Grundeigentum als Risiko für Journalist:innen

Das Bundesgericht hat das Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs gegen eine Journalistin eingestellt, die auf ein besetztes Grundstück ging, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Das ist erfreulich. Aber damit ist für den journalistischen Alltag und die Medienfreiheit leider kaum etwas gewonnen.

Vor fünf Jahren, am 20. April 2016, betrat die Journalistin Jana Avanzini in Luzern gegen Abend ein Grundstück des Unternehmers Jørgen Bodum, das von der Gruppe Gundula besetzt worden war. Über ihren Besuch schrieb sie eine Reportage für das Onlinemagazin Zentralplus.

Die Bodum AG hatte am Vormittag des 20. April 2016 einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gegen unbekannte Täterschaft eingereicht. Gestützt darauf eröffnete die Luzerner Staatsanwaltschaft auch ein Strafverfahren gegen Avanzini. Das anschliessende Verfahren ist ein wunderbarer Stoff für eine juristische Masterarbeit. Mindestens.

Dem Strafverfahren nach fünf Jahren den Boden entzogen

Die Strafbehörden zogen alle Register des Strafrechts – von fehlendem Vorsatz über den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen bis hin zum (vermeidbaren) Verbotsirrtum. Alle prüften und argumentierten. Und allen war irgendwie unwohl, eine recherchierende Journalistin zu verurteilen. Fast alle verurteilten doch (vgl. unten). Und am Schluss kommt nun das Bundesgericht und entzieht dem ganzen Strafverfahren den Boden: Es gab gar keinen gültigen Strafantrag (Urteil 6B_1214/2020 vom 25. März 2021).

Ein Strafantrag kann sich gemäss Bundesgericht in der Regel nur auf begangene Delikte beziehen, also auf einen Sachverhalt, der sich bereits ereignet hat. Nur bei einem Dauerdelikt wie Hausbesetzung könne man den Strafantrag auch auf Sachverhalte ausdehnen, die sich später abgespielt haben. Das sei aber beschränkt auf Mittäter oder Gehilfen, die den gleichen Vorsatz wie die Haupttäter haben, meint nun das Bundesgericht.

Im konkreten Fall habe die Journalistin erst nach Einreichen des Strafantrags (Vormittag) das Grundstück betreten (Abend). Von diesem Strafantrag ist sie gemäss Bundesgericht nur miterfasst, wenn sie den gleichen Vorsatz hatte, wie die Täter. Der Strafantrag habe sich zwar gegen unbekannte Täterschaft gerichtet, aber mit ihm wurde gemäss Bundesgericht die durch die Gruppe Gundula „initierte und organisierte Hausbesetzung als Lebenssachverhalt zur Anzeige gebracht“. Das heisst: Der Strafantrag hätte die Journalistin nur miterfasst, wenn sie den Vorsatz gehabt hätte, Mittäterin oder Gehilfin der Hausbesetzer:innen zu sein. Das hatte sie aber gemäss Bundesgericht nicht. Sie habe eine Reportage schreiben wollen und nicht das Haus besetzen. Deshalb fehlt es gemäss Bundesgericht an einem gültigen Strafantrag. Und deshalb stellt es das Strafverfahren ein.

Schlecht für die Medien

Gut für Jana Avanzini. Gut für das Strafprozessrecht, das einen Leading Case mehr hat. Schlecht für die Medien. Denn ein (allenfalls zusätzlicher) gültiger Strafantrag auch gegen missliebig recherchierende Journalist:innen ist in Zukunft schnell gestellt.

Und dann stellen sich wieder all die ungeklärten Grundsatzfragen: Hat ein Journalist, der auf einem besetzten Grundstück recherchiert, den Vorsatz Hausfriedensbruch zu begehen? Muss sich eine Journalistin zuerst bei (Straf-)Behörden über die Rechtslage erkundigen, bevor sie sich auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen kann? Und: Welche Auskunft geben diese Behörden? Denn die Rechtslage ist heute so unklar wie zuvor. Können sich Journalistinnen auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen? Und unter welchen Voraussetzungen? Nur, wenn sie auf dem Grundstück Missstände von öffentlichem Interesse festgestellt haben? Und wie weiss man das als Journalist, wenn man eigentlich gar nicht aufs Grundstück dürfte?

Allen war irgendwie unwohl

Schaut man auf die Prozessgeschichte war allen beteiligten Strafbehörden irgendwie unwohl. Alle suchten sie unterschiedliche Argumentationen, um das Dilemma des Zusammenstosses von Medienfreiheit und Eigentumsgarantie abzumildern.

Die Staatsanwaltschaft Luzern stellte das Verfahren am 18. Juni 2018 auf Einsprache hin ein. Die Journalistin habe keinen Vorsatz für Hausfriedensbruch gehabt; zudem habe sie mit ihrer Recherche vor Ort Informationsinteressen verfolgt und könne sich auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen.

Nachdem das Kantonsgericht Luzern die Staatsanwaltschaft zurückgepfiffen hatte (So grundsätzliche Fragen dürfe nicht ein Staatsanwalt, sondern müsse ein Richter entscheiden), verurteilte das Bezirksgericht Luzern die Journalistin wegen Hausfriedensbruchs am 26. Juni 2019 zu einer Busse von 500 Franken. Das Strafmass fiel sehr tief aus, weil die Richter:innen der Journalistin einen Verbotsirrtum zubilligten, der aber vermeidbar gewesen wäre. Die Journalistin hätte sich vorgängig bei der Staatsanwaltschaft oder einer anderen Behörde über die Rechtslage informieren müssen. Das Kantonsgericht Luzern bestätigte das Urteil.

