Grundeigentum als Risiko für Journalist:innen

Das Bundesgericht hat das Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs gegen eine Journalistin eingestellt, die auf ein besetztes Grundstück ging, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Das ist erfreulich. Aber damit ist für den journalistischen Alltag und die Medienfreiheit leider kaum etwas gewonnen.

Vor fünf Jahren, am 20. April 2016, betrat die Journalistin Jana Avanzini in Luzern gegen Abend ein Grundstück des Unternehmers Jørgen Bodum, das von der Gruppe Gundula besetzt worden war. Über ihren Besuch schrieb sie eine Reportage für das Onlinemagazin Zentralplus.

Die Bodum AG hatte am Vormittag des 20. April 2016 einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gegen unbekannte Täterschaft eingereicht. Gestützt darauf eröffnete die Luzerner Staatsanwaltschaft auch ein Strafverfahren gegen Avanzini. Das anschliessende Verfahren ist ein wunderbarer Stoff für eine juristische Masterarbeit. Mindestens.

Dem Strafverfahren nach fünf Jahren den Boden entzogen

Die Strafbehörden zogen alle Register des Strafrechts – von fehlendem Vorsatz über den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen bis hin zum (vermeidbaren) Verbotsirrtum. Alle prüften und argumentierten. Und allen war irgendwie unwohl, eine recherchierende Journalistin zu verurteilen. Fast alle verurteilten doch (vgl. unten). Und am Schluss kommt nun das Bundesgericht und entzieht dem ganzen Strafverfahren den Boden: Es gab gar keinen gültigen Strafantrag (Urteil 6B_1214/2020 vom 25. März 2021).

Ein Strafantrag kann sich gemäss Bundesgericht in der Regel nur auf begangene Delikte beziehen, also auf einen Sachverhalt, der sich bereits ereignet hat. Nur bei einem Dauerdelikt wie Hausbesetzung könne man den Strafantrag auch auf Sachverhalte ausdehnen, die sich später abgespielt haben. Das sei aber beschränkt auf Mittäter oder Gehilfen, die den gleichen Vorsatz wie die Haupttäter haben, meint nun das Bundesgericht.

Im konkreten Fall habe die Journalistin erst nach Einreichen des Strafantrags (Vormittag) das Grundstück betreten (Abend). Von diesem Strafantrag ist sie gemäss Bundesgericht nur miterfasst, wenn sie den gleichen Vorsatz hatte, wie die Täter. Der Strafantrag habe sich zwar gegen unbekannte Täterschaft gerichtet, aber mit ihm wurde gemäss Bundesgericht die durch die Gruppe Gundula „initierte und organisierte Hausbesetzung als Lebenssachverhalt zur Anzeige gebracht“. Das heisst: Der Strafantrag hätte die Journalistin nur miterfasst, wenn sie den Vorsatz gehabt hätte, Mittäterin oder Gehilfin der Hausbesetzer:innen zu sein. Das hatte sie aber gemäss Bundesgericht nicht. Sie habe eine Reportage schreiben wollen und nicht das Haus besetzen. Deshalb fehlt es gemäss Bundesgericht an einem gültigen Strafantrag. Und deshalb stellt es das Strafverfahren ein.

Schlecht für die Medien

Gut für Jana Avanzini. Gut für das Strafprozessrecht, das einen Leading Case mehr hat. Schlecht für die Medien. Denn ein (allenfalls zusätzlicher) gültiger Strafantrag auch gegen missliebig recherchierende Journalist:innen ist in Zukunft schnell gestellt.

Und dann stellen sich wieder all die ungeklärten Grundsatzfragen: Hat ein Journalist, der auf einem besetzten Grundstück recherchiert, den Vorsatz Hausfriedensbruch zu begehen? Muss sich eine Journalistin zuerst bei (Straf-)Behörden über die Rechtslage erkundigen, bevor sie sich auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen kann? Und: Welche Auskunft geben diese Behörden? Denn die Rechtslage ist heute so unklar wie zuvor. Können sich Journalistinnen auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen? Und unter welchen Voraussetzungen? Nur, wenn sie auf dem Grundstück Missstände von öffentlichem Interesse festgestellt haben? Und wie weiss man das als Journalist, wenn man eigentlich gar nicht aufs Grundstück dürfte?

Allen war irgendwie unwohl

Schaut man auf die Prozessgeschichte war allen beteiligten Strafbehörden irgendwie unwohl. Alle suchten sie unterschiedliche Argumentationen, um das Dilemma des Zusammenstosses von Medienfreiheit und Eigentumsgarantie abzumildern.

Die Staatsanwaltschaft Luzern stellte das Verfahren am 18. Juni 2018 auf Einsprache hin ein. Die Journalistin habe keinen Vorsatz für Hausfriedensbruch gehabt; zudem habe sie mit ihrer Recherche vor Ort Informationsinteressen verfolgt und könne sich auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen berufen.

Nachdem das Kantonsgericht Luzern die Staatsanwaltschaft zurückgepfiffen hatte (So grundsätzliche Fragen dürfe nicht ein Staatsanwalt, sondern müsse ein Richter entscheiden), verurteilte das Bezirksgericht Luzern die Journalistin wegen Hausfriedensbruchs am 26. Juni 2019 zu einer Busse von 500 Franken. Das Strafmass fiel sehr tief aus, weil die Richter:innen der Journalistin einen Verbotsirrtum zubilligten, der aber vermeidbar gewesen wäre. Die Journalistin hätte sich vorgängig bei der Staatsanwaltschaft oder einer anderen Behörde über die Rechtslage informieren müssen. Das Kantonsgericht Luzern bestätigte das Urteil.

