Zürcher Strafverfolger verletzen die Bundesverfassung

Strafbefehle müssen öffentlich einsehbar sein, damit es keine Geheimjustiz gibt. Im Kanton Zürich erhält man erst nach einem monatelangen Hürdenlauf Zugang. Der zweite Teil der dreiteiligen Serie zur Praxis der Einsicht in Strafbefehle.Ort: Zürich

Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr.: STAZL B-6 STR 2017 10034343, 10036353 und 10040203
Thema: Strafbefehle

Der Fall von Erwin Küng* ist ein Rätsel. Und er muss es vorerst bleiben.

Innert zweier Monate hat die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat Erwin Küng dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Der 70-jährige Schweizer wird also durchschnittlich alle zwei bis drei Wochen verurteilt, stets wegen des gleichen Delikts. Warum? Das kann die Öffentlichkeit nur nach einem Hürdenlauf erfahren. Denn trotz vieler Telefonate und zweier Besuche bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ist es monatelang nicht möglich, die Strafurteile in seinem Fall einzusehen. Damit verletzen die Zürcher Strafverfolger die Bundesverfassung, Art. 30 Abs. 3: Urteile und Strafbefehle müssen öffentlich zugänglich sein. Doch die Verfassung wird nicht nur im Fall von Erwin Küng verletzt, das Zürcher System ist grundsätzlich verfassungswidrig. Es grenzt an Schikane.

Das zeigt das Protokoll eines Hürdenlaufs in fünf Etappen: mit drei Anläufen, einer Aufwärm- und einer Dehnphase. Und einem Prolog.

Prolog

Mehr als 98 Prozent der Strafurteile fällen in der Schweiz nicht Richter, sondern Staatsanwälte. Die Strafverfolger dürfen Freiheitsstrafen bis sechs Monate und Geldstrafen bis 180 Tagessätze aussprechen, ohne dass ein Richter sich deren annehmen müsste. Einsam in ihrem Büro vor dem Computer. Ihre Urteile heissen Strafbefehle. So haben im Jahr 2016 die Staatsanwaltschaften Zürich-Sihl und Zürich-Limmat 463 Anklagen vor Gericht erhoben, im gleichen Zeitraum aber 6059 Strafbefehle gefällt und 6412 Strafverfahren eingestellt oder sistiert.

Immerhin: Diese Strafbefehle müssen wie Urteile öffentlich verkündigt werden, damit keine Geheimjustiz entsteht. Bürgerinnen und Bürger sollen kontrollieren können, ob alles mit rechten Dingen zugeht, wenn der Staat jemandem eine Strafe aufbrummt. Das wollen Bundesverfassung, Strafprozessordnung und Bundesgericht so. Doch wer den Staatsanwälten im Kanton Zürich auf die Finger schauen will, muss viele Hürden überwinden.

Aufwärmen: Dezember 2017 und Januar 2018

Leicht gekürzter Mailwechsel mit Corinne Bouvard, Mediensprecherin der Oberstaatsanwaltschaft Zürich:

Justizblog: Ich möchte im Januar 2018 die Strafbefehle des Kantons Zürich anschauen. Wie gehe ich genau vor?
Bouvard: Die Strafbefehle liegen jeweils bei den Amtsstellen auf, Sie müssten sich telefonisch kurz anmelden, und dann können Sie Einsicht in die entsprechenden Listen nehmen.
Justizblog: Wo genau findet ein Bürger im Internet diese Informationen?
Bouvard: Fragen – welcher Natur auch immer – können an jede Amtsstelle, welche über ein entsprechendes Kontaktmail verfügt (ersichtlich auf der Homepage), gerichtet werden. Ansonsten sind auch die Wosta aufgeschaltet, welche für vieles Antworten liefern.

Wer die «Wosta» sucht, findet sie schliesslich. Es sind die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren – ausgebreitet auf 279 Seiten. Bürgernähe sieht anders aus.

Erster Anlauf: 1. Februar 2018

Der Sitz der Staatsanwaltschaften Zürich-Limmat und Zürich-Sihl an der Stauffacherstrasse ragt mächtig auf. Alter Sandstein aussen, hohe Gänge und Stuckatur innen. Man schreitet durch Türstürze aus schwarzem Marmor, rosarot ummalt. Hier wird über die Straftaten in Zürich gerichtet.

