Hohe Hürden für Recherchen auf besetzten Grundstücken

In zweiter Instanz verurteilt das Kantonsgericht Luzern eine Journalistin wegen Hausfriedens­bruchs. Der Entscheid hat weitreichende Folgen für den Journalismus.

Am 20. April 2016 betrat die Journalistin Jana Avanzini das besetzte Grund­stück einer Villa in Luzern, das dem Industriellen Jørgen Bodum gehört. Die Journalistin wollte sich vor Ort ein Bild über die Besetzung und den Zustand des Gebäudes machen. Dieser Zustand war entscheidend für die Frage, ob das Haus, das unter Ortsbild­schutz steht, abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden darf, wie Bodum es plante. Das Online­magazin «Zentral­plus» schickte Avanzini deshalb zum Augen­schein und publizierte am nächsten Tag einen Artikel.

Für diese Recherche vor Ort wird Avanzini vom Kantons­gericht Luzern in zweiter Instanz wegen Haus­friedens­bruchs zu 500 Franken Busse verurteilt. Nun liegt die schriftliche Begründung vor: Die Journalistin kann sich gemäss den drei Luzerner Richtern nicht damit rechtfertigen, dass sie die berechtigten Interessen der Öffentlichkeit an Information wahrgenommen habe. Dieser ausser­gesetzliche Rechtfertigungs­grund sei gemäss Bundes­gericht und Europäischem Gerichts­hof für Menschen­rechte nur zu berücksichtigen, wenn die Straftat das einzige Mittel ist, um Informationen «von wirklich erst­rangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit zu erlangen. Und solche Informationen habe Avanzini weder publiziert noch mit ihrer Recherche zu beschaffen beabsichtigt. Ihr Artikel ist in den Augen der Kantons­richter ein reiner Erlebnis­bericht. Die Journalistin habe bei ihrer Recherche vor Ort auch nicht erwarten können, wesentliche Neuigkeiten oder Missstände von erstrangiger Bedeutung festzustellen – etwa Giftstoffe wie Asbest oder Mängel in der Statik –, weil ihr dafür die nötige Fach­kenntnis gefehlt habe.

Verbotsirrtum der Journalistin

Trotzdem hat das Gericht Verständnis für die Journalistin. Es setzt das Straf­mass sehr tief an, weil es ihr einen Verbots­irrtum zubilligt. Die Luzerner Richter nehmen Avanzini ab, dass sie glaubte, als Journalistin das Grund­stück betreten zu dürfen. Aber Avanzini hätte sich laut Kantons­gericht bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft über die Rechts­lage erkundigen müssen. Darum sei der Irrtum vermeidbar gewesen. Und deshalb sieht das Gericht nicht von einer Strafe ab, sondern reduziert sie bloss. Jana Avanzini lässt noch offen, ob sie das Urteil ans Bundes­gericht weiter­ziehen wird. Dafür hat sie 30 Tage Zeit.

Hohe Hürde für Recherchen auf besetzten Grundstücken

Das Urteil des Luzerner Kantons­gerichts ist sorgfältig begründet und setzt sich – im Unterschied zum Urteil der ersten Instanz – auch mit einem wichtigen einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichts­hofs für Menschen­rechte auseinander. Die Luzerner Richter erkennen teilweise auch, dass es nicht darum geht, publizierte journalistische Berichte zu beurteilen, sondern die Ziele einer Recherche. Denn gute Journalistinnen recherchieren ergebnis­offen. Sie wissen nicht im Vornherein, was sie bei einer Recherche, etwa bei einem Augen­schein, heraus­finden werden. Deshalb müssen sie unter Umständen Delikte begehen, bevor sie wissen, dass sie Missstände aufdecken und somit gerechtfertigt handeln. Und da stellt das Luzerner Kantons­gericht in seinem Urteil hohe Anforderungen. Recherchen auch auf einem Grund­stück werden in Zukunft wohl möglich bleiben, falls die Umstände zumindest erahnen lassen, dass man vor Ort Missstände antreffen wird und der Journalist diese auch erkennen kann.

Was soll man Journalistinnen in Zukunft raten?

Sie müssen bei einer Recherche, die eine Straftat in Kauf nimmt, noch sorgfältiger abwägen, ob sie mit einer allfälligen Straftat Informationen «von wirklich erstrangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit erlangen können. Zudem sollten Journalisten vor Ort Beweise sichern – in Form von Fotos oder Boden­proben beispiels­weise –, die es nötigenfalls später Fach­leuten erlauben, allfällige Missstände zu erkennen. Falls sie unter Einsatz strafbarer Handlungen keine Missstände von hohem öffentlichem Interesse finden, sollten Journalistinnen nichts publizieren. Denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Untauglich ist die Forderung der Luzerner Richter, dass ein Journalist bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft nachfragt, ob ein Augen­schein auf einem Grundstück legal ist. Die staatlichen Behörden werden immer abraten. Zudem gibt es in dieser Frage grosse Ermessens­spielräume, die nicht die Behörden, sondern die Redaktionen selbst – in Absprache mit einer Medien­anwältin – beurteilen sollten.

Was heisst das Urteil für die Gesellschaft?

In der öffentlichen Diskussion über besetzte Grund­stücke werden Informationen fehlen, die Journalisten aus unabhängiger Warte recherchiert haben. Die Öffentlichkeit wird nur noch die Behauptungen von Besetzerinnen, Grund­eigentümern und Behörden erfahren. Das Urteil hat nämlich einen chilling effect, der viele Journalistinnen davon abhalten wird, sich selbst vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Denn obwohl Jana Avanzini nur zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde, wird dies im Straf­register eingetragen – fatal für Bewerbungen und Wohnungs­suche in den nächsten siebeneinhalb Jahren. Erst dann wird die Strafe aus dem Privat­auszug gelöscht.

Urteil 4M 1987 des Kantons­gerichts Luzern vom 25. März 2020, nicht rechtskräftig.

(Dieser Text wurde am 29. September 2020 erstmals veröffentlicht auf http://www.republik.ch)

Wie man bei laufendem Verfahren zu Auskünften kommt

Diese Antwort eines Staatsanwalts ist so verbreitet wie bei Journalisten unbeliebt: „Laufendes Verfahren. Zu Details gibt es keine Auskunft. Amtsgeheimnis“. Oder noch geheimnisvoller: „Ob ein Verfahren läuft, können wir nicht bestätigen. Amtsgeheimnis.“

Diese Antwort ist grundsätzlich korrekt. Staatsanwält/innen sind bei laufenden Strafverfahren ans Amtsgeheimnis gebunden. Das Vorverfahren ist geheim (Art. 73 StPO).

Doch es bleibt Spielraum. Journalist/innen müssen ihn nur mit guten Argumenten nutzen. Zwei der wichtigsten Argumente für Auskunft:

1.Die Schweizerische Konferenz der Informationsbeauftragten der Staatsanwaltschaften SKIS empfiehlt in Ziffer 6.3 ihrer Empfehlungen zur Medienarbeit:

«Sofern die Untersuchung nicht gefährdet wird, kann richtiges Wissen, nicht aber Spekulationen oder Vermutungen, bestätigt und falsche Vermutungen oder Annahmen können dementiert werden, um der Verbreitung von Gerüchten und Falschmeldungen entgegenzutreten. Bei Zweifeln, ob tatsächlich vertieftes Wissen vorliegt, empfiehlt es sich, dieses im Bereich der bestehenden Möglichkeiten weiter zu hinterfragen.»