Alle diese Entscheide der Vorinstanzen sind mit dem Urteil des Bundesgerichts Makulatur. Und Journalist:innen müssen weiterhin mit grosser Rechtsunsicherheit leben, wenn sie auf einem besetzten Grundstück recherchieren.

Etwas höhere Hürde durch ausdrücklichen Strafantrag gegen Medien

Immerhin muss ein Grundeigentümer in Zukunft wohl einen separaten Strafantrag spezifisch gegen die Journalistin, den Journalisten stellen, der auf dem besetzten Gelände recherchierte. Und das tut er vielleicht – im Unterschied zu einem Strafantrag gegen die Hausbesetzer:innen selbst – möglicherweise nicht.

Bodum hätte es wohl getan. Das zeigt die Hartnäckigkeit, mit der er Jana Avanzini ins Recht zu fassen versuchte. Selbst auf das Risiko hin, dafür einen (tiefen) fünfstelligen Betrag für Gerichts- und Anwaltskosten hinblättern zu müssen.

Hohe Hürden für Recherchen auf besetzten Grundstücken

In zweiter Instanz verurteilt das Kantonsgericht Luzern eine Journalistin wegen Hausfriedens­bruchs. Der Entscheid hat weitreichende Folgen für den Journalismus.

Am 20. April 2016 betrat die Journalistin Jana Avanzini das besetzte Grund­stück einer Villa in Luzern, das dem Industriellen Jørgen Bodum gehört. Die Journalistin wollte sich vor Ort ein Bild über die Besetzung und den Zustand des Gebäudes machen. Dieser Zustand war entscheidend für die Frage, ob das Haus, das unter Ortsbild­schutz steht, abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden darf, wie Bodum es plante. Das Online­magazin «Zentral­plus» schickte Avanzini deshalb zum Augen­schein und publizierte am nächsten Tag einen Artikel.

Für diese Recherche vor Ort wird Avanzini vom Kantons­gericht Luzern in zweiter Instanz wegen Haus­friedens­bruchs zu 500 Franken Busse verurteilt. Nun liegt die schriftliche Begründung vor: Die Journalistin kann sich gemäss den drei Luzerner Richtern nicht damit rechtfertigen, dass sie die berechtigten Interessen der Öffentlichkeit an Information wahrgenommen habe. Dieser ausser­gesetzliche Rechtfertigungs­grund sei gemäss Bundes­gericht und Europäischem Gerichts­hof für Menschen­rechte nur zu berücksichtigen, wenn die Straftat das einzige Mittel ist, um Informationen «von wirklich erst­rangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit zu erlangen. Und solche Informationen habe Avanzini weder publiziert noch mit ihrer Recherche zu beschaffen beabsichtigt. Ihr Artikel ist in den Augen der Kantons­richter ein reiner Erlebnis­bericht. Die Journalistin habe bei ihrer Recherche vor Ort auch nicht erwarten können, wesentliche Neuigkeiten oder Missstände von erstrangiger Bedeutung festzustellen – etwa Giftstoffe wie Asbest oder Mängel in der Statik –, weil ihr dafür die nötige Fach­kenntnis gefehlt habe.

Verbotsirrtum der Journalistin

Trotzdem hat das Gericht Verständnis für die Journalistin. Es setzt das Straf­mass sehr tief an, weil es ihr einen Verbots­irrtum zubilligt. Die Luzerner Richter nehmen Avanzini ab, dass sie glaubte, als Journalistin das Grund­stück betreten zu dürfen. Aber Avanzini hätte sich laut Kantons­gericht bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft über die Rechts­lage erkundigen müssen. Darum sei der Irrtum vermeidbar gewesen. Und deshalb sieht das Gericht nicht von einer Strafe ab, sondern reduziert sie bloss. Jana Avanzini lässt noch offen, ob sie das Urteil ans Bundes­gericht weiter­ziehen wird. Dafür hat sie 30 Tage Zeit.

Hohe Hürde für Recherchen auf besetzten Grundstücken

Das Urteil des Luzerner Kantons­gerichts ist sorgfältig begründet und setzt sich – im Unterschied zum Urteil der ersten Instanz – auch mit einem wichtigen einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichts­hofs für Menschen­rechte auseinander. Die Luzerner Richter erkennen teilweise auch, dass es nicht darum geht, publizierte journalistische Berichte zu beurteilen, sondern die Ziele einer Recherche. Denn gute Journalistinnen recherchieren ergebnis­offen. Sie wissen nicht im Vornherein, was sie bei einer Recherche, etwa bei einem Augen­schein, heraus­finden werden. Deshalb müssen sie unter Umständen Delikte begehen, bevor sie wissen, dass sie Missstände aufdecken und somit gerechtfertigt handeln. Und da stellt das Luzerner Kantons­gericht in seinem Urteil hohe Anforderungen. Recherchen auch auf einem Grund­stück werden in Zukunft wohl möglich bleiben, falls die Umstände zumindest erahnen lassen, dass man vor Ort Missstände antreffen wird und der Journalist diese auch erkennen kann.

Was soll man Journalistinnen in Zukunft raten?

Sie müssen bei einer Recherche, die eine Straftat in Kauf nimmt, noch sorgfältiger abwägen, ob sie mit einer allfälligen Straftat Informationen «von wirklich erstrangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit erlangen können. Zudem sollten Journalisten vor Ort Beweise sichern – in Form von Fotos oder Boden­proben beispiels­weise –, die es nötigenfalls später Fach­leuten erlauben, allfällige Missstände zu erkennen. Falls sie unter Einsatz strafbarer Handlungen keine Missstände von hohem öffentlichem Interesse finden, sollten Journalistinnen nichts publizieren. Denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Untauglich ist die Forderung der Luzerner Richter, dass ein Journalist bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft nachfragt, ob ein Augen­schein auf einem Grundstück legal ist. Die staatlichen Behörden werden immer abraten. Zudem gibt es in dieser Frage grosse Ermessens­spielräume, die nicht die Behörden, sondern die Redaktionen selbst – in Absprache mit einer Medien­anwältin – beurteilen sollten.

