In zweiter Instanz verurteilt das Kantonsgericht Luzern eine Journalistin wegen Hausfriedensbruchs. Der Entscheid hat weitreichende Folgen für den Journalismus.
Am 20. April 2016 betrat die Journalistin Jana Avanzini das besetzte Grundstück einer Villa in Luzern, das dem Industriellen Jørgen Bodum gehört. Die Journalistin wollte sich vor Ort ein Bild über die Besetzung und den Zustand des Gebäudes machen. Dieser Zustand war entscheidend für die Frage, ob das Haus, das unter Ortsbildschutz steht, abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden darf, wie Bodum es plante. Das Onlinemagazin «Zentralplus» schickte Avanzini deshalb zum Augenschein und publizierte am nächsten Tag einen Artikel.
Für diese Recherche vor Ort wird Avanzini vom Kantonsgericht Luzern in zweiter Instanz wegen Hausfriedensbruchs zu 500 Franken Busse verurteilt. Nun liegt die schriftliche Begründung vor: Die Journalistin kann sich gemäss den drei Luzerner Richtern nicht damit rechtfertigen, dass sie die berechtigten Interessen der Öffentlichkeit an Information wahrgenommen habe. Dieser aussergesetzliche Rechtfertigungsgrund sei gemäss Bundesgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte nur zu berücksichtigen, wenn die Straftat das einzige Mittel ist, um Informationen «von wirklich erstrangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit zu erlangen. Und solche Informationen habe Avanzini weder publiziert noch mit ihrer Recherche zu beschaffen beabsichtigt. Ihr Artikel ist in den Augen der Kantonsrichter ein reiner Erlebnisbericht. Die Journalistin habe bei ihrer Recherche vor Ort auch nicht erwarten können, wesentliche Neuigkeiten oder Missstände von erstrangiger Bedeutung festzustellen – etwa Giftstoffe wie Asbest oder Mängel in der Statik –, weil ihr dafür die nötige Fachkenntnis gefehlt habe.
Verbotsirrtum der Journalistin
Trotzdem hat das Gericht Verständnis für die Journalistin. Es setzt das Strafmass sehr tief an, weil es ihr einen Verbotsirrtum zubilligt. Die Luzerner Richter nehmen Avanzini ab, dass sie glaubte, als Journalistin das Grundstück betreten zu dürfen. Aber Avanzini hätte sich laut Kantonsgericht bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft über die Rechtslage erkundigen müssen. Darum sei der Irrtum vermeidbar gewesen. Und deshalb sieht das Gericht nicht von einer Strafe ab, sondern reduziert sie bloss. Jana Avanzini lässt noch offen, ob sie das Urteil ans Bundesgericht weiterziehen wird. Dafür hat sie 30 Tage Zeit.
Hohe Hürde für Recherchen auf besetzten Grundstücken
Das Urteil des Luzerner Kantonsgerichts ist sorgfältig begründet und setzt sich – im Unterschied zum Urteil der ersten Instanz – auch mit einem wichtigen einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auseinander. Die Luzerner Richter erkennen teilweise auch, dass es nicht darum geht, publizierte journalistische Berichte zu beurteilen, sondern die Ziele einer Recherche. Denn gute Journalistinnen recherchieren ergebnisoffen. Sie wissen nicht im Vornherein, was sie bei einer Recherche, etwa bei einem Augenschein, herausfinden werden. Deshalb müssen sie unter Umständen Delikte begehen, bevor sie wissen, dass sie Missstände aufdecken und somit gerechtfertigt handeln. Und da stellt das Luzerner Kantonsgericht in seinem Urteil hohe Anforderungen. Recherchen auch auf einem Grundstück werden in Zukunft wohl möglich bleiben, falls die Umstände zumindest erahnen lassen, dass man vor Ort Missstände antreffen wird und der Journalist diese auch erkennen kann.
Was soll man Journalistinnen in Zukunft raten?
Sie müssen bei einer Recherche, die eine Straftat in Kauf nimmt, noch sorgfältiger abwägen, ob sie mit einer allfälligen Straftat Informationen «von wirklich erstrangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit erlangen können. Zudem sollten Journalisten vor Ort Beweise sichern – in Form von Fotos oder Bodenproben beispielsweise –, die es nötigenfalls später Fachleuten erlauben, allfällige Missstände zu erkennen. Falls sie unter Einsatz strafbarer Handlungen keine Missstände von hohem öffentlichem Interesse finden, sollten Journalistinnen nichts publizieren. Denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Untauglich ist die Forderung der Luzerner Richter, dass ein Journalist bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft nachfragt, ob ein Augenschein auf einem Grundstück legal ist. Die staatlichen Behörden werden immer abraten. Zudem gibt es in dieser Frage grosse Ermessensspielräume, die nicht die Behörden, sondern die Redaktionen selbst – in Absprache mit einer Medienanwältin – beurteilen sollten.
Was heisst das Urteil für die Gesellschaft?
In der öffentlichen Diskussion über besetzte Grundstücke werden Informationen fehlen, die Journalisten aus unabhängiger Warte recherchiert haben. Die Öffentlichkeit wird nur noch die Behauptungen von Besetzerinnen, Grundeigentümern und Behörden erfahren. Das Urteil hat nämlich einen chilling effect, der viele Journalistinnen davon abhalten wird, sich selbst vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Denn obwohl Jana Avanzini nur zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde, wird dies im Strafregister eingetragen – fatal für Bewerbungen und Wohnungssuche in den nächsten siebeneinhalb Jahren. Erst dann wird die Strafe aus dem Privatauszug gelöscht.
Urteil 4M 1987 des Kantonsgerichts Luzern vom 25. März 2020, nicht rechtskräftig.
(Dieser Text wurde am 29. September 2020 erstmals veröffentlicht auf http://www.republik.ch)