2. Zudem haben verschiedene Staatsanwaltschaften diese Empfehlung in ihre internen Weisungen übernommen. Das gilt etwa für den Kanton Zürich, deren Oberstaatsanwaltschaft Analoges in den Weisungen für das Vorverfahren WOSTA festgehalten hat. Ein Blick in analoge Weisungen für den jeweiligen Auskunftskanton kann also hilfreich sein.

 

Hausfriedensbruch einmal anders

Ein 70-jähriger Schweizer wird innert zwei Monaten drei Mal wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Es ist immer dasselbe Haus. Es steht in Zürich am Kreuzplatz 11. Wieso er das tut, bleibt ein Rätsel.

Ort: Zürich
Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr: STAZL B-6 STR 2017 10034343 vom 24.10.2017, 10036353 vom 20.11. 2017 und 10040203 vom 21.12.2017
Thema: Strafbefehle wegen mehrfachen Hausfriedensbruchs

In schöner Regelmässigkeit wird Erwin Küng* gegen Monatsende bestraft: Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Immer wegen des gleichen Delikts: Hausfriedensbruch. Der 70-Jährige hat also ein Haus betreten, obwohl er das nicht durfte.

Zuerst verurteilt ihn die Staatsanwaltschaft Zürich/Limmat zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 30 Franken. Dann zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Tagen. Und das dritte Mal nochmals zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Tagen. Offenbar hat er noch öfter ohne Einwilligung ein Haus betreten: Gemäss Strafbefehl weist «der Beschuldigte 8 Vorstrafen wegen Hausfriedensbruch auf». Was hat der Mann für ein Problem?

Wie Justizblog und die Republik kürzlich berichteten, kommt man an die Strafbefehle erst nach einem langen und zähen Hürdenlauf. Dann ist klar: Das Haus, das Küng trotz Verbot immer und immer wieder betritt, steht am Kreuzplatz 11 in Zürich. Es ist ein Züri-WC.

"Der Beschuldigte wurde am 17. Oktober 2017, am 19. Oktober 2017 und am 7. November 2017 in der Toilette der Züri-WC am Kreuzplatz 11 in 
8032 Zürich angetroffen, und es wurde festgestellt, dass der 
Beschuldigte die Nächte vom 16. Oktober 2017 auf den 17. Oktober, vom 18. Oktober auf den 19. Oktober 2017 sowie vom 6. November 2017 auf den 7. November in besagter Toilette verbracht hatte. Der 
Beschuldigte tat dies, obwohl er wusste, dass gegen ihn mit Schreiben vom 30. März 2015 (dem Beschuldigten am 30. März 2015 persönlich 
ausgehändigt) für sämtliche Züri-WC ein gültiges Hausverbot besteht."

Auszug aus dem Strafbefehl B-6/2017/10036353 vom 20. November 2017

Zürich ist – gemäss Rating des Beratungsunternehmens Mercer – die Stadt mit der zweithöchsten Lebensqualität der Welt. Trotzdem übernachtet ein 70-jähriger Schweizer in einem WC und wird deshalb ins Gefängnis gesperrt. Unbedingt. 30 Tage lang.

Erwin Küng ist ein «Obdachloser». Eigentlich wohnt er in einem Haus für betreutes Wohnen des Sozialdepartements der Stadt Zürich. Aber offenbar zieht er die Toilette am Kreuzplatz 11 vor. «Niemand muss in der Stadt Zürich unfreiwillig draussen übernachten», sagt Seraina Ludwig, Mediensprecherin der Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich. «Grundsätzlich liegt es aber in der Entscheidung des Einzelnen, ob er oder sie unsere Angebote in Anspruch nimmt oder nicht.» Weshalb übernachtet Erwin Küng lieber in einem WC als in der städtischen Unterkunft? Weitere Angaben kann Ludwig «aus Gründen des Persönlichkeits- und Datenschutzes» nicht machen.

Pro Jahr spricht das Amt für Umwelt- und Gesundheitsschutz, das für die Züri-WC zuständig ist, ein bis zwei Hausverbote für städtische Toiletten aus. Die häufigsten Gründe: «Regelmässige Belästigungen von Kunden, Kundinnen oder Mitarbeitenden oder regelmässige, vorsätzliche Sachbeschädigungen», erklärt Mediensprecherin Bärbel Zierl. Was ist der Grund im Fall Erwin Küng? Wieso reicht Züri-WC gegen einen 70-jährigen Obdachlosen Strafanzeige ein? Auch Zierl kann aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine konkreten Angaben machen.

Was nützen 30 Tage Knast bei einem 70-jährigen Obdachlosen, der eine Toilette einem Haus für betreutes Wohnen vorzieht? Eine Strafe soll die Leute abschrecken, eine Straftat überhaupt zu begehen. Und sie soll einen Täter davon abhalten, erneut straffällig zu werden. Beides lässt sich bei Erwin Küng wohl nicht erreichen. Wieso wird er trotzdem bestraft? Warum etwa nimmt sich kein Sozialarbeiter der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) seiner an? Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich «nimmt keine Stellung zur Strafart und zur Strafzumessung in Einzelfällen», erklärt Christian Philipp, stellvertretender Leiter der Kommunikation.

Da zeigt sich ein Grundproblem des Schweizer Strafrechts: Urteilen Richter, müssen sie ihr Verdikt im Detail erklären. Urteilen hingegen Staatsanwälte – und das tun sie unterdessen in sagenhaften 98 Prozent aller Strafverfahren –, müssen sie ihre Strafbefehle nicht begründen. So erfährt die Öffentlichkeit nicht, weshalb genau Erwin Küng ein «Hausverbot» in Züri-WC hat und wer da genau wovor geschützt werden muss. Die unbedingte Freiheitsstrafe von 30 Tagen leitet die Staatsanwaltschaft rein formaljuristisch her:

"Aufgrund des Verschuldens von Erwin Küng, seines Vorlebens und 
seiner persönlichen Verhältnisse (der Beschuldigte weist 8 Vorstrafen wegen Hausfriedensbruch auf) sind die Voraussetzungen für eine 
bedingte Strafe nicht gegeben. Vielmehr ist davon auszugehen, Erwin 
Küng sei nicht bereit, sich rechtskonform zu verhalten. Eine 
Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit als Sanktionen kommen nicht 
infrage, da diese nicht vollzogen werden können, weil Erwin Küng 
weder über ein ausreichendes Einkommen noch über einen festen 
Wohnsitz in der Schweiz verfügt."

Auszug aus dem Strafbefehl B-6/2017/10036353 vom 20. November 2017

8. April 2018, 17.45 Uhr, Züri-WC am Kreuzplatz 11. «Platz» trifft es eigentlich nicht, es ist eher eine kleine Rettungsinsel im Verkehrsfluss, der sich von Zürich-Forch und Witikon in die City wälzt. Die Nummer 11 ist ein alter Sandsteinbau mit Schieferdach. Vier Säulen und eine ausgemalte Rundkuppel zeugen von altem Glanz. Unter der Rundkuppel duckt sich ein Kiosk, mit Graffiti versprayt. Und drei Züri-WC. Zwei davon sind gratis, in Vollchromstahl und hyperfunktional. Ein Trichter dient als Klosett und Lavabo in einem. Die WC-Brille schwenkt nach oben, wenn man sein Geschäft erledigt hat. Wer hier übernachten will, muss sich mit einer Grundfläche von einem Quadratmeter begnügen. Und einer Matratze aus Stahlgitter. Für den Eintritt ins dritte WC muss man einen Franken einwerfen, dafür hat es Heizung, ein separates Lavabo, eine fest montierte Klobrille und eine Grundfläche von vier Quadratmetern. An der Wand ein Schild:

"INFORMATION

Benützungszeit 15 Min.
Mit Eurokey 30 Min.
Achtung!
Tür öffnet 3 Minuten nach Aufleuchten der Warnlampe automatisch.
SOS-Taste nur im Notfall drücken."