Was heisst das Urteil für die Gesellschaft?

In der öffentlichen Diskussion über besetzte Grund­stücke werden Informationen fehlen, die Journalisten aus unabhängiger Warte recherchiert haben. Die Öffentlichkeit wird nur noch die Behauptungen von Besetzerinnen, Grund­eigentümern und Behörden erfahren. Das Urteil hat nämlich einen chilling effect, der viele Journalistinnen davon abhalten wird, sich selbst vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Denn obwohl Jana Avanzini nur zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde, wird dies im Straf­register eingetragen – fatal für Bewerbungen und Wohnungs­suche in den nächsten siebeneinhalb Jahren. Erst dann wird die Strafe aus dem Privat­auszug gelöscht.

Urteil 4M 1987 des Kantons­gerichts Luzern vom 25. März 2020, nicht rechtskräftig.

(Dieser Text wurde am 29. September 2020 erstmals veröffentlicht auf http://www.republik.ch)

Verfassungswidrige Praxis von Staatsanwälten

Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen Kopien von anonymisierten Urteilen und Strafbefehlen erlauben, wenn jemand sie vor Ort einsieht. Dabei können Kosten für Anonymisierungen nur auferlegt werden, wenn es eine klare gesetzliche Grundlage dafür gibt. Die Bestimmungen für Kanzleigebühren genügen nicht, so das Bundesgericht in einem neuen Urteil (BGer 1C_497/2018 vom 22. Januar 2020). 

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wollte einem Gesuchsteller für die Anonymisierung von 16 Urteilen eine «Kanzleigebühr» von 2000 Franken auferlegen. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage, meint nun das Bundesgericht und heisst die Beschwerde des Einsichtswilligen gut. Die Kanzleigebühr sei nur für kleine Beträge vorgesehen, das Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip greife bei Gerichtsgebühren nicht, da diese nie kostendeckend sein können und eine lang andaudernde Übung könne das Gericht nicht geltend machen.

Zur Frage, ob so hohe Gebühren nicht das Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) aushebeln, äusserte sich das Bundesgericht nicht, da die Beschwerde bereits deshalb gutgeheissen wurde, weil die gesetzliche Grundlage fehlte. Immerhin auferlegt das Bundesgericht den Gesuchstellern eine Kostenminderungspflicht. In einem Nebensatz erwähnt es, dass der Einsichtswillige es unterlassen habe, vor Ort Einsicht zu nehmen und die Zahl der zu anonymisierenden Entscheide so einzuschränken.

Anspruch auf eine Kopie

Erneut und als bereits lange geltende Gerichtspraxis erwähnt das Bundesgericht, dass das Recht, eine anonymisierte Kopie zu erhalten, zum verfassungsmässigen Grundsatz der Justizöffentlichkeit gehört. «Dem Grundsatz der Justizöffentlichkeit ist durch die Auflage auf der Gerichtskanzlei und die Möglichkeit, eine anonymisierte Kopie zu erhalten, Genüge getan.» Richtig, denn bereits in einem Urteil vom 1. September 2006 (Erw. 2.2.2) hat dies das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten und wiederholt es seitdem in konstanter Praxis (statt vieler BGer Urteil 1C_394/2018 vom 7. Juni 2019).

Verfassungswidrige Praxis von Staatsanwaltschaften

Somit verhalten sich einige Staatsanwaltschaften der Schweiz verfassungswidrig. In den Kantonen Luzern, Aargau und Zürich erhält man zum Beispiel keine Kopien anonymisierter Strafbefehle.

P.S. In einer ersten Version dieses Textes wurde auch die Praxis der Bundesanwaltschaft als verfassungswidrig bezeichnet. Die Bundesanwaltschaft stellt aber heute Strafbefehle in anonymisierter Version auf Anfrage im Nachgang zu einer Einsicht vor Ort zu.

 

 

Die Medienfreiheit auf dem Prüfstand

Die  Journalistin Jana Avanzini wurde zuerst für kriminell erklärt, obwohl sie nur ihren Job machte. Dann brachte sie einen Staatsanwalt zum Nachdenken. Mit ungewissem Ausgang.

Darüber ist kein Gras gewachsen. Nein, es sind Dornen. Dichte Brombeertriebe breiten sich über die Wiese im parkartigen Garten hinter dem Metallzaun aus. «Vor drei Jahren hatte es hier noch keine einzige Brombeerstaude», sagt Jana Avanzini und schaut hinüber zur Villa des Industriellen Jørgen Bodum an der Obergrundstrasse 99 in Luzern. «Da waren Garten und Haus noch nicht verlottert». Heute flattern Plastikblachen auf dem Dach, blättert der Verputz von den Aussenmauern, und die Fenster des ehemals herrschaftlichen Hauses wurden mit Holzbrettern verbarrikadiert.

Vor dieser Villa begann vor rund drei Jahren, was die sorgsam gekleidete Frau mit Oberarmtatoo und silbrigem Septum bald vor ein Gericht bringen wird – zum ersten Mal in ihrem Leben. Polizei und Staatsanwälten ist sie bereits begegnet in den letzten Monaten. Und das hat Spuren hinterlassen. Die 31-jährige Kultur- und Gesellschaftsjournalistin kam ins Grübeln über Staat, Strafbefehle und die Rolle der Medien. Und über die erstaunliche Wirkung, die Mutterschaft in öden Einvernahmeräumen auslösen kann.