Alle diese Entscheide der Vorinstanzen sind mit dem Urteil des Bundesgerichts Makulatur. Und Journalist:innen müssen weiterhin mit grosser Rechtsunsicherheit leben, wenn sie auf einem besetzten Grundstück recherchieren.

Etwas höhere Hürde durch ausdrücklichen Strafantrag gegen Medien

Immerhin muss ein Grundeigentümer in Zukunft wohl einen separaten Strafantrag spezifisch gegen die Journalistin, den Journalisten stellen, der auf dem besetzten Gelände recherchierte. Und das tut er vielleicht – im Unterschied zu einem Strafantrag gegen die Hausbesetzer:innen selbst – möglicherweise nicht.

Bodum hätte es wohl getan. Das zeigt die Hartnäckigkeit, mit der er Jana Avanzini ins Recht zu fassen versuchte. Selbst auf das Risiko hin, dafür einen (tiefen) fünfstelligen Betrag für Gerichts- und Anwaltskosten hinblättern zu müssen.

Strafbescheide der Verwaltung – die Liste

Zahlreiche Bundesämter machen ihre Strafentscheide öffentlich: Swissmedic, BAG, Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr, Eidgenössische Steuerverwaltung, EFD etc. Eine Liste mit Sachbereichen und Zugangsmodalitäten erleichtert die Übersicht.

Ihr findet die (unvollständige) Liste der Ämter, Strafzuständigkeitsbereiche und Zugangsmodalitäten hier. Diese Liste könnt ihr kommentieren. Falls ihr Ergänzungen, Anregungen habt, bitte meldet es mir (auch) per Mail (dominique.strebel(at)gmx.ch).

 _ Hier gehts direkt zum Abo des Newsletters von Swissmedic  
_ Hier gehts zum Abo des Newsletters des Dienstes ÜPF 
_ Für Einsicht bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung meldet man sich per Mail einsicht.strafbescheide@estv.admin.ch
_ Hier gehts zum Mustergesuch für den Zugang zu Strafentscheiden der Verwaltung 

Und hier findet ihr ein Handout zu Verwaltungsbescheiden der Verwaltung, das den Hintergrund erklärt.

Viel Erfolg!

„Zitieren Sie mich so oder gar nicht“

Auskunftspersonen können nicht beliebig darüber bestimmen, wie ihre Aussagen zitiert werden – auch dann nicht, wenn sie schriftlich Stellung nehmen oder ihre Zitate schriftlich autorisieren. Umfang und ausgewählte Zitate liegen meist in der Hoheit der Journalistinnen und Journalisten.

Hier ein paar Leitlinien zu zwei Musterfällen (weitere grundsätzliche Ausführungen zur Problematik des Zitierens finden Sie in diesem Blogbeitrag.)

I. Jemand nimmt (zu) ausführlich schriftlich Stellung – ohne eine Bedingung zu stellen. 

Leitlinien sind:
1. Die Journalistin darf gewisse Passagen direkt zitieren, andere paraphrasieren. 
2. Die zitierte Person hat nur die Hoheit über die direkten Zitate, nicht aber über den Umfang des direkt Zitierten oder überhaupt Wiedergegebenen. Der Journalist muss einfach Ziffer 3 beachten.
3. Die betroffene Person muss mit ihren besten Argumenten (direkt oder indirekt) zu Wort kommen. (Ständige Praxis des Presserates, publizistische Leitlinien SRF.)
4. Was direkt – zwischen Anführungsstrichen – zitiert wird, muss wortgenau wiedergegeben werden (Recht am eigenen Wort/Zitat).
5. Die zitierte Person hat keinen Anspruch darauf, die ausgewählten Passagen nochmals zu sehen. Sie hat ja bereits die Aussagen (schriftlich) autorisiert. Die Auswahl liegt alleine in der Hoheit der Journalistin.
6. Ein Rückzug der Zitate ist nur in Ausnahmefällen möglich (wenn die zitierte Person schwere Nachteile zu gewärtigen hätte – etwa eine Anzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung etc. siehe dazu Meili, Basler Komm. zu Art. 28 ZGB, Rz 48 m.H.).

II. Jemand nimmt (zu) ausführlich schriftlich Stellung, stellt aber die Bedingung „So oder gar nicht“. 

Leitlinien sind:
1. Der Journalist/die Journalistin muss diese Bedingung für die direkten Zitate akzeptieren. Es darf also nicht auszugsweise direkt zitiert werden, denn die Einwilligung steht unter der Bedingung „Alles oder nichts“. Falls diese nicht eingehalten wird, fällt die Einwilligung weg. (Und ohne Einwilligung darf man nur im Ausnahmefall des überwiegenden öffentlichen Interesses trotzdem direkt zitieren). 
2. Hingegen darf alles paraphrasiert, also inhaltlich umschrieben werden. Es muss aber alles stimmen. Das zugesandte, nicht verwendete Zitat dient dann als Beleg, dass inhaltlich wahr ist, was man schreibt. Grund: Das Recht am eigenen Wort gibt in der Regel nur die Hoheit über die direkten Zitate, nicht aber über den vermittelten Inhalt. (Ausnahme: Der Widerruf des Gesagten ist ausnahmsweise zulässig vgl. oben).
3. Zudem gilt bei einer Stellungnahme zu einem schweren Vorwurf auch hier: Im umschreibenden Text müssen die besten Argumente der kritisierten Person dargestellt werden. Dann halt ohne wörtliches Zitat.

