuten erlauben, allfällige Missstände zu erkennen. Falls sie unter Einsatz strafbarer Handlungen keine Missstände von hohem öffentlichem Interesse finden, sollten Journalistinnen nichts publizieren. Denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Untauglich ist die Forderung der Luzerner Richter, dass ein Journalist bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft nachfragt, ob ein Augen­schein auf einem Grundstück legal ist. Die staatlichen Behörden werden immer abraten. Zudem gibt es in dieser Frage grosse Ermessens­spielräume, die nicht die Behörden, sondern die Redaktionen selbst – in Absprache mit einer Medien­anwältin – beurteilen sollten.

Was heisst das Urteil für die Gesellschaft?

In der öffentlichen Diskussion über besetzte Grund­stücke werden Informationen fehlen, die Journalisten aus unabhängiger Warte recherchiert haben. Die Öffentlichkeit wird nur noch die Behauptungen von Besetzerinnen, Grund­eigentümern und Behörden erfahren. Das Urteil hat nämlich einen chilling effect, der viele Journalistinnen davon abhalten wird, sich selbst vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Denn obwohl Jana Avanzini nur zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde, wird dies im Straf­register eingetragen – fatal für Bewerbungen und Wohnungs­suche in den nächsten siebeneinhalb Jahren. Erst dann wird die Strafe aus dem Privat­auszug gelöscht.

Urteil 4M 1987 des Kantons­gerichts Luzern vom 25. März 2020, nicht rechtskräftig.

(Dieser Text wurde am 29. September 2020 erstmals veröffentlicht auf http://www.republik.ch)

Steuergeheimnis gelockert: Strafbefehle der Steuerverwaltung einsehbar

Die eidgenössische Steuerverwaltung ESTV legt ihre Strafbefehle ab November 2020 zur Einsicht auf, allerdings nur anonymisiert. Trotzdem ist dies ein Sieg des Journalisten Mischa Aebi, der dieses Recht vor Bundesverwaltungsgericht erstritten hat.

Wer vorsätzlich oder fahrlässig falsche Angaben macht, wenn er die Mehrwertsteuer abrechnet, kann von der eidgenössischen Steuerverwaltung ESTV mit einer Busse bis 400’000 Franken bestraft werden (Steuerhinterziehung – Art. 96 MwStG). Eine Busse droht etwa auch, wer sich nicht korrekt bei den Steuerbehörden anmeldet, obwohl er steuerpflichtig ist (Art. 98 Abs. 1 Bst. a MwStG). Das sind nur zwei Strafbestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes. Und im Verrechnungssteuergesetz gibt es analoge Strafbestimmungen (Art. 61 VStG).

Gebot der Justizöffentlichkeit auch im Steuerbereich anwendbar

Alle diese Strafbestimmungen führen zu Strafbefehlen und Strafverfügungen, die die ESTV ausfällt. Weil es sich dabei um Entscheide des Verwaltungsstrafrechts handelt, fallen sie unter das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) und müssen somit öffentlich verkündet werden. Das Steuergeheimnis hat gemäss Bundesverwaltungsgericht zwar einen hohen Stellenwert, steht aber der Gerichtsöffentlichkeit gemäss Art. 30 Abs. 3 BV nicht grundsätzlich entgegen (Erw. 4.7, 4.8). Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Leitentscheid nun erstmals festgehalten (Urteil A-1878/2018 vom 27. Mai 2020).

Zugang nur zu anonymisierten, rechtskräftigen Entscheiden

Weil das Steuergeheimnis aber einen hohen Stellenwert hat, bejaht das Gericht einen Anspruch auf Zugang nur zu anonymisierten Strafbefehlen der ESTV. Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der Betroffenen sollen im Gegenzug nicht immer geschwärzt werden (Erw. 4.9). Nicht-anonymisierte Entscheide sind aber nur dann einsehbar, wenn das öffentliche Interesse an Transparenz den Schutz der finanziellen Privatsphäre überwiegt.

Damit ist der Zugang anders geregelt als bei Strafbefehlen der Staatsanwaltschaften oder von anderen Verwaltungsbehörden: Da besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Einsicht in nicht-anonymisierte Entscheide (vgl. Leitentscheid 124 IV 234).