23. November 2015: Avanzini publiziert im Onlinemagazin Zentralplus einen Text über drei Villen an der Obergrundstrasse in Luzern. Sie fragt sich, weshalb die prächtigen alten Häuser leer stehen. „Lassen Sie esunsere Sache sein“, zitiert sie die Bodum Invest AG, die zwei der drei Häuser besitzt. Und die Stadtluzerner Baudirektorin erklärt: „Wir sind mit den Grundeigentümern im Gespräch.“ Die Villen unterstehen Auflagen des Ortsbildsschutzes. Ein Abbruch ist nur zulässig, „wenn eine Sanierung aus statischen Gründen nicht möglich oder aus wirtschaftlichen Gründen unverhältnismässig wäre.“ (Art. 17 Abs. 2 BZR). Avanzini schliesst ihren Text mit der Hoffnung, dass die Besitzer die Villen nicht absichtlich verlottern lassen, um später einen Abbruch aufgrund „unverhältnismässiger Sanierungen“ zu begründen.

9. April 2016: Die Gruppe „Gundula“ besetzt die Bodum-Villa an der Obergrundstrasse 99. Sie wolle „Freiräume ohne Konsumzwang“ schaffen, „die allen Menschen unabhängig von Geschlecht, Einkommen und Herkunft offenstehen“. Das Haus wird zum Politikum und zum Treffpunkt. Hunderte von Personen gehen ein und aus.

20. April 2016: Das besetzte Grundstück steht kurz vor der Räumung. Zentralplus schickt Avanzini vor Ort und publiziert die Reportage „Ein Besuch in der Besetzung ‚Gundula’ – Auf ein Bier mit Besetzern und Alt-68ern.“ Darin schildert die Journalistin das Leben im besetzten Haus, den baulichen Zustand und eine „Notfallsitzung“ vor der Räumung. Am selben Tag reicht Bodums Rechtsanwalt eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs gegen Unbekannt ein. Sie richtet sich gegen Alle, die seit dem 13. April 2016 die Villa und den Park betreten haben. Avanzinis Reportage belegt: Auch sie war auf dem Grundstück. Damit beginnt ein juristisches Seilziehen, das bis heute dauert – und weiter andauern wird.

16. August 2016: Einvernahme auf dem Polizeiposten am Hirschengraben in Luzern. Ein sehr zweckmässiger Raum: ein Tisch mit Computer, ein paar Stühle. Avanzini sitzt mit dem Rücken zum Fenster, hinter ihr ihre Anwältin und Bodums Anwalt, vor ihr der Polizist am Computer. Auf Anraten ihrer Anwältin verweigert sie die Aussage. „Ein komisches Gefühl, denn das Schweigen fühlt sich an, als wäre man schuldig.“ Sie findet das ganze Strafverfahren schräg, kann es nicht richtig ernstnehmen. Sie hat ja nur ihren Job gemacht, war als Journalistin vor Ort, um herauszufinden, was genau dort passiert und wie es um die Bausubstanz tatsächlich steht. Was der Hauptstreitpunkt ist: Baufällig heisst abbruchfähig, Ortsbildschutz hin oder her. Sie muss sich als Journalistin dazu eine eigene Meinung vor Ort bilden. Während der Einvernahme realisiert sie, dass sie jetzt „in dem Ding drin ist“.

Damals weiss Avanzini noch nicht, dass sich in ihrem Bauch gerade Zellen teilen, ein Neuralrohr entsteht, ein Mutterkuchen die Versorgung eines neuen Wesens übernimmt. Sie ist schwanger. Das bestimmt die nächsten Wochen und Monate. Mehr als das Geschehen im Verhörzimmer.

  1. April 2017: Ein Fax der Anwältin liegt auf ihrem Büropult.

„Strafbefehl.

Avanzini Jana, Ruth,

Sie haben sich schuldig gemacht des Hausfriedensbruchs. Dem von Ihnen verfassten und am 21. 04. 2016, 19.54, auf der Webseite von Zentralplus publizierten Bericht ist zu entnehmen, dass Sie sich im Zeitraum vom 20.4.2016 bis 21.04.2016, 19.54 Uhr, auf der Liegenschaft Obergrundstrasse 99 in Luzern aufgehalten haben, obschon Sie gewusst haben, dass diese Liegenschaft zum verfahrensgegenständlichen Zeitpunkt illegal besetzt und das Betreten der Liegenschaft untersagt war.“ (Strafbefehl SA1 1672 1812 vom 21.4.2017). …

Zwei Seiten Beamtensprache. Trocken, schnörkellos und kaum begründet. Avanzini wird zu einer bedingten Geldstrafe von 5 Tagessätzen zu 90 Franken und einer Busse von 100 Franken verurteilt.

Da sitzt ihr plötzlich etwas auf der Brust. Für den Staat ist sie jetzt eine Kriminelle. Und im Hinterkopf der dauernde Gedanke: Sie kostet die Redaktion viel Geld, auch das Honorar der eigenen Anwältin muss bezahlt werden. Die Frage beginnt zu bohren: Tickt unsere Gesellschaft so? Darf eine Journalistin nicht mehr ihren Job machen? Ein Crowdfunding der Redaktion erlaubt es, gegen den Strafbefehl Einsprache zu erheben. Das geschieht in der Schweiz selten. Viele Betroffene akzeptieren Strafbefehle, weil eine Einsprache Zeit und Geld kostet. Hätte Zentralplus die Anwältin nicht bezahlt, hätte auch Avanzini akzeptiert, eine verurteilt zu sein. Denn die 10 Tage Beschwerdefrist sind auch die letzten zehn Tage ihrer Schwangerschaft. Und damit keine Zeit des Kämpfens.