An einem Ort, wo niemand lange bleiben will, wo Klobrillen in die Höhe schwenken, um nicht viel Platz einzunehmen, und Türen sich nach einer Viertelstunde automatisch öffnen, will der 70-jährige Erwin Küng auf einem Stahlrost von einem Quadratmeter oder einem Betonboden von vier Quadratmetern übernachten. Die Vollchromstahl-Einrichtung wirkt unzerstörbar. Von tätlichen Übergriffen ist nichts bekannt. Die Öffentlichkeit kann in dieser Zeit eines der drei WC nicht benutzen, und eine Putzequipe muss danach vielleicht sauber machen. Züri-WC und Staatsanwaltschaft geht das zu weit. Erwin Küng sitzt erst einmal 30 Tage im Knast.

* Name geändert

Dieser Text erschien erstmals am 25.4.2018 in der Onlinezeitung http://www.Republik.ch

Zürcher Strafverfolger verletzen die Bundesverfassung

Strafbefehle müssen öffentlich einsehbar sein, damit es keine Geheimjustiz gibt. Im Kanton Zürich erhält man erst nach einem monatelangen Hürdenlauf Zugang. Der zweite Teil der dreiteiligen Serie zur Praxis der Einsicht in Strafbefehle.Ort: Zürich

Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr.: STAZL B-6 STR 2017 10034343, 10036353 und 10040203
Thema: Strafbefehle

Der Fall von Erwin Küng* ist ein Rätsel. Und er muss es vorerst bleiben.

Innert zweier Monate hat die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat Erwin Küng dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Der 70-jährige Schweizer wird also durchschnittlich alle zwei bis drei Wochen verurteilt, stets wegen des gleichen Delikts. Warum? Das kann die Öffentlichkeit nur nach einem Hürdenlauf erfahren. Denn trotz vieler Telefonate und zweier Besuche bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ist es monatelang nicht möglich, die Strafurteile in seinem Fall einzusehen. Damit verletzen die Zürcher Strafverfolger die Bundesverfassung, Art. 30 Abs. 3: Urteile und Strafbefehle müssen öffentlich zugänglich sein. Doch die Verfassung wird nicht nur im Fall von Erwin Küng verletzt, das Zürcher System ist grundsätzlich verfassungswidrig. Es grenzt an Schikane.

Das zeigt das Protokoll eines Hürdenlaufs in fünf Etappen: mit drei Anläufen, einer Aufwärm- und einer Dehnphase. Und einem Prolog.

Prolog

Mehr als 98 Prozent der Strafurteile fällen in der Schweiz nicht Richter, sondern Staatsanwälte. Die Strafverfolger dürfen Freiheitsstrafen bis sechs Monate und Geldstrafen bis 180 Tagessätze aussprechen, ohne dass ein Richter sich deren annehmen müsste. Einsam in ihrem Büro vor dem Computer. Ihre Urteile heissen Strafbefehle. So haben im Jahr 2016 die Staatsanwaltschaften Zürich-Sihl und Zürich-Limmat 463 Anklagen vor Gericht erhoben, im gleichen Zeitraum aber 6059 Strafbefehle gefällt und 6412 Strafverfahren eingestellt oder sistiert.

Immerhin: Diese Strafbefehle müssen wie Urteile öffentlich verkündigt werden, damit keine Geheimjustiz entsteht. Bürgerinnen und Bürger sollen kontrollieren können, ob alles mit rechten Dingen zugeht, wenn der Staat jemandem eine Strafe aufbrummt. Das wollen Bundesverfassung, Strafprozessordnung und Bundesgericht so. Doch wer den Staatsanwälten im Kanton Zürich auf die Finger schauen will, muss viele Hürden überwinden.

Aufwärmen: Dezember 2017 und Januar 2018

Leicht gekürzter Mailwechsel mit Corinne Bouvard, Mediensprecherin der Oberstaatsanwaltschaft Zürich:

Justizblog: Ich möchte im Januar 2018 die Strafbefehle des Kantons Zürich anschauen. Wie gehe ich genau vor?
Bouvard: Die Strafbefehle liegen jeweils bei den Amtsstellen auf, Sie müssten sich telefonisch kurz anmelden, und dann können Sie Einsicht in die entsprechenden Listen nehmen.
Justizblog: Wo genau findet ein Bürger im Internet diese Informationen?
Bouvard: Fragen – welcher Natur auch immer – können an jede Amtsstelle, welche über ein entsprechendes Kontaktmail verfügt (ersichtlich auf der Homepage), gerichtet werden. Ansonsten sind auch die Wosta aufgeschaltet, welche für vieles Antworten liefern.

Wer die «Wosta» sucht, findet sie schliesslich. Es sind die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren – ausgebreitet auf 279 Seiten. Bürgernähe sieht anders aus.

Erster Anlauf: 1. Februar 2018

Der Sitz der Staatsanwaltschaften Zürich-Limmat und Zürich-Sihl an der Stauffacherstrasse ragt mächtig auf. Alter Sandstein aussen, hohe Gänge und Stuckatur innen. Man schreitet durch Türstürze aus schwarzem Marmor, rosarot ummalt. Hier wird über die Straftaten in Zürich gerichtet.

Der Gerichtssaal? Ein Amtsschalter in Zimmer 72, Parterre, mit Schild «Archiv». Und die öffentliche Verkündigung hat das Gesicht eines Archivars. Er schiebt zehn eng bedruckte Seiten unter dem Schalterfenster durch: die Liste der 724 Strafbefehle, die in der Stadt Zürich zwischen dem 15. Dezember 2017 und dem 31. Januar 2018 rechtskräftig wurden. Der hilfreiche Archivar verabschiedet sich: «Ich mues jetzt go vernichte. Schöne Tag no.» Er meint damit die Akten, die älter als fünfzehn Jahre sind und die er im Keller schreddert, um Platz für neue zu schaffen.

Eingeklemmt zwischen Eingangstür und Schalter, auf einem Ablagebrett von einem Quadratmeter, darf die Öffentlichkeit die Liste der Strafbefehle studieren. Aufgeführt sind Strafbefehlsnummer, Name des Verurteilten, Geburtsdatum und Bezeichnung des Delikts. Aber kein Wort, was sich da dereinst zugetragen hat und wie der Staatsanwalt sein Urteil begründet. Kontrolle der Justiz? Nur schwerlich möglich.

Lässt sich vielleicht wenigstens auswerten, welche Delikte in der Stadt Zürich die häufigsten sind?

«Wir können die Computerliste nicht nach Tatbeständen durchsuchen», sagt ein zweiter Archivar hinter dem Schalter, während der erste im Keller Akten schreddert. Der zweite – grauer Wollpullover über kariertem Hemd – hat es beim Chef (Leiter Abteilung Geschäftskontrolle) extra abgeklärt und zuckt mitfühlend die Schultern. So zählt denn die Öffentlichkeit von Hand die einzelnen Verurteilungen – auf dem Holzbrett im engen Raum zwischen Schalterfenster und Tür.