Mustergesuch für den Zugang zu Strafbefehlen

Staatsanwaltschaften müssen Strafbefehle öffentlich zugänglich machen. Das ist ein Gebot der Bundesverfassung (Art. 30 Abs. 3 BV) und des Gesetzes (Art. 69 Abs. 2 StPO). Ein Mustergesuch erleichtert den Zugang.

Staatsanwaltschaften legen nicht anonymisierte Strafbefehle vor Ort während einer gewissen Frist vor Ort auf (von Kanton zu Kanton unterschiedlich, vgl. etwa die Zusammenstellung in diesem Dokument).

Aber auch nach Ablauf dieser Auflagefrist müssen Staatsanwaltschaften Strafbefehle zugänglich machen – wenn auch in der Regel anonymisiert. Falls Staatsanwaltschaften dafür ein „ernsthaftes“ Interesse verlangen, ist dies bei Medienschaffenden durch das Interesse an Information und Justizkontrolle gegeben.

Damit es einfacher ist, Strafbefehle auch nach Ablauf der Auflagefrist vor Ort herauszuverlangen, habe ich ein Mustergesuch verfasst.

Aber: Fragt bitte immer zuerst telefonisch bei der Staatsanwaltschaft nach und fallt nicht einfach mit dem Gesuch ins Haus. Das führt eher zum Erfolg.

Ich bin interessiert an euren Erfahrungen mit dem Musterbrief. Mailt sie mir. Ich versuche, das Wissen rund um Justizdokumente zu poolen und allgemein zugänglich zu machen.

Steuergeheimnis gelockert: Strafbefehle der Steuerverwaltung einsehbar

Die eidgenössische Steuerverwaltung ESTV legt ihre Strafbefehle ab November 2020 zur Einsicht auf, allerdings nur anonymisiert. Trotzdem ist dies ein Sieg des Journalisten Mischa Aebi, der dieses Recht vor Bundesverwaltungsgericht erstritten hat.

Wer vorsätzlich oder fahrlässig falsche Angaben macht, wenn er die Mehrwertsteuer abrechnet, kann von der eidgenössischen Steuerverwaltung ESTV mit einer Busse bis 400’000 Franken bestraft werden (Steuerhinterziehung – Art. 96 MwStG). Eine Busse droht etwa auch, wer sich nicht korrekt bei den Steuerbehörden anmeldet, obwohl er steuerpflichtig ist (Art. 98 Abs. 1 Bst. a MwStG). Das sind nur zwei Strafbestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes. Und im Verrechnungssteuergesetz gibt es analoge Strafbestimmungen (Art. 61 VStG).

Gebot der Justizöffentlichkeit auch im Steuerbereich anwendbar

Alle diese Strafbestimmungen führen zu Strafbefehlen und Strafverfügungen, die die ESTV ausfällt. Weil es sich dabei um Entscheide des Verwaltungsstrafrechts handelt, fallen sie unter das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) und müssen somit öffentlich verkündet werden. Das Steuergeheimnis hat gemäss Bundesverwaltungsgericht zwar einen hohen Stellenwert, steht aber der Gerichtsöffentlichkeit gemäss Art. 30 Abs. 3 BV nicht grundsätzlich entgegen (Erw. 4.7, 4.8). Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Leitentscheid nun erstmals festgehalten (Urteil A-1878/2018 vom 27. Mai 2020).

Zugang nur zu anonymisierten, rechtskräftigen Entscheiden

Weil das Steuergeheimnis aber einen hohen Stellenwert hat, bejaht das Gericht einen Anspruch auf Zugang nur zu anonymisierten Strafbefehlen der ESTV. Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der Betroffenen sollen im Gegenzug nicht immer geschwärzt werden (Erw. 4.9). Nicht-anonymisierte Entscheide sind aber nur dann einsehbar, wenn das öffentliche Interesse an Transparenz den Schutz der finanziellen Privatsphäre überwiegt.

Damit ist der Zugang anders geregelt als bei Strafbefehlen der Staatsanwaltschaften oder von anderen Verwaltungsbehörden: Da besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Einsicht in nicht-anonymisierte Entscheide (vgl. Leitentscheid 124 IV 234).

Ab November 2020 vor Ort bei der ESTV einsehbar

Bereits im Laufe des Verfahrens hat die ESTV angekündigt, dass sie in Zukunft laufend ihre Entscheide anonymisiert während 30 Tagen ab Rechtskraft zur Einsicht auflegen wird, ohne dafür Kosten in Rechnung zu stellen. Gemäss Mediensprecher Joel Weibel soll dies ab November 2020 der Fall sein: An einem der Standorte der ESTV können alle Interessierten auf Voranmeldung die anonymisierten, rechtskräftigen Entscheide an einem PC kostenlos durchscrollen. Auf Verlangen werden auch kostenlose Kopien abgegeben.

Ob allenfalls auch ein Newsletter abonniert werden kann, der periodisch eine Übersicht über die neuesten Entscheide aufführt (analog zur Lösung von Swissmedic), ist gemäss Mediensprecher Weibel noch nicht entschieden.