3. Mai 2017. Jana Avanzinis Sohn kommt zur Welt.

26. Juni 2017. „Sie müssen ihr Handy draussen lassen“, sagt der Staatsanwalt zu Beginn der Einvernahme. Jana Avanzini entgegnet: „Mein Partner muss mich erreichen können, wenn unser Kind gestillt werden will“. Und plötzlich dreht die Stimmung im Zimmer. Von nun an fühlt sich Avanzini als Mensch wahrgenommen. Selbst der Anwalt von Bodum erkundigt sich: „Ah ja, wie alt ist es denn?“ Und jetzt erlaubt ihr die Anwältin zu reden. Avanzini erklärt, dass sie gemeint habe, als Journalistin Park und Villa betreten zu dürfen. Sie habe das Haus ja nicht besetzen, sondern sich nur vor Ort ein Bild der Verhältnisse machen wollen. Zudem habe sie die Information gehabt, dass die Besetzung weitere drei Tage geduldet werde.

11. Juni 2018. Wieder liegt ein Fax der Anwältin auf dem Pult am Arbeitsplatz. Den Entscheid hat derselbe Staatsanwalt gefällt, der sie mit Strafbefehl bestrafen wollte. Mit dem Leuchtstift liest ihn die Journalistin, streicht mehr als 20 Sätze stabilo-gelb an: Da! Genau. So! Ja! Genau so muss es in einer Gesellschaft sein, in der sie leben will. Sie konnte es all den Juristen erklären. „Endlich verstehen sie.“

„Einstellungsverfügung.

Die Strafuntersuchung gegen Jana Ruth Avanzini wegen Hausfriedensbruchs wird in Anwendung von Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO eingestellt. (…) Jana Avanzini betrat das seit längerem leerstehende und nun besetzte Gebäude in ihrer Funktion als Journalistin, in der Absicht – solange dies noch möglich war – über die Besetzung, die Stimmung die Zustände im Haus Informationen zu sammeln und das Haus sogleich wieder zu verlassen; dies im Glauben, dass die Besetzung noch bis Samstag (23.4.2016) geduldet werde. Dies ist mit der Annahme einer vorsätzlichen Tatbegehung nach Art. 186 StGB nicht zu vereinbaren.“

Und damit nicht genug. Der Staatsanwalt wird grundsätzlich: „Die Presse hat eindeutig die Pflicht, über Themen von allgemeinem Interesse zu informieren. (…) Die Berichterstattung lag zweifelsohne im öffentlichen Interesse und war durch die Medien- und Pressefreiheit grundrechtlich geschützt, womit diese letztlich auch unter dem Aspekt der Wahrung berechtigter Interessen nicht als unrechtmässige Handlung klassifiziert werden sollte.“

Avanzinis Einsprache hat den Staatsanwalt also zum Nachdenken gebracht. Solche Einstellungsverfügungen sind von immenser Bedeutung. Doch man erfährt von ihnen nur durch Zufall. Erst dann nämlich, wenn – wie im konkreten Fall – Betroffene sie öffentlich machen oder sie angefochten werden. Einstellungsverfügungen sind so wichtig wie Strafbefehle, denn sie zeigen, wo und warum die Strafverfolger keine Straftat erkennen. Betrifft dies etwa einen Justizdirektor, der im Verdacht stand, eine Urkundenfälschung begangen zu haben? Dann wirft eine Einstellung wichtige Fragen auf: Hat der Staatsanwalt den Prominenten begünstigt? Oder hat er korrekt ermittelt?

Was in Einstellungsverfügungen steht, ist also eminent wichtig. Und trotzdem erfährt kaum jemand von Einstellungsverfügungen, denn sie werden nicht vor Ort aufgelegt, geschweige denn in einem Verzeichnis aufgeführt. Deshalb fordern Rechtswissenschafter:  Einstellungsverfügungen müssen in einem öffentlichen Register aufgelistet werden. Erst dann seien auch sie korrekt verkündigt, wie die Bundesverfassung es verlangt.

Genau hinschauen, was die Strafverfolger machen, gebietet sich auch aus einem weiteren Grund: In Luzern etwa wurden 2017 nur rund 11 Prozent aller Strafuntersuchungen eingestellt. Bei den Staatsanwaltschaften Zürich Limmat und Zürich Sihl waren es rund 50 Prozent. Glücklich, wer in Zürich beschuldigt wird?

21. Juni 2018. Bodums Anwalt reicht Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung ein.  Avanzini fragt sich: Warum nimmt dieser Mann so viel Geld in die Hand? Seine Klientin gebe während laufendem Verfahren keine Auskunft, lässt Bodums Anwalt ausrichten. Avanzini hat zwar keine Angst, dass die Beschwerde gutgeheissen wird, fürchtet aber, dass sie sich bei einer Gerichtsverhandlung nicht mehr an alle Details erinnern kann. Zu viel anderes und wichtigeres ist in ihrem Leben passiert seit jenem ersten Blick auf die Bodum-Villa an der Obergrundstrasse 99, die hinter Brombeerranken weiter zerfällt. Offenbar steht sie kurz vor dem Abbruch. Die Stadt Luzern verhandelt mit Bodum seit Monaten über einen Ersatzbau.

(Fall-Nr: SA1 1672 1812 vom 21.4.2017 und 11.6.2018)

Dieser Text wurde erstmals am 3. Oktober 2018 in der Online-Zeitschrift Republik publiziert.