Die zwei Stunden dauernde Auswertung ergibt für die Stadt Zürich ein völlig anderes Bild der Alltagskriminalität als zum Beispiel für das ländliche Sursee. Die meisten Namen auf der Zürcher Liste sind ausländisch (in Sursee waren kaum welche dabei). Kein Wunder: Ein Drittel aller Verurteilungen betrifft Ausländer, die sich illegal in der Schweiz aufhalten und am Hauptbahnhof Zürich gestrandet sind (243 von 724 Strafbefehlen). Es folgen Delikte wie Diebstahl (113), grobe Verletzung der Verkehrsregeln (42) und Fahren in fahrunfähigem Zustand (33). Wegen Pornografie (6) und Exhibitionismus (4) wurden nur Leute mit Schweizer Namen verurteilt.

Und eben auffällig: Ein Erwin Küng, geb. 19.11.1947, wird innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Was hat dieser Mann für ein Problem?

Die Öffentlichkeit kann einzelne Strafbefehle im Wortlaut bestellen, indem sie diese auf der Liste der 724 ankreuzt. Der Archivar holt das Dokument aber nicht sofort, er schickt es mitsamt allen Akten zuerst an den leitenden Staatsanwalt. Der prüft, ob die Öffentlichkeit den Strafbefehl einsehen darf. Nach knapp einer Woche folgt ein Anruf des Archivars, muss ein zweiter Termin vereinbart werden, reist man erneut an, um die Strafbefehle einzusehen.

Zweiter Anlauf: 8. Februar 2018

Wieder Zimmer 72, Parterre, im mächtigen Bau mit schwarz-rosaroten Türstürzen. Wieder der Archivar im grauen Wollpullover. Man kennt sich mittlerweile am Schalter. Er schiebt 13 der 18 bestellten Strafbefehle durchs Fenster. «5 kann ich Ihnen noch nicht geben, weil die Akten samt Strafbefehl von einer Amtsstelle zurzeit benötigt werden.» Das sei etwa der Fall, wenn eine Geld- in eine Freiheitsstrafe umgewandelt oder jemand erneut straffällig geworden sei. Ist es denn nicht möglich, Kopien der rechtskräftigen Strafbefehle einzusehen? «Nein», sagt der Archivar. Warum, weiss er nicht. Er lächelt entschuldigend.

Unter den 5 unter Verschluss gehaltenen Strafbefehlen sind die 3 des Erwin Küng, 19.11.1947, der innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs verurteilt wurde. Es wird also ein dritter Termin nötig, um diese Strafbefehle einzusehen. Und wer weiss, wenn der 70-jährige Erwin Küng weiterhin ohne Einwilligung in fremde Wohnungen, durch umzäunte Gärten oder Gebäude schreitet, sind die Strafbefehle möglicherweise nie einsehbar, weil sie dauernd für ein Nachverfahren benötigt werden.

Dritter Anlauf: 22. Februar 2018

Ein Telefonat mit dem Archivar ergibt: Die Strafbefehle des Erwin Küng sind noch immer nicht im Archiv eingetroffen. Der Archivar verspricht zurückzurufen, sobald sie da sind. Was bis zum Redaktionsschluss am 28. März nicht geschehen ist.

Dehnen: 22. Februar bis 28. März 2018

Im Kanton Zürich braucht es mehrere Telefonate, sicher zwei, mitunter sogar drei Besuche vor Ort und mehr als zwei Monate, um Strafbefehle einzusehen. Kaum jemand nimmt das auf sich. In den letzten eineinhalb Jahren – seit der einzige freischaffende Zürcher Gerichtsreporter gestorben ist – hat niemand im Archiv Einsicht genommen. Das hürdenreiche Prozedere verletzt das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit, weil es den Zugang zu Strafbefehlen faktisch aushebelt.

Im Kanton St. Gallen können Journalistinnen Strafbefehle zu Hause am Computer einsehen. Sie erhalten zuerst per Mail die Liste der rechtskräftigen Entscheide, wählen die Strafbefehle aus, die sie interessieren, und erhalten die Dokumente als PDF innert Stunden zugeschickt. Wieso ist das in Zürich so kompliziert?

Für die Mediensprecherin der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ist es «nachvollziehbar, dass Journalisten, die am Recherchieren sind, möglichst zeitnah Einsicht nehmen wollen». Darum bemühe sich die Staatsanwaltschaft Zürich, diesem Anliegen «im Rahmen des Möglichen» Rechnung zu tragen. Aber mailen wie in St. Gallen könne man Listen und Strafbefehle nicht, weil es sich um «besonders schützenswerte Personendaten» handle. Man halte sich an die Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, «welche festhalten, dass die Einsichtnahme auf der Amtsstelle erfolgt». Dabei irrt die Mediensprecherin. Die Empfehlungen sehen nicht vor, dass die Einsicht vor Ort geschehen muss, sie legen nur fest, dass es «unter der Aufsicht der Kanzleien der Staatsanwaltschaften» geschehen soll. Wie auch immer: Solche Empfehlungen legitimieren eine Verfassungsverletzung aber nicht.

Und wann kann die Öffentlichkeit die 3 Strafbefehle gegen Erwin Küng, geb. 19.11.1947, endlich einsehen? Corinne Bouvard verweist an Daniel Kloiber, den leitenden Staatsanwalt Zürich-Sihl. Der ruft umgehend zurück, verspricht die 3 Strafbefehle – als PDF per Mail. Ausnahmsweise.

PS: Die 3 eingeforderten Strafbefehle trafen nach Redaktionsschluss ein. Sie werden Thema sein meiner nächsten Kolumne, die am 25. April 2018 in der http://www.republik.ch erscheinen wird.
PPS: Der Text wurde in der http://www.republik.ch vom 4. April 2018 erstmals publiziert.

* Name geändert

Goldgrube für Rechercheure: Strafverfügungen der Verwaltung

Nicht nur Gerichte, nicht nur Staatsanwälte, sondern auch ganz simple Rechtsdienste der Verwaltungen sprechen Strafen aus. Und diese Entscheide müssen öffentlich zugänglich sein. So geht Swissmedic gegen Personen vor, die illegal Medikamente einführen; das Bakom straft Medien, die Schleichwerbung schalten; das BAZL schreitet ein, wenn ein Flugzeug den Walensee zu tief überfliegt; die Oberzolldirektion straft Leute, die illegal Papageien einführen…

Diese Entscheide sind gerade für Journalistinnen und Journalisten spannend, denn dahinter stecken interessante Geschichten. Und das besondere: Diese Entscheide sind wie Urteile und Strafbefehle öffentlich zugänglich, weil das Bundesgericht das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) auch auf solche Strafverfügungen ausgedehnt hat. Das geschah vor 20 Jahren. Doch bisher hats kaum jemand gemerkt, geschweige denn benutzt.

Ich habe einen Musterbrief für ein Einsichtsgesuch erstellt. Damit solche Einsichtnahmen einfacher sind und die Tätigkeit dieser Behörden des Verwaltungsstrafrecht besser kontrolliert wird.

Meldet mir Probleme, aber auch Erfolge mit dem Musterbrief. Auf spannende Geschichten!

18_06_04_musterbrief_einsicht_verwaltungsstrafrechtliche_entscheide

P.S. Tipp für engagierte RechercheurInnen: Wer diese Dokumente systematisch bewirtschaften will, sollte einfach mal die Systematische Rechtssammlung durchkämmen nach interessanten Gesetzen, das Gesetz anklicken und zum Ende scrollen: Da stehen allfällige Sanktionen, die ausgesprochen werden können. Dann rausfinden, welches Amt diese Sanktionen aussprechen darf und Einsicht verlangen. Eine wahre Goldader. Sicher. Beispiel gefällig: Das Bundesgesetz über die Sperrung und die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte ausländischer politisch exponierter Personen. Gemäss Art. 25-27 können hohe Bussen verhängt werden. Ist das schon mal passiert? Gegen wen….?

