Das Bundesgericht verlangt die Freilassung eines Verwahrten. Das ist ein Weckruf – auch für IV-Stellen und Migrationsämter.
Vor sieben Jahren wurde ein Mann verwahrt – wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand. Ihm drohte lebenslange Haft, obwohl ein psychiatrisches Gutachten zum Schluss kam, dass der alkoholsüchtige Mann kaum schwere Delikte begehen würde. Die Verwahrung war nur möglich, weil die Zürcher Justizbehörden das Gutachten in «unzulässiger Weise uminterpretiert» haben. So das Urteil des Bundesgerichts von Mitte November, das die Behörden anwies, den Mann freizulassen.
Damit stemmen sich die höchsten Schweizer Richter gegen Volkes Stimme, die nach dem Mord an Pasquale Brumann 1993 aus Angst vor Gewalttaten immer lauter verlangt, Menschen im Zweifel wegzusperren. Justizbehörden, kantonale Gerichte und Fachkommissionen geben diesem Druck immer stärker nach. Heute wird im Zweifel verwahrt. Und wer verwahrt ist, soll nie mehr rauskommen. Zu diesem Zweck schrecken Behörden offenbar nicht einmal davor zurück, Gutachten in «unzulässiger Weise umzuinterpretieren».
Der Entscheid des Bundesgerichts war ein dringend nötiger Weckruf für die Justizbehörden, nicht aus Angst vor medialem oder politischem Druck in Willkür zu verfallen. Damit nimmt das Gericht seine zentrale Rolle wahr: jene des Gegengewichts gegen Vor-Urteile, das umso nötiger ist, je emotionaler ein Thema diskutiert wird.
In jeder Zeit gibt es Fragen, an denen sich die öffentliche Meinung heftig entzündet. Bis Anfang der 1980er Jahre waren das zum Beispiel Sexual- und Arbeitsmoral. Menschen wurden auf unbestimmte Zeit weggesperrt, bloss weil sie als «liederlich» oder «arbeitsscheu» galten. Laien fällten diese Entscheide über Mütter mit unehelichen Kindern oder Jugendliche, die nicht Bäcker, sondern Matrosen werden wollten. Kein Gericht konnte diese Laienbeschlüsse überprüfen. Seit 1981 ist das anders. Es kommt niemand mehr in den Knast, bloss weil er gegen Sexual- oder Arbeitsmoral verstossen hat. Und alle Freiheitsentzüge werden von Gerichten überprüft. Die Schweiz hat etwas gelernt.
Es war nicht der erste Lernschritt. So hat man im Laufe der Jahrhunderte herausgefunden, dass es beim Richten am wenigsten Fehler gibt, wenn gewisse grundsätzliche Regeln eingehalten werden. Erste Regel: Nur der Staat darf strafen. Die Lynchjustiz macht Fehler, weil Menschen mit einem Stein in der Hand zu oft den Falschen treffen. Zweite Regel: Jeder starke Eingriff in persönliche Rechte muss von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Denn Ämter, die direkt mit Betroffenen zu tun haben, sind zu befangen. Dritte Regel: Es gibt Grundrechte, die man keinem Menschen nehmen darf, weil sie ihm als Mensch zustehen. Vierte Regel: Die absolute Wahrheit kennt keiner. Nur faire Verfahren bringen uns der Wahrheit näher. So hat zum Beispiel jeder Angeklagte ein Recht auf einen Anwalt und kann Gutachten beantragen, die Behörden und Richter nicht «in unzulässiger Weise uminterpretieren» dürfen.
Beim jüngsten Bundesgerichtsentscheid geht es also nicht bloss um die Freiheit eines Alkoholkranken, auch nicht nur um den Umgang mit Verwahrten. Nein, die höchsten Richter erinnern grundsätzlich daran, die rechtsstaatlichen Grundregeln anzuwenden, auch oder gerade wenn der öffentliche Druck gross ist.