 

Mustergesuch zur Einsicht in Einstellungsverfügungen

Immer wieder erhalte ich Anfragen, wie man Einstellungsverfügungen herausverlangen kann. Zur Vereinfachung habe ich dafür zwei Mustergesuche samt Anleitung formuliert (einen für Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB bei Wiedergutmachung und einen für Einstellungsverfügungen allgemein).

Viel Erfolg damit. Und: Haltet mich auf dem Laufenden über allfällige Erfolge oder Misserfolge von Einsichtsgesuchen mit Mail an dominique.strebel(at)gmx.ch.

Hier das Mustergesuch für Einstellungsverfügungen allgemein

20_04_29_Musterbrief_Einsicht_Einstellungsverfügungen_allgemein

Und hier das Mustergesuch für Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung)

18_03_13_Musterbrief_Einsicht_Einstellungsverfügungen_Art53

Verfassungswidrige Praxis von Staatsanwälten

Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen Kopien von anonymisierten Urteilen und Strafbefehlen erlauben, wenn jemand sie vor Ort einsieht. Dabei können Kosten für Anonymisierungen nur auferlegt werden, wenn es eine klare gesetzliche Grundlage dafür gibt. Die Bestimmungen für Kanzleigebühren genügen nicht, so das Bundesgericht in einem neuen Urteil (BGer 1C_497/2018 vom 22. Januar 2020). 

Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wollte einem Gesuchsteller für die Anonymisierung von 16 Urteilen eine «Kanzleigebühr» von 2000 Franken auferlegen. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage, meint nun das Bundesgericht und heisst die Beschwerde des Einsichtswilligen gut. Die Kanzleigebühr sei nur für kleine Beträge vorgesehen, das Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip greife bei Gerichtsgebühren nicht, da diese nie kostendeckend sein können und eine lang andaudernde Übung könne das Gericht nicht geltend machen.

Zur Frage, ob so hohe Gebühren nicht das Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) aushebeln, äusserte sich das Bundesgericht nicht, da die Beschwerde bereits deshalb gutgeheissen wurde, weil die gesetzliche Grundlage fehlte. Immerhin auferlegt das Bundesgericht den Gesuchstellern eine Kostenminderungspflicht. In einem Nebensatz erwähnt es, dass der Einsichtswillige es unterlassen habe, vor Ort Einsicht zu nehmen und die Zahl der zu anonymisierenden Entscheide so einzuschränken.

Anspruch auf eine Kopie

Erneut und als bereits lange geltende Gerichtspraxis erwähnt das Bundesgericht, dass das Recht, eine anonymisierte Kopie zu erhalten, zum verfassungsmässigen Grundsatz der Justizöffentlichkeit gehört. «Dem Grundsatz der Justizöffentlichkeit ist durch die Auflage auf der Gerichtskanzlei und die Möglichkeit, eine anonymisierte Kopie zu erhalten, Genüge getan.» Richtig, denn bereits in einem Urteil vom 1. September 2006 (Erw. 2.2.2) hat dies das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten und wiederholt es seitdem in konstanter Praxis (statt vieler BGer Urteil 1C_394/2018 vom 7. Juni 2019).

Verfassungswidrige Praxis von Staatsanwaltschaften

Somit verhalten sich einige Staatsanwaltschaften der Schweiz verfassungswidrig. In den Kantonen Luzern, Aargau und Zürich erhält man zum Beispiel keine Kopien anonymisierter Strafbefehle.

P.S. In einer ersten Version dieses Textes wurde auch die Praxis der Bundesanwaltschaft als verfassungswidrig bezeichnet. Die Bundesanwaltschaft stellt aber heute Strafbefehle in anonymisierter Version auf Anfrage im Nachgang zu einer Einsicht vor Ort zu.

 

 

Im Zweifel für die Stellungnahme

Berichten Medien über ein Gerichtsurteil, müssen sie gemäss Presserat dem Beschuldigten keine Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Dies gilt gemäss Presserat auch bei einem nicht rechtskräftigen Strafbefehl. Ein Fehlentscheid.

Am 28. Januar 2019 veröffentlichte «Blick» einen Artikel mit dem Titel «Dentalassistentin Sadia H.* (20) kritisiert ihren Ex-Chef auf Google. Jetzt muss sie 1400 Fr zahlen». Darin warf die Dentalassistentin Sadia H. ihrem früheren Chef vor, seine Angestellten und Patienten schlecht behandelt, unnötige Behandlungen vorgenommen und Hygienestandards nicht eingehalten zu haben. Der Zahnarzt habe seine Mitarbeiterinnen zudem wie «Sklaven» behandelt. Sadia H. habe deshalb gekündigt und ihre Lehre in einer anderen Praxis fortgesetzt.

Auf Google habe die Auszubildende eine Rezension über ihren früheren Arbeitgeber verfasst, um vor ihm zu warnen. Dabei hielt sie fest, er hasse seinen Job und breche Zahnbehandlungen bei Kindern auch dann nicht ab, wenn diese weinten oder fast erstickt seien. Der Zahnarzt sei «ganz schlecht» und die Praxis «echt gefährlich», schrieb sie.

Für diese Äusserungen wurde Sadia H. per Strafbefehl wegen Ehrverletzung verurteilt. Blick stützte seinen Bericht auf diesen Strafbefehl, der zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht rechtskräftig war.

