Steuergeheimnis gelockert: Strafbefehle der Steuerverwaltung einsehbar

Die eidgenössische Steuerverwaltung ESTV legt ihre Strafbefehle ab November 2020 zur Einsicht auf, allerdings nur anonymisiert. Trotzdem ist dies ein Sieg des Journalisten Mischa Aebi, der dieses Recht vor Bundesverwaltungsgericht erstritten hat.

Wer vorsätzlich oder fahrlässig falsche Angaben macht, wenn er die Mehrwertsteuer abrechnet, kann von der eidgenössischen Steuerverwaltung ESTV mit einer Busse bis 400’000 Franken bestraft werden (Steuerhinterziehung – Art. 96 MwStG). Eine Busse droht etwa auch, wer sich nicht korrekt bei den Steuerbehörden anmeldet, obwohl er steuerpflichtig ist (Art. 98 Abs. 1 Bst. a MwStG). Das sind nur zwei Strafbestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes. Und im Verrechnungssteuergesetz gibt es analoge Strafbestimmungen (Art. 61 VStG).

Gebot der Justizöffentlichkeit auch im Steuerbereich anwendbar

Alle diese Strafbestimmungen führen zu Strafbefehlen und Strafverfügungen, die die ESTV ausfällt. Weil es sich dabei um Entscheide des Verwaltungsstrafrechts handelt, fallen sie unter das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) und müssen somit öffentlich verkündet werden. Das Steuergeheimnis hat gemäss Bundesverwaltungsgericht zwar einen hohen Stellenwert, steht aber der Gerichtsöffentlichkeit gemäss Art. 30 Abs. 3 BV nicht grundsätzlich entgegen (Erw. 4.7, 4.8). Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Leitentscheid nun erstmals festgehalten (Urteil A-1878/2018 vom 27. Mai 2020).

Zugang nur zu anonymisierten, rechtskräftigen Entscheiden

Weil das Steuergeheimnis aber einen hohen Stellenwert hat, bejaht das Gericht einen Anspruch auf Zugang nur zu anonymisierten Strafbefehlen der ESTV. Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der Betroffenen sollen im Gegenzug nicht immer geschwärzt werden (Erw. 4.9). Nicht-anonymisierte Entscheide sind aber nur dann einsehbar, wenn das öffentliche Interesse an Transparenz den Schutz der finanziellen Privatsphäre überwiegt.

Damit ist der Zugang anders geregelt als bei Strafbefehlen der Staatsanwaltschaften oder von anderen Verwaltungsbehörden: Da besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Einsicht in nicht-anonymisierte Entscheide (vgl. Leitentscheid 124 IV 234).

Ab November 2020 vor Ort bei der ESTV einsehbar

Bereits im Laufe des Verfahrens hat die ESTV angekündigt, dass sie in Zukunft laufend ihre Entscheide anonymisiert während 30 Tagen ab Rechtskraft zur Einsicht auflegen wird, ohne dafür Kosten in Rechnung zu stellen. Gemäss Mediensprecher Joel Weibel soll dies ab November 2020 der Fall sein: An einem der Standorte der ESTV können alle Interessierten auf Voranmeldung die anonymisierten, rechtskräftigen Entscheide an einem PC kostenlos durchscrollen. Auf Verlangen werden auch kostenlose Kopien abgegeben.

Ob allenfalls auch ein Newsletter abonniert werden kann, der periodisch eine Übersicht über die neuesten Entscheide aufführt (analog zur Lösung von Swissmedic), ist gemäss Mediensprecher Weibel noch nicht entschieden.

 

Goldgrube für Rechercheure: Strafverfügungen der Verwaltung

Nicht nur Gerichte, nicht nur Staatsanwälte, sondern auch ganz simple Rechtsdienste der Verwaltungen sprechen Strafen aus. Und diese Entscheide müssen öffentlich zugänglich sein. So geht Swissmedic gegen Personen vor, die illegal Medikamente einführen; das Bakom straft Medien, die Schleichwerbung schalten; das BAZL schreitet ein, wenn ein Flugzeug den Walensee zu tief überfliegt; die Oberzolldirektion straft Leute, die illegal Papageien einführen…

Diese Entscheide sind gerade für Journalistinnen und Journalisten spannend, denn dahinter stecken interessante Geschichten. Und das besondere: Diese Entscheide sind wie Urteile und Strafbefehle öffentlich zugänglich, weil das Bundesgericht das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) auch auf solche Strafverfügungen ausgedehnt hat. Das geschah vor 20 Jahren. Doch bisher hats kaum jemand gemerkt, geschweige denn benutzt.