Der Gerichtssaal? Ein Amtsschalter in Zimmer 72, Parterre, mit Schild «Archiv». Und die öffentliche Verkündigung hat das Gesicht eines Archivars. Er schiebt zehn eng bedruckte Seiten unter dem Schalterfenster durch: die Liste der 724 Strafbefehle, die in der Stadt Zürich zwischen dem 15. Dezember 2017 und dem 31. Januar 2018 rechtskräftig wurden. Der hilfreiche Archivar verabschiedet sich: «Ich mues jetzt go vernichte. Schöne Tag no.» Er meint damit die Akten, die älter als fünfzehn Jahre sind und die er im Keller schreddert, um Platz für neue zu schaffen.

Eingeklemmt zwischen Eingangstür und Schalter, auf einem Ablagebrett von einem Quadratmeter, darf die Öffentlichkeit die Liste der Strafbefehle studieren. Aufgeführt sind Strafbefehlsnummer, Name des Verurteilten, Geburtsdatum und Bezeichnung des Delikts. Aber kein Wort, was sich da dereinst zugetragen hat und wie der Staatsanwalt sein Urteil begründet. Kontrolle der Justiz? Nur schwerlich möglich.

Lässt sich vielleicht wenigstens auswerten, welche Delikte in der Stadt Zürich die häufigsten sind?

«Wir können die Computerliste nicht nach Tatbeständen durchsuchen», sagt ein zweiter Archivar hinter dem Schalter, während der erste im Keller Akten schreddert. Der zweite – grauer Wollpullover über kariertem Hemd – hat es beim Chef (Leiter Abteilung Geschäftskontrolle) extra abgeklärt und zuckt mitfühlend die Schultern. So zählt denn die Öffentlichkeit von Hand die einzelnen Verurteilungen – auf dem Holzbrett im engen Raum zwischen Schalterfenster und Tür.

Die zwei Stunden dauernde Auswertung ergibt für die Stadt Zürich ein völlig anderes Bild der Alltagskriminalität als zum Beispiel für das ländliche Sursee. Die meisten Namen auf der Zürcher Liste sind ausländisch (in Sursee waren kaum welche dabei). Kein Wunder: Ein Drittel aller Verurteilungen betrifft Ausländer, die sich illegal in der Schweiz aufhalten und am Hauptbahnhof Zürich gestrandet sind (243 von 724 Strafbefehlen). Es folgen Delikte wie Diebstahl (113), grobe Verletzung der Verkehrsregeln (42) und Fahren in fahrunfähigem Zustand (33). Wegen Pornografie (6) und Exhibitionismus (4) wurden nur Leute mit Schweizer Namen verurteilt.

Und eben auffällig: Ein Erwin Küng, geb. 19.11.1947, wird innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Was hat dieser Mann für ein Problem?

Die Öffentlichkeit kann einzelne Strafbefehle im Wortlaut bestellen, indem sie diese auf der Liste der 724 ankreuzt. Der Archivar holt das Dokument aber nicht sofort, er schickt es mitsamt allen Akten zuerst an den leitenden Staatsanwalt. Der prüft, ob die Öffentlichkeit den Strafbefehl einsehen darf. Nach knapp einer Woche folgt ein Anruf des Archivars, muss ein zweiter Termin vereinbart werden, reist man erneut an, um die Strafbefehle einzusehen.

Zweiter Anlauf: 8. Februar 2018

Wieder Zimmer 72, Parterre, im mächtigen Bau mit schwarz-rosaroten Türstürzen. Wieder der Archivar im grauen Wollpullover. Man kennt sich mittlerweile am Schalter. Er schiebt 13 der 18 bestellten Strafbefehle durchs Fenster. «5 kann ich Ihnen noch nicht geben, weil die Akten samt Strafbefehl von einer Amtsstelle zurzeit benötigt werden.» Das sei etwa der Fall, wenn eine Geld- in eine Freiheitsstrafe umgewandelt oder jemand erneut straffällig geworden sei. Ist es denn nicht möglich, Kopien der rechtskräftigen Strafbefehle einzusehen? «Nein», sagt der Archivar. Warum, weiss er nicht. Er lächelt entschuldigend.

Unter den 5 unter Verschluss gehaltenen Strafbefehlen sind die 3 des Erwin Küng, 19.11.1947, der innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs verurteilt wurde. Es wird also ein dritter Termin nötig, um diese Strafbefehle einzusehen. Und wer weiss, wenn der 70-jährige Erwin Küng weiterhin ohne Einwilligung in fremde Wohnungen, durch umzäunte Gärten oder Gebäude schreitet, sind die Strafbefehle möglicherweise nie einsehbar, weil sie dauernd für ein Nachverfahren benötigt werden.