Der Presserat wies deshalb eine Beschwerde des Zahnarztes ab (der dafür den Verein Fairmedia beauftragte): Die Berichterstattung des Blick gehe nicht über die im Strafbefehl geschilderten Details hinaus. Deshalb habe die Zeitung auch keine Stellungnahme des Zahnarztes einholen müssen (Stellungnahme 64/2019).

Der Presserat stellt also einen Strafbefehl einem Urteil medienethisch gleich. Das ist falsch. 

Bei einem Strafbefehl findet keine öffentliche Verhandlung statt. Zudem müssen Strafbefehle nicht begründet werden, und weder die Sicht des Opfers noch jene des Anzeigeerstatters oder Beschuldigten kommen im Strafbefehl zum Ausdruck, da oft – wie im konkreten Fall – keine Einvernahmen stattfinden.

Damit ist der Strafbefehl einseitig und die Sicht der Betroffenen kommt nirgends zum Ausdruck. In einem solchen Fall kann das amtliche Dokument zwar das Wahrheitsgebot erfüllen, nicht aber die Pflicht zur Stellungnahme ersetzen. Eine Stellungnahme ist somit bei Strafbefehlen immer einzuholen (sofern nicht oder nicht genügend anonymisiert darüber berichtet wird).

Grundsätzlich ist bereits die Praxis des Presserates zu kritisieren, dass bei einem Urteil keine Stellungnahme einzuholen ist. Sie ist allzu pauschal.

Ein rechtskräftiges Urteil gilt zwar als harte Quelle, die es erlaubt, das Gebot der Wahrheit zu erfüllen. Das Fairnessgebot muss aber zusätzlich beachtet werden. Dies kann meist dadurch erfüllt werden, dass die Sicht des Beschuldigten aufgrund der (öffentlichen) Gerichtsverhandlung oder der schriftlichen Begründung des Urteils geschildert werden kann. Ist dies aber nicht möglich, besteht die Pflicht des Journalisten, dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, zu den schweren Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Und nebenbei: Betroffene anzuhören, ist nicht nur eine grundsätzliche medienethische Pflicht, sondern schlicht auch interessant und bereichert jeden journalistischen Beitrag. Deshalb gilt die Faustregel: Im Zweifel für die Stellungnahme.

Vereinbarung erspart Ärger mit Zitaten

Am Telefon spricht der Politiker Klartext, dann schreibt er das wortgetreue Zitat, das ihm die Journalistin zugemailt hat, aber völlig um. Das Zitat wird zur unverbindlichen Worthülse. Was gilt nun?

Hat ein Gesprächspartner in ein Zitat eingewilligt, kann er dies in der Regel nicht mehr widerrufen, ausser wenn im Zitat oder Interview an sich geschützte Tatsachen – zum Beispiel Informationen aus der Geheim- oder Privatsphäre – preisgegeben werden. Es muss immer abgewogen werden, ob die Einwilligung höher zu gewichten ist als der Schaden, den eine Veröffentlichung anrichten kann. Aber die Schwelle für einen zulässigen Widerruf ist hoch (vgl. etwa Andreas Meili im Basler Kommentar zu Art. 28 ZGB, Rz. 48). Ein Politiker muss sich also in der Regel auf seinen ursprünglichen Klartext behaften lassen.

Soweit so juristisch. Praktisch stellen sich trotzdem Probleme:

  1. War die mündliche Aussage bereits als Zitat gedacht? Hat die Politikerin also beim Sprechen tatsächlich eingewilligt, dass eine Aussage zitiert wird? Oder war dies nur lautes Nachdenken? Die Antwort auf diese Frage erschliesst sich meist aus den Umständen: Wenn eine Politikerin mit einem Journalisten spricht, der sie klar erkennbar als Journalist im Hinblick auf ein Zitat befragt, willigt sie implizit ein, dass ihre Aussagen zitiert werden können.
  2. Kann der Journalist beweisen, dass das Zitat stimmt? Das kann mitunter für Print- und Onlinejournalisten schwierig sein, denn Gespräche darf man nur mit Einwilligung des Gesprächspartners aufzeichnen. Entweder hat der Politiker auch dazu eingewilligt, oder es können Kollegen helfen, die das Gespräch mitgehört haben. Ansonsten steht Aussage gegen Aussage. Und das kann Folgen haben: Kann man die Wahrheit einer Information nicht beweisen, hat man bei einer Persönlichkeits- oder gar Ehrverletzung (Art. 28 ZGB; Art. 173ff StGB) schlechte Karten. Aber eben: Nicht jedes knackige Zitat eines Politikers ist eine Ehrverletzung. Und genau in solchen Fällen wird ein Widerruf des Zitates zulässig sein.

Trotzdem: Auch wenn klar war, dass eine Aussage als Zitat gedacht war und man Inhalt und Wortlaut beweisen kann, lohnt es sich, das Gespräch zu suchen und die Auskunftsperson daran zu erinnern, was sie mündlich gesagt hat. Will man es mit der zitierten Person nicht ganz verderben, ist ein solches Gespräch eh unumgänglich.

Eine Musterformulierung für den Umgang mit Zitaten

Entscheidend in einem solchen Gespräch wird sein, ob die Journalistin zu Beginn des Recherchegesprächs oder Interviews eine Abmachung über den Umgang mit Zitaten/Interviewantworten getroffen hat.