Nachträge:
Seit dieser Einstellungsverfügung ist einiges passiert:
Das Luzerner Kantonsgerichts hat am 18. Dezember 2018 entschieden, dass ein Gericht über den Fall zu urteilen habe.  Und das Bezirksgericht Luzern hat Jana Avanzini nach öffentlicher Verhandlung am 26. Juni 2019 zu einer Busse von 500 Franken verurteilt. Meinen Kommentar zu diesem Urteil finden Sie ebenfalls bei der Republik. Jana Avanzini hat das Urteil angefochten. Damit wird das Luzerner Kantonsgericht den Fall (erneut) behandeln.

Interessenbindungen des Autors:

Dominique Strebel ist Medienrechts-Dozent (und Studienleiter) an der Schweizer Journalistenschule MAZ, Mitgründer des Schweizer Recherchenetzwerkes investigativ.ch und hat das Crowdfunding von Jana Avanzini unterstützt.

 

 

 

 

In 12 Schritten zur wahren Story

Im Nachgang zum Fall Relotius habe ich mir überlegt, wie Storytelling, Wahrhaftigkeit und Recherche im Arbeitsablauf von Journalisten am besten aufeinander abgestimmt werden. Hier zwei Grundsätze und zwölf Schritte zum Umsetzen.

  1. Storytelling hat dienende Funktion. Zentral im Journalismus ist die relevante, faktenbasierte Information.
  2. Aber: Storytelling ist wichtig, denn nur so werden die journalistischen Recherchen und Informationen gelesen

Deshalb empfiehlt sich folgender Arbeitsablauf in 12 Schritten:

  1. Aussagewunsch/Recherchethese formulieren; Mindmap und darauf Rechercheplan erstellen (So ist das Storytelling bereits von Beginn weg integriert)
  2. bedingungslos Recherchieren: mit gleicher Verve den bestätigenden wie den widersprechenden Hinweisen/Indizien nachgehen; Recherchethese laufend anpassen oder über Bord werfen
  3. nur zum Storyinhalt machen, was wir mit mindestens zwei unabhängigen Quellen (oder einer harten Quelle: rechtskräftiges Urteil, amtliche Mitteilung) belegen können
  4. Recherche dokumentieren
  5. Bewusst von Recherche- zu Schreibphase wechseln: Recherchedokumentation, Materialsammlung weglegen; inkubieren – Joggen, Schlafen, um den Block laufen
  6. Story bauen: Fokus, Aussagewunsch formulieren (geschah bereits mit laufend justierter Recherchethese), Helden, Orte, Handlungen, Szenen bestimmen; Einstieg, Mitte, Ende festlegen, Erzählmuster, Plot etc.
  7. Freies Schreiben losgelöst von detaillierten Recherchebelegen (Recherchedoku, Materialiensammlung bewusst in Schublade legen)
  8. Faktencheck: Zu jedem im Text geschilderten Fakt den einen oder die zwei Belege in ein Mäppchen legen oder in der Online-Dok raussuchen
  9. Fairnesscheck: Zu jedem im Text geschilderten schweren Vorwurf die belegte Stellungnahme hervorsuchen
  10. Framing-Check: Habe ich nur dort Worte mit Spin verwendet, wo dies durch die belegten Fakten gedeckt ist?
  11. Storytelling-Check: Gebe ich durch das Storytelling den Faktenelementen einen Zusammenhang, der durch die Fakten gedeckt ist?
  12. Publizieren und gegebenenfalls sofort berichtigen, wenn sich Fakten als falsch erweisen.

Presserat neu auch für Blogger zuständig

Auf Anfang 2019 hat der Presserat sein Geschäftsreglement geändert und erklärt sich neu auch für  journalistische Inhalte zuständig, die individuell publiziert werden. Damit klärt er eine wichtige Frage. Handelt sich aber viele neue Probleme ein.

Gemäss neuem Art. 2 des Geschäftsreglements erstreckt sich die Zuständigkeit des Presserats « – ungeachtet der Verbreitungsart – auf den redaktionellen Teil der öffentlichen, auf die Aktualität bezogenen Medien sowie auf die journalistischen Inhalte, die individuell publiziert werden.»

Gemäss altem Artikel war der Presserat nur zuständig für «den redaktionellen Teil oder damit zusammenhängende berufsethische Fragen sämtlicher öffentlicher, periodischer und/oder auf die Aktualität bezogener Medien.»

Damit ändert einiges:

  1. Der Presserat ist für Publikationen auf allen Verbreitungskanälen zuständig – also in Radio, TV, Print, Online, Social Media, Alexa etc..
  2. Der Presserat ist auch für nicht periodische Publikationen zuständig.
  3. Der Presserat ist nicht nur für Publikationen im redaktionellen Teil von Medien zuständig, sondern auch für journalistische Inhalte, die individuell publiziert werden.

Damit beschränkt der Presserat seine Zuständigkeit also nicht (mehr) auf Redaktionen und Inhalte, die einen redaktionellen Produktionsprozess durchlaufen haben, sondern weitet sie ausdrücklich auch auf journalistische Inhalte aus, die individuell publiziert werden (Stellungnahmen 1/2019 und 2/2019). Und damit wird der Presserat grundsätzlich auch für Publikationen von Bloggern, Youtubern etc. zuständig oder kann einzelne Social-Media-Posts beurteilen.

Entscheidend für die Zuständigkeit ist einzig und allein, ob die Publikation einen «journalistischen Charakter»hat.

Als Veröffentlichung mit journalistischem Charakter gilt gemäss Presserat «jede Publikation, die aus einer Tätigkeit resultiert, welche aus unabhängiger Warte Material sammelt, auswählt, formatiert, interpretiert oder kommentiert.» (Stellungnahme 1/2019).