Dritter Anlauf: 22. Februar 2018

Ein Telefonat mit dem Archivar ergibt: Die Strafbefehle des Erwin Küng sind noch immer nicht im Archiv eingetroffen. Der Archivar verspricht zurückzurufen, sobald sie da sind. Was bis zum Redaktionsschluss am 28. März nicht geschehen ist.

Dehnen: 22. Februar bis 28. März 2018

Im Kanton Zürich braucht es mehrere Telefonate, sicher zwei, mitunter sogar drei Besuche vor Ort und mehr als zwei Monate, um Strafbefehle einzusehen. Kaum jemand nimmt das auf sich. In den letzten eineinhalb Jahren – seit der einzige freischaffende Zürcher Gerichtsreporter gestorben ist – hat niemand im Archiv Einsicht genommen. Das hürdenreiche Prozedere verletzt das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit, weil es den Zugang zu Strafbefehlen faktisch aushebelt.

Im Kanton St. Gallen können Journalistinnen Strafbefehle zu Hause am Computer einsehen. Sie erhalten zuerst per Mail die Liste der rechtskräftigen Entscheide, wählen die Strafbefehle aus, die sie interessieren, und erhalten die Dokumente als PDF innert Stunden zugeschickt. Wieso ist das in Zürich so kompliziert?

Für die Mediensprecherin der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ist es «nachvollziehbar, dass Journalisten, die am Recherchieren sind, möglichst zeitnah Einsicht nehmen wollen». Darum bemühe sich die Staatsanwaltschaft Zürich, diesem Anliegen «im Rahmen des Möglichen» Rechnung zu tragen. Aber mailen wie in St. Gallen könne man Listen und Strafbefehle nicht, weil es sich um «besonders schützenswerte Personendaten» handle. Man halte sich an die Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, «welche festhalten, dass die Einsichtnahme auf der Amtsstelle erfolgt». Dabei irrt die Mediensprecherin. Die Empfehlungen sehen nicht vor, dass die Einsicht vor Ort geschehen muss, sie legen nur fest, dass es «unter der Aufsicht der Kanzleien der Staatsanwaltschaften» geschehen soll. Wie auch immer: Solche Empfehlungen legitimieren eine Verfassungsverletzung aber nicht.

Und wann kann die Öffentlichkeit die 3 Strafbefehle gegen Erwin Küng, geb. 19.11.1947, endlich einsehen? Corinne Bouvard verweist an Daniel Kloiber, den leitenden Staatsanwalt Zürich-Sihl. Der ruft umgehend zurück, verspricht die 3 Strafbefehle – als PDF per Mail. Ausnahmsweise.

PS: Die 3 eingeforderten Strafbefehle trafen nach Redaktionsschluss ein. Sie werden Thema sein meiner nächsten Kolumne, die am 25. April 2018 in der http://www.republik.ch erscheinen wird.
PPS: Der Text wurde in der http://www.republik.ch vom 4. April 2018 erstmals publiziert.

* Name geändert

Verfassungswidrige Praxis der Strafbehörden

Einstellungsverfügungen von Strafbehörden müssen wie Urteile verkündet werden – sicher dann, wenn sie aufgrund einer Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) ergangen sind. Das hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid festgehalten, den der Beobachter publik gemacht hat (1B_70/2012, Erw.3.4).

Die Praxis sämtlicher Kantone,  solche Einstellungsverfügungen nicht öffentlich aufzulegen, widerspricht somit dem verfassungsmässigen Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

Die Kantone Sankt Gallen, Zürich und Bern, die über den Zugang der Medien zu Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB gar erst nach einem langwierigen Stellungnahmeverfahren bei den Betroffenen entscheiden, verhalten sich gar doppelt verfassungswidrig.

Offenbar macht dieser verfassungswidrige Zustand den Strafbehörden nichts aus. Sie empfehlen Journalisten, halt einen Pilotprozess zu führen. Doch: Was soll ein Pilotprozess, wenn das Bundesgericht die Rechtsfrage bereits entschieden hat?

Genau gleich verhalten sich die Strafbehörden der meisten Kantone (Ausnahme Sankt Gallen) bei der Frage, ob Journalisten von Einstellungsverfügungen oder Strafbefehlen eine Kopie anfertigen dürfen. Die Strafbehörden verbieten das den Medien entgegen einem klaren Präjudiz des Bundesgerichts (Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006).