Mit dem «Maulkorbartikel» leben lernen

Der Ständerat hat jüngst entschieden, den «Maulkorbartikel» beizubehalten. Medienschaffende können demnach auch in Zukunft wegen der Veröffentlichung geheimer amtlicher Dokumente verurteilt werden. Mit dieser rechtlichen Realität gilt es einen Umgang zu finden. Die Lehren aus den bisherigen Verurteilungen.
Ein aktueller Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR zeigt, was Medienschaffenden droht, wenn sie aus Akten eines Strafverfahrens zitieren, ohne wichtige öffentliche Interessen zu verfolgen, und dabei die journalistischen Sorgfaltspflichten verletzen: Eine Busse von 5000 Franken wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen.
Das ist nun die dritte Abfuhr von Medienschaffenden in Strassburg innert zehn Jahren: 2007 hat die Grosse Kammer des EGMR eine Busse für einen Sonntags-Zeitungs-Journalisten als zulässig erachtet, weil er aus einem strategischen Papier des damaligen Schweizer Botschafters in Washington zitierte; 2012 hat Strassburg eine erste Busse des nun erneut gebüssten L’Illustré-Journalisten gutgeheissen, weil er sich bei einem Porträt zu einem Aufsehen erregenden Autounfall auf dem Lausanner Grand Pont auf Untersuchungsakten stützte. Und jetzt, Anfang Juni 2017, hat es erneut gegen den gleichen Reporter entschieden, weil er aus Untersuchungsakten eines Strafverfahrens gegen einen mutmasslichen Pädophilen zitierte*.
Diese Urteile erfolgten alle gestützt auf Artikel 293 des Strafgesetzbuches. Der umstrittene Paragraph könnte längst abgeschafft sein, doch Bundesrat und Parlament wollen es anders. Am 29. Mai 2017 hat der Ständerat als Zweitrat entschieden, dass der sogenannte Maulkorbartikel nicht gestrichen, sondern nur ergänzt und damit milde abgeschwächt wird. In Zukunft darf das Gericht Medienschaffende nicht mehr verurteilen, wenn das öffentliche Interessen an einer Berichterstattung gegenüber Geheimhaltungsinteressen überwiegt. Fazit: Der jahrelange Streit um den Paragraphen ist besiegelt.
Journalisten machen sich weiterhin strafbar, wenn sie ohne überwiegende öffentliche Interessen aus geheimen, amtlichen Dokumenten zitieren. Und das werden die Richter wohl wenig anders als bisher entscheiden, denn sie haben in den letzten zehn Jahren bereits die öffentlichen Interessen an Information gegen Geheimhaltungsinteressen abgewogen und die Medienfreiheit in den Augen der Strassburger Richter korrekt gewichtet.
Zeit also für eine Standortbestimmung und Tipps für einen pragmatischen Umgang mit dem Maulkorb. Denn der aktuelle EGMR-Entscheid zeigt auch, dass über Akten aus Strafverfahren sehr wohl berichtet werden darf. Es müssen aber berechtigte öffentliche Interessen (z.B. belegte Verfahrensmängel) verfolgt und die Sorgfaltspflichten besonders zur Namensnennung streng eingehalten werden. Zudem gewichtet der EGMR die Geheimhaltung von parlamentarischen oder verwaltungsinternen Geheimnissen tiefer. Das sollte das Bundesgericht in Zukunft – und gerade mit der neuen Gesetzesbestimmung – stärker beachten.

Aus dem aktuellen Strassburger Entscheid lassen sich die Kriterien für eine korrekte Berichterstattung im Detail ableiten:

  1. Gemäss EGMR verfolgt das Untersuchungsgeheimnis legitime Ziele: Den Schutz des Vorverfahrens (Unabhängigkeit der Justiz, Wirksamkeit des Strafverfahrens), aber auch den Schutz der Unschuldsvermutung von Beschuldigten und seiner Privatsphäre wie auch jener anderer Beteiligter, besonders von Opfern. Hingegen gebe es kaum Raum, die Meinungsfreiheit im Bereich der politischen Debatten und Diskussionen von allgemeinem Interesse einzuschränken (vgl. Ziff. 60). Das ist ein Hinweis dafür, dass Art. 293 StGB unterschiedlich angewendet werden sollte, wenn es um Akten aus einem Strafverfahren oder wenn es um geheime Protokolle parlamentarischer Kommissionen oder geheime Dokumente der Verwaltung geht.
  2. Dokumente sollten nicht auf illegalem Weg beschafft werden. Im konkreten Fall hat der Vater eines Opfers dem Journalisten die Dokumente übergeben. Daran hat Strassburg nichts auszusetzen.
  3. Der Gehalt eines Artikels soll sich auf jene Elemente beschränken, an denen wirklich ein berechtigtes öffentliches Interesse besteht. Im aktuell beurteilten Fall hat der Journalist gemäss EGMR unnötige Details über das Vorgehen des mutmasslichen Täters ausgebreitet, die nicht von öffentlichem Interesse waren, sondern einzig der Sensation gedient hätten.
  4. Ein Bericht, der sich auf geheime Dokumente stützt, muss zu einer öffentlichen Debatte beitragen. Dies muss durch eine detaillierte Recherche untermauert sein und darf sich nicht bloss auf Vorwürfe eines Opfers stützen. Im aktuell beurteilten Bericht warf der Vater dem Haftrichter vor, den Beschuldigten aus der U-Haft nur freigelassen zu haben, weil er ein einflussreicher Immobilienverwalter gewesen sei. Zudem machte der Journalist geltend, er habe mit seiner Berichterstattung weitere Opfer ermuntern wollen, sich zu melden. Beide Anliegen erachtet der EGMR grundsätzlich als berechtigte öffentliche Interessen. Aber im konkreten Fall habe der Journalist die Vorwürfe nicht genügend untermauert. Er habe ausser dem Verdacht des Vaters keine Gründe dartun können, weshalb der U-Haft-Entscheid tatsächlich nicht korrekt gewesen sei, und habe keinerlei Beleg gehabt, dass von der Staatsanwaltschaft bei der Tat nicht genügend intensiv nach weiteren Opfern gesucht worden sei.
  5. Die Unschuldsvermutung muss nicht nur genannt, sondern auch im Ton der Berichterstattung beachtet werden. Im konkreten Artikel hat der Journalist zwei mal erwähnt, dass für den Beschuldigten die Unschuldsvermutung gelte. Doch der Ton des ganzen Textes hat gemäss EGMR keine Zweifel gelassen, dass der Journalist den Beschuldigten für schuldig halte. Dies kommt bereits im Titel «Un père révolté dénonce les jeux pervers d’un abuseur d’enfants» («Ein aufgebrachter Vater klagt die perversen Spiele eines Kindsmissbrauchers an») zum Ausdruck.
  6. Die journalistischen Sorgfaltspflichten sind streng zu beachten – besonders in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre von Minderjährigen. Im eingeklagten Artikel hat der Journalist den Vater eines Opfers im Profil gezeigt, seinen Vornamen mit Initial des Familiennamens, das Alter der mutmasslichen Opfer sowie deren familiäre Beziehungen genannt. Als ganzes hat dies gemäss EGMR die minderjährigen Kinder erkennbar gemacht. Die Mutter eines der Kinder hat denn auf dem Zivilrechtswege erfolgreich eine Entschädigung wegen Persönlichkeitsverletzung eingeklagt.
  7. Da nun die öffentlichen Interessen am Artikel klein, die Geheimhaltungsinteressen von Strafverfolgungsbehörden und Privaten gross waren, glaubt der EGMR nicht, dass eine Busse von 5000 Franken Medienschaffende übermässig abschrecke, ihre Medienfreiheit trotz dieser Verurteilung auszuüben. (Ein Strafregistereintrag erfolgt bei Übertretungen wie Art. 293 StGB erst ab einer Busse von 5000 Franken…)