Ob eine Publikation journalistisch ist, beurteilt der Presserat zudem neu anhand des gesamten Charakters der Publikation. Weder Presseausweis der Informationsersteller noch Selbstdeklaration («Ich mache Journalismus») genügen für sich alleine: «Weder der Besitz eines Presseausweises noch die Erzielung eines Einkommens überwiegend aus journalistischer Tätigkeit oder andere quantitative Kriterien können als alleinige Referenz dienen. Die freiwillige Unterstellung unter die Regeln der ‚Erklärung’, wie sie der Presserat bisweilen in Betracht gezogen hat, ist ebenfalls nicht ausreichend, und sei es nur, weil dies zur Folge hätte, dass diejenige Person, die behauptet, nicht der ‚Erklärung’ zu unterstehen, dieser e contrario auch nicht unterstehen würde.» (Grundsatzstellungnahme 1/2019).

Damit kehrt der Presserat von seiner Praxis ab, auf die blosse Selbstdeklaration des Mediums abzustellen. Noch 2017 trat der Presserat auf eine Beschwerde gegen den Blog «www.1dex.ch» nicht ein, obwohl der Blog vom Auftritt her in den Augen des Presserates «wie ein journalistisches Onlinemedium» daherkam. Als Indiz dafür wertete der Presserat etwa die Überschrift «Pour un Valais critique et libertaire». Der Hauptblogger ist ein Anwalt aus Sion, weitere Beiträge schreiben Angehörige verschiedener Berufsgattungen, darunter auch Ex-Journalisten. Die Beiträge sind – mit einzelnen Ausnahmen – nur abonnierten Nutzern zugänglich. Trotzdem kam der Presserat zum Schluss, dass es sich dabei nicht um einen journalistischen Blog handelte, der dem Journalistenkodex untersteht. Grund: Es werde nirgends behauptet, dass der Blog Journalismus betreiben wolle (Stellungnahme 48/2017).

Und noch im Frühjahr 2018 tratt der Presserat auf eine Beschwerde gegen die Online-Plattform www.lapravda.ch ein, weil die Online-Plattform für sich in Anspruch nehme, eine Plattform für Journalisten zu sein, die kein Blatt vor den Mund nehmen, und ausdrücklich erkläre, den Journalistenkodex zu beachten (Stellungnahme 10/2018)

Diese Korrektur des Presserates ist zu begrüssen. Als der Presserat vorwiegend auf die Selbstdeklaration der Publikation abstellte, hatten es Medien weitgehend selbst in der Hand, ob sie dem Journalistenkodex unterstanden oder nicht. Und es konnte wie im Fall «www.1dex.ch» passieren, dass ein Produkt mit augenscheinlich journalistischem Charakter dem Journalistenkodex nicht unterstand, wenn das Produkt nicht ausdrücklich behauptete, nach journalistischen Kriterien zu arbeiten. Das war aus der Sicht der Leserinnen und Leser unbefriedigend.

Offen bleibt, nach welchen Kriterien der Presserat genau beurteilt, ob eine Publikation einen journalistischen Charakter hat. Einige Guidelines lassen sich aus der bisherigen Praxis des Presserates und aus den Grundsatzstellungnahme 1 und 2/2019 ableiten:

_Hat ein Inhalt einen redaktionellen Produktionsprozess durchlaufen, ist dies ein starkes Indiz für den journalistischen Charakter der Publikation. So müssen «journalistische Medien» etwa den Journalistenkodex immer einhalten, auch wenn sie auf Social Media publizieren (Stellungnahme 2/2019). Doch bei vielen Publikationen lassen sich die internen Abläufe von aussen kaum beurteilen.

_Objektive Kriterien wie Aufbau und Präsentation der Publikation werden eine wichtigere Rolle spielen, wenn es darum geht, den journalistischen Charakter einer Publikation zu beurteilen. Was gilt etwa, wenn Aufbau und Präsentation einen Durchschnittsleser (wie etwa im Fall «www.1dex.ch») glauben lassen, dass ihm Informationen mit journalistischem Charakter geboten werden? Die Praxis des Presserates darf mit Spannung erwartet werden.

Sonderfall Journalist: Journalistinnen und Journalisten sind grundsätzlich verpflichtet, die berufsethischen Regeln einzuhalten – auch wenn sie unabhängig von einer Redaktion journalistische Inhalte über Social Media verbreiten. Diese Pflichten beschränken sich aber ebenfalls auf Beiträge journalistischer Art, die sie verbreiten und gelten nicht, wenn sie sich zu Fragen äussern, die ihr Privatleben betreffen.  Zudem ist gemäss Presserat dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen, besonders ist die charakteristische Spontaneität sozialer Netzwerke zu berücksichtigen und die dort praktizierte breite Meinungsfreiheit (Stellungnahme 2/2019). Auch dazu wird die Praxis des Presserates Klarheit schaffen müssen.

Der Twitter-Entscheid des Presserates vom Mai 2018 ist durch diese Änderungen des Reglements weitgehend obsolet geworden. Damals entschied der Presserat aufgrund des alten Geschäftsreglements auf eine Beschwerde gegen einen Tweet eines Journalisten der «Basler Zeitung» nicht einzutreten, weil er sich nur für Beschwerden gegen Redaktionen zuständig erachtete oder gegen Journalisten, deren Handlungen einer Redaktion zuzurechnen waren.