So teilte der Zürcher Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser Justizblog lapidar mit: „Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.“

Nachtrag August 2012: Auf Druck des Recherchenetzwerks investigativ.ch haben einige Strafverfolgungsbehörden ihre Praxis zur Auflage von Einstellungsverfügungen und zur Abgabe einer Kopie geändert.

Zürcher Staatsanwaltschaft: Blamage wird noch grösser

Das Zürcher Obergericht hat heute einen weiteren Jugendlichen freigesprochen, den die Zürcher Polizei im September 2011 verhaftetete und die Staatsanwaltschaft nach langer U-Haft wegen Landfriedensbruch mit hohen Strafen verurteilen wollte.

Das Zürcher Obergericht hat einen (reduzierten) Schuldspruch des Bezirksgerichts in einen Freispruch umgewandelt. Wer bei einem Krawall bloss zusieht, begeht keinen Landfriedensbruch, urteilen nun auch die Oberrichter. Die Betroffenen erhalten Genugtuungen von mehreren tausend Franken wegen ungerechtfertigter Haft.

Damit zeichnet sich eine totale Blamage von Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft ab: Die Rechtsauffassung von Polizei und Staatsanwaltschaft, wonach auch blosse Zuschauer Landfriedensbruch begehen, erweist sich als völlig unhaltbar. Bereits das Bezirksgericht hatte vier Jugendliche freigesprochen, wovon einer vom Obergericht ebenfalls heute bestätigt wurde. Damit wurden fünf von sechs Jugendlichen freigesprochen, die Polizei und Staatsanwaltschaft mit hohen Strafen verurteilt sehen wollten.

Damit rüffeln die Gerichte die Strafverfolger durchs Band und vehement. Die Aktion vom letzten September, bei der 33 Jugendliche mit teilweise hohen Strafen belegt wurden, war völlig unverhältnismässig. Bloss 7 haben die Strafbefehle angefochten, 6 davon sind bereits freigesprochen.

Bei der Berichterstattung im unmittelbaren Nachgang fiel der Tages-Anzeiger durch eine undifferenzierte Berichterstattung und naive Kommentierung auf, welche die Argumentation von Polizei  und Staatsanwaltschaft unkritisch übernahm und ausdrücklich verteidigte.

Statt die Aktion von Polizei und Staatsanwaltschaft nun endlich kritisch zu würdigen, weil sie Straftatbestände überdehnte und unverhältnismässig war, stellt das Tages-Anzeiger online Portal die Jugendlichen auch jetzt noch tendenziell als Täter dar. So schreibt die Zeitung im Lead zum jüngsten Freispruch: „Die Geständnisse der Männer reichten aber nicht aus, um sie zu verurteilen.“

Gestanden haben die jungen Männer nur, um aus der U-Haft freizukommen. Das nennt man eigentlich Beugehaft.

Blamage für Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft

Die Schlappe von Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft wird immer grösser: Das Bezirksgericht Zürich hat schon den vierten Jugendlichen freigesprochen, den die Strafverfolger wegen Landfriedensbruchs mit hohen Strafen bestraft sehen wollten, obwohl die Beschuldigten nur aus der Ferne einem Krawall zusahen.

Der Krawall am Central von letztem Herbst wird zur Blamage der Zürcher Strafverfolger. Am 14. Juni wurde auch Thomas Haupt (Name geändert) vom Bezirksgericht Zürich freigesprochen.

Haupt war am Samstag 17. September 2011 um Mitternacht  am Central auf rund 1000 Partybesucher und 50 Polizisten getroffen. In Einsatzwagen warteten weitere Gesetzeshüter. Was als Party angekündigt war, sollte sich zur Strassenschlacht entwickeln. Einzelne Krawallanten warfen Bierflaschen gegen Polizisten, die Beamten antworteten mit Wasserwerfern und Gummischrot. Die Auseinandersetzungen dauerten fast zwei Stunden.

Thomas Haupt wich in Nebengassen aus, blieb aber in der Nähe, weil er «das Terrain nicht der Willkür der Polizei überlassen» wollte. Gegen halb zwei Uhr nachts wurde er wegen Landfriedensbruchs verhaftet und danach 14 Tage lang wegen Verdunkelungsgefahr in U-Haft behalten, obwohl er nur aus Distanz den Polizeieinsatz beobachtet hatte..