 

_Der Text erschien erstmals in der Medienwoche vom 6.6. 2017.
_Weitere (juristische) Gedanken zum revidierten Maulkorbartikel finden sich hier: Erste Gedanken zum «neuen» Maulkorbartikel

*Der Artikel ist für Nutzer der Schweizer Mediendatenbank SMD einsehbar: «Un père révolté dénonce les jeux pervers d’un abuseur d’enfants», L’illustré, 28.1.2009

Erste Gedanken zum „neuen“ Maulkorbartikel

Wer aus geheimen amtlichen Dokumenten zitiert, kann sich weiterhin strafbar machen. Das Parlament hat den umstrittenen Maulkorbartikel (Art. 293 StGB) nicht gestrichen. Es hat aber einen neuen Absatz 3 eingefügt, der die Richter zu einer Abwägung zwingt zwischen den Interessen an der Publikation und den Geheimhaltungsinteressen. Wer aus geheimen Dokumenten zitiert, soll nicht mehr strafbar sein, wenn er damit einem öffentlichen Interesse dient, das wichtiger ist als die Geheimhaltungsinteressen. Bis Oktober läuft die Referendumsfrist. Doch schon jetzt ist klar: Ein bald 40-jähriges Ringen zwischen Politik/Justiz und Medien hat sein Ende gefunden. Zeit für eine erste kleine Würdigung der neuen Rechtslage.

Das gibt Hoffnung auf medienfreundlichere Entscheide

  1.  Die Gerichte haben jetzt eine neue gesetzliche Grundlage, die sie anweist, das öffentliche Interesse an der Information gegen das Geheimhaltungsinteresse abzuwägen („Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Veröffentlichung kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegengestanden hat.“) Neues  Recht ist immer eine Gelegenheit für einen Neustart. Die neue Rechtslage kann Anlass sein, die alte restriktive Praxis zu überdenken und der Medienfreiheit mehr Gewicht zu geben. Das ist eine Chance für eine Praxisänderung, liebe Richter. Packt sie!
  2. Um einen Journalisten freizusprechen, mussten die Gerichte bisher überzeugt sein, dass der Journalist die „Wahrung berechtigter Interessen“ geltend machen kann. Diesen aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund haben die Richter restriktiv angewendet, weil sie ihn selbst erfunden haben. Ein Journalist blieb nur straflos, wenn die Veröffentlichung amtlicher Dokumente „notwendig“ und „angemessen“ war, den „einzig möglichen Weg darstellt, um den Missstand zu beheben“ und „offenkundig weniger schwer wiegt als die Interessen, welche der Täter zu wahren sucht“ (BGE 126 IV 236). Neu muss die Veröffentlichung amtlicher geheimer Dokumente nicht mehr notwendig, angemessen und ultima ratio sein. Und der Geheimnisverrat muss nicht mehr offenkundig weniger schwer wiegen als die Interessen an Information der Öffentlichkeit. Neu muss das Interesse an Information simpel und einfach gegenüber den Geheimhaltungsinteressen überwiegen. Das Parlament hat die Hürde also tiefer gelegt und will die Medienfreiheit höher gewichten. Das müssen die Gerichte berücksichtigen. Und sie können es freier handhaben, weil sie mit der gesetzlichen Grundlage endlich sicheren Grund haben und sich nicht mehr auf aussergesetzlichem Gelände bewegen.

Das stimmt eher pessimistisch

  1. Schon seit dem Entscheid der Grossen Kammer des EGMR im Fall Stoll, also seit 2007, hat das Bundesgericht bereits ergänzend jeweils auch eine Abwägung zwischen Medienfreiheit/Interesse an Information einerseits und dem jeweiligen Geheimhaltungsinteresse andererseits vorgenommen. Und immer hat es zu Ungunsten der Medienfreiheit entschieden. 2008 im Fall Bédat I (BGE 6P.153/2006); 2012 im Fall Bédat II (BGE 6B_256/2012), 2013 im Fall Hollenstein (BGE 6B_186/2012) und 2016 im Fall Rutishauser (BGE 6B_1267/2015).
  2. Wenn Richter darüber entscheiden, welches Gewicht staatliche Geheimnisse haben, sind sie immer auch etwas befangen, da sie selbst zu genau jenem Staat gehören, der etwas für geheim erklärt hat.

Diese Missstände bleiben eh bestehen

  1. Der Maulkorbartikel bestraft die Falschen: Die Überbringer der Botschaft statt die Geheimnisbrecher – notabene Parlamentarier oder Verwaltungsangestellte, die den Journalisten ein Dokument durchstechen.
  2. Der Maulkorbartikel wird willkürlich angewandt: Jährlich wird über Dutzende geheimer Dokumente berichtet. (Jeder Bericht über ein laufendes Strafverfahren auf der Basis von Untersuchungsakten erfüllt den Tatbestand). Aber gemäss polizeilicher Kriminalstatistik gibt es nur ein bis zwei Anzeigen pro Jahr. Oft trifft es die unbequemen Rechercheure, denen man mit einer Anzeige eins auswischen will. Von den drei Journalisten, deren Artikel das Bundesgericht in den letzten 10 Jahren beurteilt hat, sind zwei unterdessen „Super-Chefredakteure“: Arthur Rutishauser und Pascal Hollenstein.
  3. Medienschaffende müssen mit hoher Rechtsunsicherheit leben.

Das Fazit für Medienschaffende bleibt sich gleich:

  1. Das Risiko wegen Art. 293 StGB in Nöte zu kommen, ist im grossen Ganzen gesehen gering. Nur bei einem kleinen Teil der Zitate aus geheimen Dokumenten kommt es zu Strafverfahren, da Art. 293 StGB ein Antragsdelikt ist.
  2. Kommt es zu einem Verfahren ist eine Verurteilung zwar wahrscheinlich, doch die Strafen für diese Übertretung liegen fast immer unter der Limite von 5000 Franken, die zu einem Strafregistereintrag führen würden (die Bussen lagen bisher zwischen 400 und 4000 Franken).
  3. Der beste Schutz ist sorgfältige Arbeit: Bei Zitaten aus geheimen amtlichen Dokumenten sollten Medienschaffende alle journalistischen Sorgfaltspflichten besonders gut einhalten, ein hohes öffentliches Interesse damit verfolgen und sich jeder unnötigen Zuspitzung oder Boulevardisierung enthalten. Und sie sollten den Chef und den Medienanwalt vorgängig informieren und mit ins Boot holen: Ein Strafverfahren wegen eines Zitates aus einem geheimen Dokument ist publizistisch beste Werbung – wenn denn der belegte Missstand von einiger Tragweite ist.

„Unnötige“ Recherche nicht geschützt

Das Bundesstrafgericht hat einem RTS-Journalisten den Schutz der Medienfreiheit verweigert, weil seine Recherche „total unwirksam und unnötig gewesen“ sei und nicht Eingang in seinen Bericht gefunden habe.

Das Urteil ist bedenklich: Zum einen war die kritisierte Recherchehandlung nicht „unnötig“ und zum andern wissen gute Rechercheure nie, welches Resultat eine Methode zeitigt. Gute Rechercheurinnen haben nur Vermutungen, die sie verifizieren oder falsifizieren. Wenn sie wirklich vorurteilslos arbeiten, können sie das Resultat gar nicht kennen.