 

Schnelleinstieg und Überblick zum Bundesgesetz über elektronische Medien

Für einen Workshop beim Reporterforum habe ich die wichtigsten Neuerungen im Entwurf des Bundesgesetzes über elektronische Medien und die Reaktionen von Parteien, Medienorganisationen und Gewerkschaften im Überblick dargestellt. Vielleicht verhilft das auch andern zu mehr Durchblick. Kommentare und Hinweise welcome!

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Gutes Skript zum öffentlichen Medienrecht

Das einfach verständliche, aber doch profunde Skript in öffentlichrechtlichem Medienrecht von Professor Franz Zeller ist nun als Open Source in aktualisierter Fassung 2018  im Internet erhältlich: https://edoc.unibas.ch/61154/

Das Buch behandelt neben dem Medienverfassungsrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht und Zivilrecht auch die Entscheide des Pressrates, legt einen Schwerpunkt auf Medienfreiheit, elektronische Medien, Quellenschutz, Öffentlichkeitsgesetz und Ansprüche auf Justizöffentlichkeit. Was will man mehr?

Recht – verständlich erklärt

Recht – Verfassung, Gesetze, Verordnungen und Urteile der Justiz – prägt die öffentliche Diskussion, Politik, Medien und unser Leben. Doch Recht im Sinne von grundlegender Staatsbürgerkunde wird an unseren Schulen kaum gelehrt. Und so gibt es auch wenig brauchbare Einführungen ins Recht. Hier ist eine.

Damit eine sehr gute Einführung für alle greifbar ist, lade ich sie – mit Einwilligung des Autors Franz Zeller, Professor für Medienrecht an den Universitäten Bern, Basel und St. Gallen – auf meinen Blog.

Auf dass viele – auch Medienschaffende – sich das Skript an einem Regentag zu Gemüte führen. Es trägt vielfältige, nutzbringende Früchte. Ich versprechs.

FS 2018 Kapitel-00-Einfuehrung in RW (fuer juristische Laien)

Vorratsdatenspeicherung ist verfassungsmässig: Adieu Quellenschutz

Nationalrat Balthasar Glättli und 5 weitere Personen (darunter ich) haben die Löschung unserer Vorratsdaten verlangt. Der Dienst ÜPF hat sie verweigert.  Nun hat das Bundesverwaltungsgericht unsere Beschwerde abgewiesen. Die Speicherung von Randdaten sei vereinbar mit der persönlichen Freiheit, der Meinungs-, Medien- und Versammlungsfreiheit und der Unschuldsvermutung.

Ich verlangte die Löschung unter anderem, weil der Quellenschutz ausgehebelt wird, wenn die Randdaten meiner digitalen Kommunikation sechs Monate lang gespeichert werden. Damit können Staatsanwälte nämlich rekonstruieren, wer wann wo wie lange mit mir als Journalist kommuniziert hat. In seinem Urteil hat sich das Gericht leider mit der Frage des Quellenschutzes nicht befasst. Das sei im Rahmen eines konkreten Strafverfahrens geltend zu machen, meinten die Bundesverwaltungsrichter. Nur: Journalisten erfahren gar nie, dass sie mitüberwacht werden, wenn sie mit einem Informanten telefonieren (sogenannter Beifang). Und können entsprechende Verfügungen mangels Parteistellung auch nicht anfechten.

Das musste und muss der renommierte Rechercheur Urs Paul Engeler erleben: Die Staatsanwaltschaft hat all seine Recherchegespräche mit Informanten im Fall Hildebrand ausgewertet und im Strafverfahren gegen sie verwendet. Engeler wusste davon bis zu Prozessbeginn nichts und erfuhr es erst durch Zufall (vgl. separaten Blog).

Nach diesem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sind die Berufsgeheimnisse von Anwälten, Priestern, Ärzten sowie der Quellenschutz von Journalisten faktisch ausgehebelt, denn gemäss Praxis (!) des Dienstes ÜPF werden die Randdaten einem anfragenden Staatsanwalt von den Telekomfirmen sofort ausgehändigt und das Zwangsmassnahmegericht entscheidet erst nach 5 Tagen, welche Daten (wegen Art. 271 Abs. 3 StPO – Schutz von Berufsgeheimnisträgern und Quellenschutz) ausgesondert werden müssen.

Faktisch weiss also der Staatsanwalt immer, mit welchen Quellen Journalisten kommuniziert haben, auch wenn er die Randdaten allenfalls als Beweis im Strafverfahren (zB wegen Amtsgeheimnisverletzung) nicht verwerten darf.

Ob wir das Urteil anfechten, ist noch offen.

Bis zu einem anders lautenden Urteil ist der rechtliche Quellenschutz im digitalen Zeitalter schwer eingeschränkt. Er greift nur noch als Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht oder als Editionsverweigerungsrecht bei Beschlagnahme von Dokumenten (beim Journalisten  und beim Informanten). Doch oft wird das wenig nützen, weil der Staatsanwalt über die Randdaten eh schon weiss, wer der Informant war und deshalb wegen einer Geheimnisverletzung angeklagt wird.

Wirklich nützen tut nur noch der technische Quellenschutz in der Vollausbauvariante: End-to-end Verschlüsselung + Surfen über Tor-Browser. Diese Infrastruktur müssen die Redaktionen bereit stellen, so die Forderung des Schweizer Recherchenetzwerkes investigativ.ch.

Einen Kurs dazu, wie das geht, biete ich an der Schweizer Journalistenschule MAZ an.

Mehr zur Rechtslage finden Sie in diesem Blogbeitrag: https://dominiquestrebel.wordpress.com/2016/04/11/prekaerer-quellenschutz-im-digitalen-zeitalter/, und bei der Digitalen Gesellschaft steht das Urteil im Volltext zum Download bereit: www.digitale-gesellschaft.ch