Eine Musterformulierung als Vorschlag (Danke Katrin Oller für den Input!): «Es gilt das gesprochene Wort. Das Gegenlesen dient dazu, Missverständnisse zu vermeiden, Versehen zu korrigieren und Unklarheiten zu präzisieren. Es ist nicht zulässig, Zitate inhaltlich umzugestalten, Antworten zu ändern und tatsächlich gemachte Aussagen zurückzunehmen.»

Eine solche Vereinbarung sollte man zu Beginn eines Interviews auf Band aufnehmen. (Für die Aufnahme muss man aber ebenfalls die Einwilligung des Gesprächspartners haben). So macht man die Abmachung beweisbar. Bei einem Recherchegespräch sollte man sie für jene Passagen vereinbaren, die man daraus zitieren möchte. Dabei wird die Unterscheidung, was jetzt off- und was on-the-record war, für zusätzliche Diskussionen sorgen.

Die Vereinbarung mailt man dem Gesprächspartner auch wieder zu, wenn man ihm die Gesprächspassagen/das Interview zur Autorisierung unterbreitet. So wird sie zur Richtschnur für die Diskussion über zulässige Abänderungen, und die Journalistin kann besser klar machen, weshalb sie bei der ursprünglichen Version bleiben will.

Juristisch gilt eine solche Abmachung als Vertragsschluss, die der Interviewpartner, die Auskunftsperson nicht einfach so über den Haufen werfen kann. Die sachlich nicht begründete Abänderung oder der willkürliche Rückzug eines Interviews kann rechtsmissbräuchlich sein und falls sie zur Unzeit geschehen – also kurz vor der Ausstrahlung oder der Publikation – schadenersatzpflichtig machen.

P.S.

Den blossen Inhalt einer Aussage (ohne Zitat) kann der Journalist immer publizieren, wenn er ihn belegen kann. Denn der Informationsgehalt alleine ist durch das Recht am eigenen Wort nicht geschützt. Auch in indirekter Rede kann man eine Aussage ohne Einwilligung wiedergeben, weil das Recht am eigenen Wort nur das konkrete Zitat zwischen Anführungs- und Schlusszeichen schützt.

PPS. Analoges fordert auch die Branchenvereinbarung zu Inteviews der Wirtschaftsjournalisten vom März 2019, die von Kommunikationsverantwortlichen grundsätzlich positiv aufgenommen wurde. https://www.persoenlich.com/medien/branchenvereinbarung-soll-wildwuchs-eindammen

Die Medienfreiheit auf dem Prüfstand

Die  Journalistin Jana Avanzini wurde zuerst für kriminell erklärt, obwohl sie nur ihren Job machte. Dann brachte sie einen Staatsanwalt zum Nachdenken. Mit ungewissem Ausgang.

Darüber ist kein Gras gewachsen. Nein, es sind Dornen. Dichte Brombeertriebe breiten sich über die Wiese im parkartigen Garten hinter dem Metallzaun aus. «Vor drei Jahren hatte es hier noch keine einzige Brombeerstaude», sagt Jana Avanzini und schaut hinüber zur Villa des Industriellen Jørgen Bodum an der Obergrundstrasse 99 in Luzern. «Da waren Garten und Haus noch nicht verlottert». Heute flattern Plastikblachen auf dem Dach, blättert der Verputz von den Aussenmauern, und die Fenster des ehemals herrschaftlichen Hauses wurden mit Holzbrettern verbarrikadiert.

Vor dieser Villa begann vor rund drei Jahren, was die sorgsam gekleidete Frau mit Oberarmtatoo und silbrigem Septum bald vor ein Gericht bringen wird – zum ersten Mal in ihrem Leben. Polizei und Staatsanwälten ist sie bereits begegnet in den letzten Monaten. Und das hat Spuren hinterlassen. Die 31-jährige Kultur- und Gesellschaftsjournalistin kam ins Grübeln über Staat, Strafbefehle und die Rolle der Medien. Und über die erstaunliche Wirkung, die Mutterschaft in öden Einvernahmeräumen auslösen kann.

23. November 2015: Avanzini publiziert im Onlinemagazin Zentralplus einen Text über drei Villen an der Obergrundstrasse in Luzern. Sie fragt sich, weshalb die prächtigen alten Häuser leer stehen. „Lassen Sie esunsere Sache sein“, zitiert sie die Bodum Invest AG, die zwei der drei Häuser besitzt. Und die Stadtluzerner Baudirektorin erklärt: „Wir sind mit den Grundeigentümern im Gespräch.“ Die Villen unterstehen Auflagen des Ortsbildsschutzes. Ein Abbruch ist nur zulässig, „wenn eine Sanierung aus statischen Gründen nicht möglich oder aus wirtschaftlichen Gründen unverhältnismässig wäre.“ (Art. 17 Abs. 2 BZR). Avanzini schliesst ihren Text mit der Hoffnung, dass die Besitzer die Villen nicht absichtlich verlottern lassen, um später einen Abbruch aufgrund „unverhältnismässiger Sanierungen“ zu begründen.

9. April 2016: Die Gruppe „Gundula“ besetzt die Bodum-Villa an der Obergrundstrasse 99. Sie wolle „Freiräume ohne Konsumzwang“ schaffen, „die allen Menschen unabhängig von Geschlecht, Einkommen und Herkunft offenstehen“. Das Haus wird zum Politikum und zum Treffpunkt. Hunderte von Personen gehen ein und aus.