Für dieses Urteil hat das Gericht in Bellinzona den „Goldenen Bremsklotz“ des Schweizer Recherchenetzwerkes erhalten. Ich habe die Laudatio gehalten.

Laudatio Goldener Bremsklotz 2017

Liebe Bundesstrafrichterinnen, liebe Bundesstrafrichter,
Lieber Einzelrichter David Glassey

ich gratuliere Ihnen zum Goldenen Bremsklotz 2017. Sie haben ihn redlich verdient. Sie haben den Genfer Journalisten Joël Boissard bestraft, weil er eine Sicherheitslücke im elektronischen Stimm- und Wahlsystem aufgezeigt hat. Boissard konnte zwei Mal abstimmen – als ehemaliger Auslandschweizer und als Genfer Neuzuzüger. Nach seiner doppelten Stimmabgabe hat er die Genfer Staatskanzlei informiert, damit das Resultat nicht wirklich verfälscht wird.

Aber statt sich zu bedanken, dass da jemand ernsthafte Mängel in einem zentralen System der Demokratie aufzeigt, haben Sie, liebe Bundesstrafrichter, den Journalisten der Radio Télévision Suisse wegen Wahlfälschung verurteilt.

Zwar haben Sie Boissard bloss 2 Tagessätze à 200 Franken bedingte Geldstrafe und die Verfahrenskosten von 2500 Franken aufgebrummt. Das ist ja fast nichts. Doch die Hauptstrafe für den Journalisten ist eine andere: Sein Strafregisterauszug hat nun einen Eintrag: Wahlfälschung. Damit wird Boissard Probleme bei der Stellen- und Wohnungssuche haben. Und bei seinen zukünftigen Recherchen einen Bremsklotz am Bein, einen „Chilling Effect“ auf der Haut.

Der Journalist wird sich zweimal überlegen, ob er mit Recherchen in die Tiefe geht, wenn er dabei die Grenze des Legalen streifen muss. Genau das haben Sie gewollt. Aber genau das schadet dem Journalismus mit Biss, der über Missstände informiert und damit der Demokratie dient. Zum Beispiel ein Wahl- und Stimmsystem verbessert. Ihr Urteil ist Informationsverhinderung erster Klasse.

Ich gratuliere Ihnen auch, weil Sie es geschafft haben, der Recherche eines Medienschaffenden den Schutz der Medienfreiheit (Art. 17 BV) gänzlich abzusprechen. Chapeau. Das braucht ein gerüttelt Mass an juristischer Finesse.

Sie sagen, es habe Boissard gar nichts gebracht, dass er zweimal abgestimmt habe. Er habe danach ja nicht gewusst, ob die Staatskanzlei tatsächlich beide Stimmabgaben gezählt habe. Deshalb sei die doppelte Stimmabgabe für die Recherche „total unwirksam und unnötig gewesen“. Zudem sei die doppelte Stimmabgabe in seinem Bericht auch gar nicht erwähnt worden. Und deshalb könne er sich gar nicht auf die Medienfreiheit berufen.

Wow. Das ist ein Bravourstück. Sie haben es geschafft, dem Journalisten den Schutz der Medienfreiheit zu entziehen, weil Sie den Recherchealltag gar nicht kennen. Denn auch Recherche muss unter das Grundrecht der Medienfreiheit fallen – und das auch dann, wenn sie im Nachhinein betrachtet nichts, oder fast nichts bringt und nicht Teil eines Berichtes wird. Weil Sie sich nicht in die Haut eines Rechercheurs versetzen können, verweigern Sie den Journalisten ein Grundrecht. Das ist Unwissen und Kurzsichtigkeit.

Journalistinnen und Journalisten kennen nämlich das Resultat eines Rechercheschrittes nicht, bevor sie ihn gemacht haben. Das ist sogar eine Grundvoraussetzung von gutem Journalismus, der ohne Vorurteile Fakten prüft. Und genau das ist das Dilemma jeder Recherche mit Biss: Wenn eine Medienschaffende zum Beispiel eine versteckte Kamera einsetzt, weiss sie noch nicht, ob das, was sie filmt, ihre Vermutung bestätigt – dass zum Beispiel Versicherungsberater ahnungslose Bürger abzocken. Aber alleine durchs Filmen macht sie sich bereits strafbar. Zeigt der Film das Gegenteil – nämlich zum Beispiel eine völlig korrekte Beratung –muss sie auf gnädige Richter hoffen,

Deshalb: Rechercheure müssen eine Methode einsetzen dürfen, wenn diese zum Voraus zumindest nicht als völlig ungeeignet erscheint, um eine wichtige Sache zu überprüfen.

Und da haben Sie gekonnt heruntergespielt, dass die doppelte Stimmabgabe durchaus eine Erkenntnis zu Tage förderte: Das Genfer E-Voting-System blockiert weder eine zweite Stimmabgabe, noch hat es eine Warnfunktion. Das mag ein untergeordnetes Resultat sein, aber es ist ein Resultat. Und das Gegenteil hätte die Recherche sofort beendet.

Ich weiss, Ihnen war beim Urteil nicht ganz wohl. So haben Sie das Strafmass von ursprünglich 10 Tagessätzen, welche die Bundesanwaltschaft verhängen wollte, auf 2 Tagessätze gesenkt. Doch weshalb dann nicht ganz von Strafe Abstand nehmen? Denn im Resultat bleibt Ihr Urteil stossend: Ein Journalist zeigt Mängel in einem zentralen System unserer Demokratie auf, wird aber für seine Recherche abgestraft.

Nun komme ich aber zum Wermutstropfen für Sie: Sie müssen diesen schönen Preis teilen oder dürfen ihn zumindest nur stellvertretend entgegennehmen. Denn Sie sind nicht alleine. Es gibt einige Staatsanwälte und Richter bis hin zu Bundesrichterinnen, die ähnlich mit Journalisten umgehen.

Sie alle sehen wenig Wert in einer Recherche, die mit Biss an die Grenze des Legalen geht. Fast immer wenn eine Recherche einen Straftatbestand erfüllt – illegale Ton- und Filmaufnahmen(etwa Urteil des Bundesgerichts 6B_225/2008), Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (etwa Urteil des Bundesgerichts 6B_1267/2015), illegalen Grenzübertritt (BGE 127 IV 166ff.), Hausfriedensbruch (etwa Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Luzern vom 21. 4. 2017 i.S. Gundula) – gewichtet die Justiz das Strafverfolgungsinteresse höher als die Medienfreiheit und das öffentliche Interesse an der Information. Und so wenden Richter auch den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen fast nie an, obwohl sie damit Journalisten freisprechen könnten, wenn diese wichtige Arbeit machen, von der die Demokratie und die Öffentlichkeit profitieren.

Deshalb möchte ich Ihnen den Goldenen Bremsklotz nicht einfach überreichen, sondern Sie gleichzeitig einladen, sich in Schweizer Rechercheredaktionen ein Bild von der Arbeit von Rechercheurinnen und Rechercheuren zu machen. Wir vermitteln dem Bundesstrafgericht gerne die Kontakte.

Und auf jeden Fall bleibt investigativ an diesem Problem dran. Wir werden uns auch politisch dafür einsetzen, dass Medienschaffende, die berechtigte Interessen wahren, rechtlich besser geschützt werden.