Haft und Strafe wurden zu Unrecht verhängt, befand das Bezirksgericht Zürich . Das Gericht sprach Thomas Haupt vollumfänglich frei. Blosses Gaffen sei nicht Landfriedensbruch, argumentierten die Richter wie in den drei  Freisprüchen vom Frühling, und gewährten Haupt eine erhöhte Genugtuung von 4000 Franken wegen der unrechtmässiger Haft.

Die Bilanz sieht für Polizei und Staatsanwaltschaft katastrophal aus: In vier der sechs vom Bezirksgericht beurteilten Fälle haben die Richter die Beschuldigten vollumfänglich freigesprochen. In einem Fall reduzierte ein Bezirksrichter das Strafmass von 160 auf 90 Tagessätze erheblich. Nur einmal wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Strafe bestätigt (90 Tagessätze).

Zwei der vier Freisprüche wurden von der Staatsanwaltschaft angefochten. Einer erwuchs in Rechtskraft, im Fall von Thomas Haupt ist noch offen, ob die Staatsanwaltschaft auch ans Obergericht gelangt.

Fall Nef wird zu Fall Vogel

Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat das Strafgesetzbuch strapaziert und damit Roland Nef den Amtsantritt als Armeechef ermöglicht.

Der Fall Nef wird definitiv zum Fall Vogel: Die Zürcher Staatsanwältin Judith Vogel hat das Strafverfahren gegen Armeechef Roland Nef wegen Nötigung, Pornographie und anderer Delikte kurz nach seiner Wahl zum Armeechef eingestellt, weil die Öffentlichkeit kein Interesse an der Strafverfolgung habe. Das geht aus der Einstellungsverfügung hervor, aus der dem Beobachter eine kurze Passage vorliegt.

Zur Erinnerung: Roland Nef soll seine ehemalige Lebenspartnerin über 18 Monate hinweg massiv belästigt und in ihrem Namen gar Sexinserate geschaltet haben. Deshalb musste er im Sommer 2008 zurücktreten. Die in den Medien erhobenen Vorwürfe wurden in der Strafuntersuchung zumindest teilweise erhärtet: Staatsanwältin Vogel schreibt in der Einstellungsverfügung von «strafbaren Handlungen». Trotz den massiven Vorwürfen sieht sie aber kein Interesse der Öffentlichkeit an einer Strafverfolgung. Sie begründet das mit einem einzigen Satz: «Die strafbaren Handlungen richteten sich nicht gegen eine Vielzahl von Menschen, sondern gegen eine bestimmte Person, und diese hat eine ausdrückliche Desinteresseerklärung abgegeben.»

Diese dürftige Begründung provoziert Fragen: Richten sich nicht die meisten Straftaten nur gegen einen Einzelnen? Haben sich die schweren Vorwürfe erhärtet? Wenn ja: Liegt nicht ein schwerer Fall von «Stalking» und Nötigung vor, den der Staat von Amtes wegen aufklären muss – Desinteresse der Geschädigten hin oder her?

Falls es sich wirklich nur um einen leichten Fall handelt, stellt sich die Frage, wieso Judith Vogel nicht das dafür vorgesehene Verfahren eingehalten hat. Auf Antrag des Opfers kann das Strafverfahren zwar eingestellt werden, aber nur provisorisch. Der Täter muss sich sechs Monate bewähren. Erst dann wird definitiv eingestellt (Art. 55a StGB). Vogel hat Nef jedoch keine Bewährungsfrist verpasst. Damit hat sie es ihm überhaupt ermöglicht, sein Amt als Armeechef anzutreten, denn gewählt wurde er unter der Bedingung, dass das Strafverfahren bis zu seinem Amtsantritt eingestellt sein müsse. Hat sie Nef also protegiert?

Volle Einsicht nötiger denn je

Auf all diese Fragen möchte der Beobachter Antworten und deshalb die ganze Einstellungsverfügung, die der «NZZ am Sonntag» bereits zugespielt wurde. Ein entsprechendes Gesuch hat die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft abgelehnt.

Eine Beschwerde von Beobachter und «Weltwoche» gegen diesen Entscheid ist noch immer vor dem Zürcher Verwaltungsgericht hängig, weil es sich zuerst für unzuständig erklärt hatte. Das Bundesgericht hat das Verwaltungsgericht nun aber angewiesen, über die Beschwerde zu entscheiden, und zwar «beförderlich».