„Bergier-Kommission“ zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen

Der Entwurf für ein Gesetz zur Rehabilitierung administrativ Versorgter sieht eine Art Bergier-Kommission zur Sozialhilfepolitik der Schweiz von 1940 bis 1981 vor. Ein grosser Fortschritt – auf einem langen Weg.

Ende letzter Woche hat das Parlament das Gesetz zur Rehabillitierung administrativ Versorgter  (Rehabilitierung_Erlassentwurf_de) in die Vernehmlassung geschickt (läuft bis 22. Februar 2013). Das Gesetz wurde mit 17 zu 5 Stimmen von der Rechtskommission verabschiedet. Auf Distanz ging die SVP.

Das Gesetz ist ein grosser Schritt vorwärts:

– Es spricht von Rehabilitierung statt nur von Anerkennung von Unrecht und springt damit über den formaljuristischen Schatten (Der Begriff der Rehabilitierung ist für die Aufhebung von Urteilen reserviert. Hier fehlen aber gerade Gerichtsentscheide. Das ist gerade das Problem).

– Es sieht eine Historikerkommission à la Bergier-Kommission vor – und nicht bloss ein weiteres Programm des Nationalfonds. Das ist – wenn es durchkommt – eine ziemliche Sensation! Denn so erhält die Untersuchung der Sozialpolitik der Schweiz mit ihren dunklen Seiten der fürsorgischen Zwangsmassnahmen das nötige Gewicht und hat eine Chance, ins kollektive Bewusstsein der Schweizer Eingang zu finden. Danach müssten die Erkenntnisse aber auch in der Dauerausstellung des Landesmuseum und in den Schulbüchern Aufnahme finden.

Negativ am Entwurf ist, dass das eigentliche Unrecht verniedlicht wird, indem das Parlament den damaligen Behörden einen Persilschein ausstellt – dabei haben sich die damaligen Vormundschaftsbehörden zwar (teilweise) ans schwammig formulierte Gesetz gehalten, aber aus heutiger Sicht Kerngehaltsverletzungen von Grundrechten begangen. Das sind qualifizierte Rechtsverletzung. Das kommt im Entwurf leider nirgends zum Ausdruck.

Wichtig ist, dass die Kantone nicht davon abgehalten werden, finanzielle Wiedergutmachungen, die Einrichtung einer Anlaufstelle oder einen Härtefallfonds weiter zu prüfen. Die Konferenz der Kantone und die Sozialdirektorenkonferenz haben auf diesem nötigen Weg bereits ermutigende Schritte getan.

Ein Weckruf des Bundesgerichts

Das Bundesgericht 
verlangt die Freilassung eines Verwahrten. 
Das ist ein Weckruf – auch für IV-Stellen und 
Migrationsämter.

Vor sieben Jahren wurde ein Mann verwahrt – wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand. Ihm drohte lebenslange Haft, obwohl ein psychiatrisches Gutachten zum Schluss kam, dass der alkoholsüchtige Mann kaum schwere Delikte begehen würde. Die 
Verwahrung war nur möglich, weil die Zürcher Justizbehörden das Gutachten in «unzulässiger Weise uminterpretiert» haben. So das Urteil 
des Bundesgerichts von Mitte November, das die Behörden anwies, den Mann freizulassen.

Damit stemmen sich die höchsten Schweizer Richter gegen Volkes Stimme, die nach dem Mord an Pasquale Brumann 1993 aus Angst vor Gewalttaten immer lauter verlangt, Menschen im Zweifel wegzusperren. Justizbehörden, kantonale Gerichte und Fachkommissionen geben diesem Druck immer stärker nach. Heute wird im Zweifel verwahrt. Und wer verwahrt ist, soll nie mehr rauskommen. Zu diesem Zweck schrecken Behörden offenbar nicht einmal davor 
zurück, Gutachten in «unzulässiger Weise umzuinterpretieren».

Der Entscheid des Bundesgerichts war ein dringend nötiger Weckruf für die Justizbehörden, nicht aus Angst vor medialem oder politischem Druck in Willkür zu verfallen. Damit nimmt das Gericht seine zentrale Rolle wahr: jene des Gegengewichts gegen Vor-Urteile, das umso nötiger ist, je emotionaler ein Thema diskutiert wird.

In jeder Zeit gibt es Fragen, an denen sich die öffentliche Meinung heftig entzündet. Bis Anfang der 1980er Jahre 
waren das zum Beispiel Sexual- und Arbeits­moral. Menschen wurden auf unbestimmte Zeit weggesperrt, bloss weil sie als «liederlich» oder «arbeitsscheu» galten. Laien fällten diese Entscheide über Mütter mit unehelichen Kindern oder Jugendliche, die nicht Bäcker, sondern ­Matrosen werden wollten. Kein Gericht konnte diese Laienbeschlüsse überprüfen. Seit 1981 ist das anders. Es kommt niemand mehr in den Knast, bloss weil er gegen Sexual- oder Arbeitsmoral verstossen hat. Und alle Freiheitsentzüge werden von Gerichten überprüft. Die Schweiz hat etwas gelernt.

Es war nicht der erste Lernschritt. So hat man im Laufe der Jahrhunderte herausgefunden, dass es beim Richten am wenigsten Fehler gibt, wenn gewisse grundsätzliche Regeln eingehalten werden. Erste Regel: Nur der Staat darf strafen. Die Lynchjustiz macht Fehler, weil Menschen mit einem Stein in der Hand zu oft den Falschen treffen. Zweite Regel: Jeder starke Eingriff in persönliche Rechte muss von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Denn 
Ämter, die direkt mit Betroffenen zu tun haben, sind zu befangen. Dritte Regel: Es gibt Grundrechte, die man keinem Menschen nehmen darf, weil sie ihm als Mensch zustehen. Vierte Regel: Die absolute Wahrheit kennt keiner. Nur faire Verfahren bringen uns der Wahrheit näher. So hat zum Beispiel jeder Angeklagte ein Recht auf einen Anwalt und kann Gutachten bean­tragen, die Behörden und Richter nicht «in 
unzulässiger Weise uminterpretieren» dürfen.