Ab November 2020 vor Ort bei der ESTV einsehbar

Bereits im Laufe des Verfahrens hat die ESTV angekündigt, dass sie in Zukunft laufend ihre Entscheide anonymisiert während 30 Tagen ab Rechtskraft zur Einsicht auflegen wird, ohne dafür Kosten in Rechnung zu stellen. Gemäss Mediensprecher Joel Weibel soll dies ab November 2020 der Fall sein: An einem der Standorte der ESTV können alle Interessierten auf Voranmeldung die anonymisierten, rechtskräftigen Entscheide an einem PC kostenlos durchscrollen. Auf Verlangen werden auch kostenlose Kopien abgegeben.

Ob allenfalls auch ein Newsletter abonniert werden kann, der periodisch eine Übersicht über die neuesten Entscheide aufführt (analog zur Lösung von Swissmedic), ist gemäss Mediensprecher Weibel noch nicht entschieden.

 

Mustergesuch zur Einsicht in Einstellungsverfügungen

Immer wieder erhalte ich Anfragen, wie man Einstellungsverfügungen herausverlangen kann. Zur Vereinfachung habe ich dafür zwei Mustergesuche samt Anleitung formuliert (einen für Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB bei Wiedergutmachung und einen für Einstellungsverfügungen allgemein).

Viel Erfolg damit. Und: Haltet mich auf dem Laufenden über allfällige Erfolge oder Misserfolge von Einsichtsgesuchen mit Mail an dominique.strebel(at)gmx.ch.

Hier das Mustergesuch für Einstellungsverfügungen allgemein

20_04_29_Musterbrief_Einsicht_Einstellungsverfügungen_allgemein

Und hier das Mustergesuch für Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung)

18_03_13_Musterbrief_Einsicht_Einstellungsverfügungen_Art53

Verfassungswidrige Praxis von Staatsanwälten

Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen Kopien von anonymisierten Urteilen und Strafbefehlen erlauben, wenn jemand sie vor Ort einsieht. Dabei können Kosten für Anonymisierungen nur auferlegt werden, wenn es eine klare gesetzliche Grundlage dafür gibt. Die Bestimmungen für Kanzleigebühren genügen nicht, so das Bundesgericht in einem neuen Urteil (BGer 1C_497/2018 vom 22. Januar 2020). 

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wollte einem Gesuchsteller für die Anonymisierung von 16 Urteilen eine «Kanzleigebühr» von 2000 Franken auferlegen. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage, meint nun das Bundesgericht und heisst die Beschwerde des Einsichtswilligen gut. Die Kanzleigebühr sei nur für kleine Beträge vorgesehen, das Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip greife bei Gerichtsgebühren nicht, da diese nie kostendeckend sein können und eine lang andaudernde Übung könne das Gericht nicht geltend machen.

Zur Frage, ob so hohe Gebühren nicht das Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) aushebeln, äusserte sich das Bundesgericht nicht, da die Beschwerde bereits deshalb gutgeheissen wurde, weil die gesetzliche Grundlage fehlte. Immerhin auferlegt das Bundesgericht den Gesuchstellern eine Kostenminderungspflicht. In einem Nebensatz erwähnt es, dass der Einsichtswillige es unterlassen habe, vor Ort Einsicht zu nehmen und die Zahl der zu anonymisierenden Entscheide so einzuschränken.

Anspruch auf eine Kopie

Erneut und als bereits lange geltende Gerichtspraxis erwähnt das Bundesgericht, dass das Recht, eine anonymisierte Kopie zu erhalten, zum verfassungsmässigen Grundsatz der Justizöffentlichkeit gehört. «Dem Grundsatz der Justizöffentlichkeit ist durch die Auflage auf der Gerichtskanzlei und die Möglichkeit, eine anonymisierte Kopie zu erhalten, Genüge getan.» Richtig, denn bereits in einem Urteil vom 1. September 2006 (Erw. 2.2.2) hat dies das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten und wiederholt es seitdem in konstanter Praxis (statt vieler BGer Urteil 1C_394/2018 vom 7. Juni 2019).

Verfassungswidrige Praxis von Staatsanwaltschaften

Somit verhalten sich einige Staatsanwaltschaften der Schweiz verfassungswidrig. In den Kantonen Luzern, Aargau und Zürich erhält man zum Beispiel keine Kopien anonymisierter Strafbefehle.

P.S. In einer ersten Version dieses Textes wurde auch die Praxis der Bundesanwaltschaft als verfassungswidrig bezeichnet. Die Bundesanwaltschaft stellt aber heute Strafbefehle in anonymisierter Version auf Anfrage im Nachgang zu einer Einsicht vor Ort zu.