Ich habe einen Musterbrief für ein Einsichtsgesuch erstellt. Damit solche Einsichtnahmen einfacher sind und die Tätigkeit dieser Behörden des Verwaltungsstrafrecht besser kontrolliert wird.

Meldet mir Probleme, aber auch Erfolge mit dem Musterbrief. Auf spannende Geschichten!

18_06_04_musterbrief_einsicht_verwaltungsstrafrechtliche_entscheide

P.S. Tipp für engagierte RechercheurInnen: Wer diese Dokumente systematisch bewirtschaften will, sollte einfach mal die Systematische Rechtssammlung durchkämmen nach interessanten Gesetzen, das Gesetz anklicken und zum Ende scrollen: Da stehen allfällige Sanktionen, die ausgesprochen werden können. Dann rausfinden, welches Amt diese Sanktionen aussprechen darf und Einsicht verlangen. Eine wahre Goldader. Sicher. Beispiel gefällig: Das Bundesgesetz über die Sperrung und die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte ausländischer politisch exponierter Personen. Gemäss Art. 25-27 können hohe Bussen verhängt werden. Ist das schon mal passiert? Gegen wen….?

Steuerabzüge wuchern ausser Kontrolle

99 Steuerabzüge machen das Schweizer Steuersystem zum undurchsichtigen Dickicht, das den Reichen und den Schlauen dient. Mit Steuergerechtigkeit hat das nichts mehr zu tun.

50’000 Franken mehr Lohn kassieren und trotzdem nicht mehr Steuern zahlen – das geht ganz legal. Man muss nur Chef sein und einer Kaderversicherung angehören. Beiträge an diese Altersvorsorge der Luxusklasse tauchen gar nicht erst in der Steuererklärung auf. Das Geld verschwindet in einem Steuerschlupfloch.

99 Stück davon hat die Eidgenössische Steuerverwaltung in einer Studie letztes Jahr geortet. Erstmals hat sie die Steuerabzüge systematisch erhoben und darüber gestaunt, dass dem Bund so 21 Milliarden Franken Einnahmen entgehen. Jetzt haben die Steuerbeamten des Bundes die Liste aktualisiert und stellen sie erstmals ins ­Internet. Die Zahl der Abzüge ist geblieben, die Gesamtsumme um 200 Millionen Franken gestiegen.

Die Bilanz des durchlöcherten Steuersystems fällt vernichtend aus: Die Steuergerechtigkeit bleibt auf der Strecke, die Schlauen werden belohnt, und der Staat hat die Kontrolle über die Finanzen verloren, weil er nur noch knapp abschätzen kann, wie viel Steuern ihm pro Abzug entgehen – auch das sagt die Studie der Eidgenössischen Steuerverwaltung.

Experten wie der Freiburger Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger, die Sankt Galler Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler und der ehemalige Preisüberwacher und SP-Nationalrat Rudolf Strahm kritisieren das System bereits seit Jahren. «Nur noch ein paar Bundesbeamte zahlen den Maximalsteuersatz», meint Strahm. «Alle anderen nutzen die Schlupf­löcher so gut wie möglich für sich aus. Je mehr Ausnahmen, desto unfairer; 
je weniger Abzugsmöglichkeiten, desto ­gerechter.»

Eichenberger ortet das Problem im Klientelsystem der Politik – jeder schaut für die Steuerabzüge seiner Wähler, niemand betrachtet die Auswirkungen der einzelnen Abzüge im Ganzen. «Gewinner sind meist die Schlaumeier. Das nervt», bringt es Monika Bütler auf den Punkt. Alle drei fordern eine drastische Reduktion der Steuerabzüge, einen Rechnungshof, der unabhängig von der Politik Stellung zu Finanz- und Steuervorlagen nehmen könnte, und eine Expertenkommission, die das aktuelle Steuersystem schonungslos durchleuchtet – nach dem Vorbild Englands.

Welche Politikerin, welcher Politiker packt das heisse Eisen an?

Mehr dazu im Beobachter.