Mit freundlichen Grüssen nach Bellinzona

Ihr Schweizer Recherchenetzwerk investigativ.ch

P.S. Vom Bundesstrafgericht erschien niemand zur Feier, um den Preis entgegenzunehmen. Er geht am 11.5.17 auf die Post.

P.PS. RTS und Joel Boissard haben beim Bundesgericht Beschwerde gegen das Urteil eingelegt. Es ist somit nicht rechtskräftig.

P.P.P.S. Das Bundesgericht hat die Beschwerde von RTS und Joel Boissard gutgeheissen und den Entscheid des Bundesstrafgerichts aufgehoben. Es habe dem Journalisten an Vorsatz gefehlt, Wahlfälschung zu begehen. Sein Ziel sei es gewesen, eine Anomalie öffentlich zu machen. (BGer 6B_604/2017 vom 18. April 2018)

Staatsanwälte ausser Kontrolle

Staatsanwälte ordnen Rasterfahndungen, Handydatenfang über IMSI-Catcher und Trojaner seit Jahren an – ohne oder nur mit prekärer gesetzlicher Grundlage. Und die Zwangsmassnahmengerichte, welche die rechtsstaatliche Kontrolle gewährleisten sollen, winken Fahndungsmethoden der Ermittler häufig durch. Zumindest erfährt die Öffentlichkeit nicht, wie sie die Entscheide begründen, in denen sie die Massnahmen der Staatsanwälte absegnen. Denn die Zwangsmassnahmenentscheide gelten als geheim.

Der mutmassliche Täter im Fall Rupperswil ist gefasst, der Fall gelöst. Wer jetzt Fragen stellt, ob alle Fahndungsmethoden legal waren, wird als «Täterschützer» beschimpft. Man will nicht hinschauen, ob die Ermittler legal gehandelt haben. Der Zweck heiligt die Mittel. Staatsanwälte dürfen alles. Auch Zehntausende von Handydaten auswerten, um überhaupt erst Verdächtige zu finden. Also eine Rasterfahndung durchführen, für die es keine klare gesetzliche Grundlage gibt.

Staatsanwälte haben Macht. Viel Macht. Sie können Menschen einsperren, stigmatisieren und per Strafbefehl verurteilen. Sie entscheiden über das Schicksal von Schuldigen, aber auch Unschuldigen. Wer mit Menschen spricht, die zu Unrecht in Untersuchungshaft sassen, zu Unrecht am Arbeitsplatz oder vor ihren Angehörigen verhaftet wurden oder auch nur als Verdächtige in Einvernahmen ihre Unschuld beteuern mussten, erfährt die Schattenseiten dieser Macht.

Es geht nicht um Täterschutz, wenn man eine klare gesetzliche Grundlage für Zwangsmass­nahmen fordert. Es geht um die Kontrolle staatlicher Macht. Die – so zeigt die Erfahrung – nötig ist, um die Zahl der Justizirrtümer klein zu halten, aber auch um den Missbrauch von Macht einzuschränken. Staatsanwälte werden heute zu wenig kontrolliert. Die Ermittler bestimmen bei neuen Technologien einfach selbst, was sie dürfen. Nicht nur wenn sie Rasterfahndungen durchführen, auch wenn sie Handygespräche abfangen oder Computer mit Trojanern verwanzen. Die Ermittler tun es einfach – auch ohne klare gesetzliche Grundlage – und vertrauen auf die Gerichte, die sie dann schon decken.

Und die Gerichte zeigen viel Verständnis für die Bedürfnisse der Strafverfolgungsbehörden. Mit welcher Begründung erfährt die Öffent­lichkeit kaum. Denn die Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte, die die Straf­verfolger kontrollieren sollen, sind geheim. Auf der Strecke bleibt damit die Mitsprache von uns allen. Und die Prognose sei gewagt: Wir stehen nur so lange auf der Seite der Strafverfolger, wie alles gut geht. Deshalb dienen gesetzlich klar geregelte Zwangsmassnahmen auch den Strafverfolgern.

Privatsphäre bleibt auf der Strecke

Heute hängt zu oft von einzelnen spektakulären Verbrechen ab, was Staatsanwälte und Polizei dürfen. Der Fall Lucie führte 2009 dazu, dass Netzbetreiber Handydaten auf Gesuch der Strafverfolger sofort und ohne vorgängige Kontrolle des Zwangsmassnahmengerichts an Polizei und Staatsanwälte übermitteln. Auf der Strecke bleiben Anwalts-, Arzt- und Redaktionsgeheimnis. Die Fälle Rupperswil und Emmen (wo eine Frau brutal vergewaltigt wurde) werden die Rasterfahndung definitiv salonfähig machen. Mit einer nur prekären gesetzlichen Grundlage. Es ist unverständlich, dass das Parlament die Voraus­setzungen nicht klar und deutlich ins eben revidierte Bundesgesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs geschrieben hat.

Die Arbeit der Strafverfolger soll hier nicht schlechtgemacht werden. Gerade die Ermittler im Fall Rupperswil haben – soviel man heute weiss – gut gearbeitet. Und oft setzen Staatsanwälte Zwangsmassnahmen im Graubereich auch mit den besten Absichten ein.

Aber wieso sollen Staatsanwälte mit ihren Anliegen nicht zuerst den Gesetzgeber überzeugen müssen, bevor sie die Freiheit zugunsten der Sicherheit zurückdrängen dürfen? Wieso sollen nicht zuerst Erfahrungen anderer Staaten ausgewertet werden? Vor- und Nachteile abgewogen, optimale Kontrollen eingerichtet werden? Genau dies macht man, wenn man eine klare gesetzliche Grundlage schafft. Das ist nicht Täterschutz. Das ist demokratische Mitsprache.

(Erschienen in Tages-Anzeiger vom 20. Mai 2016)

Urteile, Strafbefehle oder Anklageschriften herausverlangen

Was belegen Justizdokumente wie Urteile, Einstellungsverfügungen + Co? Wie viel Beweiskraft haben sie? Und wie kann man sie einsehen? Diese kleine Wegleitung zu Justizdokumenten ist ein Service zur besseren Kontrolle der Justiz.

Urteile, Strafbefehle oder Einstellungsverfügungen sind für Rechercheurinnen und Rechercheure Gold wert: Sie belegen, was das Justizsystem für wahr hält und wie es die belegten Vorfälle rechtlich qualifiziert (Mord, Diebstahl, Veruntreuung etc.). Das gilt aber nur für rechtskräftige Entscheide – also Entscheide, bei denen die Beschwerdefrist ungenutzt verstrichen ist oder die vom Bundesgericht gefällt wurden. Ist ein Entscheid noch nicht rechtskräftig, kann eine übergeordnete Instanz den Fall noch immer anders entscheiden.

Spannend sind auch Dokumente aus der Voruntersuchung der Staatsanwaltschaften wie zum Beispiel Einvernahmeprotokolle, Gutachten, Protokolle über Augenscheine etc. Diese Dokumente gelten als geheim. Man kann sie sich nur über die Parteien beschaffen. Medienschaffende müssen mit ihnen vorsichtig umgehen, sonst droht eine Verurteilung wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB).

Die Beweiskraft der einzelnen Dokumente und der Nutzen für Medienschaffende hängen stark von der Art des Dokumentes ab. Deshalb kommentiert „Recht brauchbar“ die wichtigsten Justizdokumente praxisnah in der Dokumentation 15_12_08_Justizdokumente_neu und stellt einen Musterbrief zur Einsicht in Urteile zur Verfügung 15_12_08_Musterbrief_Urteil

„Recht brauchbar“ ist interessiert an allen Erfahrungen mit Einsichtsgesuchen.