20. April 2016: Das besetzte Grundstück steht kurz vor der Räumung. Zentralplus schickt Avanzini vor Ort und publiziert die Reportage „Ein Besuch in der Besetzung ‚Gundula’ – Auf ein Bier mit Besetzern und Alt-68ern.“ Darin schildert die Journalistin das Leben im besetzten Haus, den baulichen Zustand und eine „Notfallsitzung“ vor der Räumung. Am selben Tag reicht Bodums Rechtsanwalt eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs gegen Unbekannt ein. Sie richtet sich gegen Alle, die seit dem 13. April 2016 die Villa und den Park betreten haben. Avanzinis Reportage belegt: Auch sie war auf dem Grundstück. Damit beginnt ein juristisches Seilziehen, das bis heute dauert – und weiter andauern wird.

16. August 2016: Einvernahme auf dem Polizeiposten am Hirschengraben in Luzern. Ein sehr zweckmässiger Raum: ein Tisch mit Computer, ein paar Stühle. Avanzini sitzt mit dem Rücken zum Fenster, hinter ihr ihre Anwältin und Bodums Anwalt, vor ihr der Polizist am Computer. Auf Anraten ihrer Anwältin verweigert sie die Aussage. „Ein komisches Gefühl, denn das Schweigen fühlt sich an, als wäre man schuldig.“ Sie findet das ganze Strafverfahren schräg, kann es nicht richtig ernstnehmen. Sie hat ja nur ihren Job gemacht, war als Journalistin vor Ort, um herauszufinden, was genau dort passiert und wie es um die Bausubstanz tatsächlich steht. Was der Hauptstreitpunkt ist: Baufällig heisst abbruchfähig, Ortsbildschutz hin oder her. Sie muss sich als Journalistin dazu eine eigene Meinung vor Ort bilden. Während der Einvernahme realisiert sie, dass sie jetzt „in dem Ding drin ist“.

Damals weiss Avanzini noch nicht, dass sich in ihrem Bauch gerade Zellen teilen, ein Neuralrohr entsteht, ein Mutterkuchen die Versorgung eines neuen Wesens übernimmt. Sie ist schwanger. Das bestimmt die nächsten Wochen und Monate. Mehr als das Geschehen im Verhörzimmer.

  1. April 2017: Ein Fax der Anwältin liegt auf ihrem Büropult.

„Strafbefehl.

Avanzini Jana, Ruth,

Sie haben sich schuldig gemacht des Hausfriedensbruchs. Dem von Ihnen verfassten und am 21. 04. 2016, 19.54, auf der Webseite von Zentralplus publizierten Bericht ist zu entnehmen, dass Sie sich im Zeitraum vom 20.4.2016 bis 21.04.2016, 19.54 Uhr, auf der Liegenschaft Obergrundstrasse 99 in Luzern aufgehalten haben, obschon Sie gewusst haben, dass diese Liegenschaft zum verfahrensgegenständlichen Zeitpunkt illegal besetzt und das Betreten der Liegenschaft untersagt war.“ (Strafbefehl SA1 1672 1812 vom 21.4.2017). …

Zwei Seiten Beamtensprache. Trocken, schnörkellos und kaum begründet. Avanzini wird zu einer bedingten Geldstrafe von 5 Tagessätzen zu 90 Franken und einer Busse von 100 Franken verurteilt.

Da sitzt ihr plötzlich etwas auf der Brust. Für den Staat ist sie jetzt eine Kriminelle. Und im Hinterkopf der dauernde Gedanke: Sie kostet die Redaktion viel Geld, auch das Honorar der eigenen Anwältin muss bezahlt werden. Die Frage beginnt zu bohren: Tickt unsere Gesellschaft so? Darf eine Journalistin nicht mehr ihren Job machen? Ein Crowdfunding der Redaktion erlaubt es, gegen den Strafbefehl Einsprache zu erheben. Das geschieht in der Schweiz selten. Viele Betroffene akzeptieren Strafbefehle, weil eine Einsprache Zeit und Geld kostet. Hätte Zentralplus die Anwältin nicht bezahlt, hätte auch Avanzini akzeptiert, eine verurteilt zu sein. Denn die 10 Tage Beschwerdefrist sind auch die letzten zehn Tage ihrer Schwangerschaft. Und damit keine Zeit des Kämpfens.

3. Mai 2017. Jana Avanzinis Sohn kommt zur Welt.

26. Juni 2017. „Sie müssen ihr Handy draussen lassen“, sagt der Staatsanwalt zu Beginn der Einvernahme. Jana Avanzini entgegnet: „Mein Partner muss mich erreichen können, wenn unser Kind gestillt werden will“. Und plötzlich dreht die Stimmung im Zimmer. Von nun an fühlt sich Avanzini als Mensch wahrgenommen. Selbst der Anwalt von Bodum erkundigt sich: „Ah ja, wie alt ist es denn?“ Und jetzt erlaubt ihr die Anwältin zu reden. Avanzini erklärt, dass sie gemeint habe, als Journalistin Park und Villa betreten zu dürfen. Sie habe das Haus ja nicht besetzen, sondern sich nur vor Ort ein Bild der Verhältnisse machen wollen. Zudem habe sie die Information gehabt, dass die Besetzung weitere drei Tage geduldet werde.