Dieser Weckruf sollte auch von IV-Stellen, Sozial- und Migrationsämtern gehört werden. IV- und Sozialhilfeempfänger stehen unter dem Generalverdacht des Sozialmissbrauchs, Asylbewerber und Ausländer gelten vielen als schmarotzende Wirtschaftsflüchtlinge oder Profiteure. Allzu schnell geraten auch hier die vier goldenen Regeln von nachhaltigen und gerechten Entscheiden unter die Räder. So mussten die Bundesrichter Ende Juni bei der IV einschreiten. Die Gutachter seien von den IV-Stellen zu stark abhängig, rügten sie. So sei ein faires Verfahren nicht garantiert.
Wenig Schutz gegen den Druck der öffentlichen Meinung gibt es in der Schweiz hingegen für Ausländer ohne Identitätspapiere, sogenannte Sans-Papiers. Ihnen hat das Parlament ein grundsätzliches Recht genommen, das jedem Menschen zusteht: die Ehefreiheit. Seit Anfang Jahr dürfen Sans-Papiers – und allenfalls in sie verliebte Schweizer – nicht mehr heiraten. Diesen Entscheid kann in der Schweiz das Bundesgericht nur wegen eines Kunstgriffs korrigieren. Es gewichtet die EMRK als Staatsvertrag höher als die Verfassung und überprüft die Gesetze des Bundesparlaments auf EMRK-konformität, obwohl es an die Verfassung gebunden ist. Mit der Debatte um die Heiratsverbot könnte diese Verfassungsgerichtsbarkeit light zum Politikum werden.
Bezüglich des letzten Paragraphens (Ehefreiheit der Sans-Papiers) ist Urteil GE.2011.0082 des Tribunal Administratif des Kantons Waadt interessant:
http://tinyurl.com/cpk9kjn
Darin hat das Verwaltungsgericht beschlossen, einen Entscheid des Standesamts Lausanne aufzuheben, in dem einem Sans-Papier die Eheschliessung verwehrt wurde, und das Standesamt wurde angewiesen, das Eheverfahren an die Hand zu nehmen. Begründet wurde dies aufgrund der Inkompatibilität von Art. 98 Abs. 4 ZGB mit der EMRK.
Natürlich ist ein Verfassungsgericht und die Möglichkeit, auf BV-Kompatibilität zu prüfen, trotzdem notwendig. Es wird interessant sein zu sehen, ob der Kanton dieses Verfahren an das Bundesgericht weiterzieht.
Also ich wage zu interpretieren, dass des „Volkes Stimme“ keinesfalls für die Zwangsverwahrung von Alkoholikern oder anderen Süchtigen gestimmt hat. Obwohl, Angesichts des Ernsthaftigkeit des Themas, mag man diesen kleinen polemischen Seitenhieb dem Autor verzeihen.
Ich möchte eher behaupten, dass sich hier Behörden auf „bequeme“ Art und Weise, eines „renitenten“ Mitbürgers entledigen wollen. Nicht die Abstimmung über Verwahrung sollte meiner Ansicht nach der Aufhänger sein, sondern das zunehmend gehässige Gebaren von Bürokratie und Verwaltung gegenüber dem Bürger.
Hier stimme ich dem Autor ganz und gar zu: Es darf nicht sein, dass für Asylbewerber, Sozialhilfebezüger und andere Bürger in Not dieselben Massstäbe wie für Kinderschänder und Gewaltäter angewandt werden.
Aber genau bei Verbrechen gegen Kinder oder gegen Leib und Leben sollte meiner Ansicht nach endlich der Grundsatz eingeführt werden: Der Schutz der Allgemeinheit geht vor Resozialisierung (nicht anstatt!) Wer solche Taten begeht, soll sich in einem langwierigen und intensiven Prozess darum bemühen müssen, wieder eine Chance zu erhalten – das im Sinne der Menschlichkeit.