11. Juni 2018. Wieder liegt ein Fax der Anwältin auf dem Pult am Arbeitsplatz. Den Entscheid hat derselbe Staatsanwalt gefällt, der sie mit Strafbefehl bestrafen wollte. Mit dem Leuchtstift liest ihn die Journalistin, streicht mehr als 20 Sätze stabilo-gelb an: Da! Genau. So! Ja! Genau so muss es in einer Gesellschaft sein, in der sie leben will. Sie konnte es all den Juristen erklären. „Endlich verstehen sie.“

„Einstellungsverfügung.

Die Strafuntersuchung gegen Jana Ruth Avanzini wegen Hausfriedensbruchs wird in Anwendung von Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO eingestellt. (…) Jana Avanzini betrat das seit längerem leerstehende und nun besetzte Gebäude in ihrer Funktion als Journalistin, in der Absicht – solange dies noch möglich war – über die Besetzung, die Stimmung die Zustände im Haus Informationen zu sammeln und das Haus sogleich wieder zu verlassen; dies im Glauben, dass die Besetzung noch bis Samstag (23.4.2016) geduldet werde. Dies ist mit der Annahme einer vorsätzlichen Tatbegehung nach Art. 186 StGB nicht zu vereinbaren.“

Und damit nicht genug. Der Staatsanwalt wird grundsätzlich: „Die Presse hat eindeutig die Pflicht, über Themen von allgemeinem Interesse zu informieren. (…) Die Berichterstattung lag zweifelsohne im öffentlichen Interesse und war durch die Medien- und Pressefreiheit grundrechtlich geschützt, womit diese letztlich auch unter dem Aspekt der Wahrung berechtigter Interessen nicht als unrechtmässige Handlung klassifiziert werden sollte.“

Avanzinis Einsprache hat den Staatsanwalt also zum Nachdenken gebracht. Solche Einstellungsverfügungen sind von immenser Bedeutung. Doch man erfährt von ihnen nur durch Zufall. Erst dann nämlich, wenn – wie im konkreten Fall – Betroffene sie öffentlich machen oder sie angefochten werden. Einstellungsverfügungen sind so wichtig wie Strafbefehle, denn sie zeigen, wo und warum die Strafverfolger keine Straftat erkennen. Betrifft dies etwa einen Justizdirektor, der im Verdacht stand, eine Urkundenfälschung begangen zu haben? Dann wirft eine Einstellung wichtige Fragen auf: Hat der Staatsanwalt den Prominenten begünstigt? Oder hat er korrekt ermittelt?

Was in Einstellungsverfügungen steht, ist also eminent wichtig. Und trotzdem erfährt kaum jemand von Einstellungsverfügungen, denn sie werden nicht vor Ort aufgelegt, geschweige denn in einem Verzeichnis aufgeführt. Deshalb fordern Rechtswissenschafter:  Einstellungsverfügungen müssen in einem öffentlichen Register aufgelistet werden. Erst dann seien auch sie korrekt verkündigt, wie die Bundesverfassung es verlangt.

Genau hinschauen, was die Strafverfolger machen, gebietet sich auch aus einem weiteren Grund: In Luzern etwa wurden 2017 nur rund 11 Prozent aller Strafuntersuchungen eingestellt. Bei den Staatsanwaltschaften Zürich Limmat und Zürich Sihl waren es rund 50 Prozent. Glücklich, wer in Zürich beschuldigt wird?

21. Juni 2018. Bodums Anwalt reicht Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung ein.  Avanzini fragt sich: Warum nimmt dieser Mann so viel Geld in die Hand? Seine Klientin gebe während laufendem Verfahren keine Auskunft, lässt Bodums Anwalt ausrichten. Avanzini hat zwar keine Angst, dass die Beschwerde gutgeheissen wird, fürchtet aber, dass sie sich bei einer Gerichtsverhandlung nicht mehr an alle Details erinnern kann. Zu viel anderes und wichtigeres ist in ihrem Leben passiert seit jenem ersten Blick auf die Bodum-Villa an der Obergrundstrasse 99, die hinter Brombeerranken weiter zerfällt. Offenbar steht sie kurz vor dem Abbruch. Die Stadt Luzern verhandelt mit Bodum seit Monaten über einen Ersatzbau.

(Fall-Nr: SA1 1672 1812 vom 21.4.2017 und 11.6.2018)

Dieser Text wurde erstmals am 3. Oktober 2018 in der Online-Zeitschrift Republik publiziert.

Nachträge:
Seit dieser Einstellungsverfügung ist einiges passiert:
Das Luzerner Kantonsgerichts hat am 18. Dezember 2018 entschieden, dass ein Gericht über den Fall zu urteilen habe.  Und das Bezirksgericht Luzern hat Jana Avanzini nach öffentlicher Verhandlung am 26. Juni 2019 zu einer Busse von 500 Franken verurteilt. Meinen Kommentar zu diesem Urteil finden Sie ebenfalls bei der Republik. Jana Avanzini hat das Urteil angefochten. Damit wird das Luzerner Kantonsgericht den Fall (erneut) behandeln.

Interessenbindungen des Autors:

Dominique Strebel ist Medienrechts-Dozent (und Studienleiter) an der Schweizer Journalistenschule MAZ, Mitgründer des Schweizer Recherchenetzwerkes investigativ.ch und hat das Crowdfunding von Jana Avanzini unterstützt.