Beim jüngsten Bundesgerichtsentscheid geht es also nicht bloss um die Freiheit eines Alkohol­kranken, auch nicht nur um den Umgang mit Verwahrten. Nein, die höchs­ten Richter erinnern grundsätzlich daran, die rechtsstaatlichen Grund­regeln anzuwenden, auch oder gerade wenn der öffentliche Druck gross ist.

Dieser Weckruf sollte auch von 
IV-Stellen, Sozial- und Migrations­ämtern gehört werden. IV- und 
Sozialhilfeempfänger stehen unter dem Generalverdacht des Sozial­missbrauchs, Asylbewerber und 
Ausländer gelten vielen als schma­rotzende Wirtschaftsflüchtlinge 
oder Profiteure. Allzu schnell geraten auch hier die vier goldenen Regeln von nachhaltigen und gerechten Entscheiden unter die Räder. So mussten die Bundesrichter Ende Juni bei der 
IV einschreiten. Die Gutachter seien von den IV-Stellen zu stark abhängig, rügten sie. So sei ein faires Verfahren nicht garantiert.

Wenig Schutz gegen den Druck der öffent­lichen Meinung gibt es in der Schweiz hingegen für Ausländer ohne Identitätspapiere, sogenannte Sans-Papiers. Ihnen hat das Parlament ein grundsätzliches Recht genommen, das 
jedem Menschen zusteht: die Ehefreiheit. Seit Anfang Jahr dürfen Sans-Papiers – und allenfalls in sie verliebte Schweizer – nicht mehr heiraten. Diesen Entscheid kann in der Schweiz das Bundesgericht nur wegen eines Kunstgriffs korrigieren. Es gewichtet die EMRK als Staatsvertrag höher als die Verfassung und überprüft die Gesetze des Bundesparlaments auf EMRK-konformität, obwohl es an die Verfassung gebunden ist. Mit der Debatte um die Heiratsverbot könnte diese Verfassungsgerichtsbarkeit light zum Politikum werden.

Neuer Kindesschutz leidet unter Wirtschaftskrise

Der Kanton Waadt will das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht nicht wie vorgesehen 2013 in Kraft setzen – als Ausrede dient die Finanzkrise.

Die Nationalbank wird wohl nächstes Jahr keine Gewinne an die Kantone ausschütten können, weil sie mit Milliarden gegen den hohen Euro ankämpfen musste und dabei hohe Buchverluste einfuhr. Bereits jetzt reagiert darauf der Kanton Waadt mit einem eigentümlichen Vorstoss.

Regierungsratspräsident Pascal Broulis bat den Bundesrat in einem Brief darum, das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht nicht wie beschlossen am 1. Januar 2013 in Kraft zu setzen, sondern „ein, ja sogar zwei Jahre“ später. Grund: Die vorgesehene Professionalisierung der Vormundschaftsbehörden führe zu „Mehrkosten von jährlich 4,5 Millionen Franken“. Und das zu einem Zeitpunkt, wo der Geldsegen der Nationalbank ausbliebe und die wirtschaftlichen Aussichten nicht gerade rosig seien. Damit überlade man die kantonalen Finanzen.

Broulis erwähnt mit keinem Wort, dass diese Jahrhundervorlage seit 2008 rechtskräftig beschlossen ist und die Kantone damit schon Jahre Zeit hatten, die Massnahmen umzusetzen. Und dass es seit Jahrzehnten an der Zeit ist, in diesem sensiblen Bereich endlich Laien- durch Fachbehörden zu ersetzen. Denn diese Laienbehörden haben unter anderem jahrzehntelang unschuldige Jugendliche in Gefängnissen versorgt, statt ihnen Hilfe anzubieten.

Nachtrag vom 4. November 2011: Unterdessen hat der Bundesrat beschlossen, trotzdem das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht auf den 1. Januar 2013 in Kraft zu setzen.

Gesetz zur Rehabilitierung

Eine parlamentarische Initiative verlangt ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten. Das Parlament soll das Unrecht anerkennen, das Tausenden von Menschen angetan wurde.

Bis 1981 wiesen Vormundschaftsbehörden Tausende unschuldiger Menschen in Anstalten oder Gefängnisse ein, nur weil sie als arbeitsscheu oder liederlich galten. Gegen die Einweisung konnten sich die Betroffenen nicht einmal vor einem Gericht wehren. Justizblog machte diese Missstände publik und forderte Wiedergutmachung. Am 10. September 2010 entschuldigte sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Nun reagiert auch das Parlament.

Nationalräte sämtlicher Bundesratsparteien und selbst Nationalratspräsident Jean René Germanier FDP verlangen in einer parlamentarischen Initiative ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten. Das Parlament soll das Unrecht anerkennen, das den Betroffenen angetan wurde, für freien Zugang zu den Akten sorgen und sich verpflichten, die Vorgänge historisch aufarbeiten zu lassen, heisst es im Vorstoss von SP-Nationalrat Paul Rechsteiner.

«Es ist an der Zeit, dass auch das Parlament als oberste Gewalt der Schweiz das Unrecht anerkennt, das diesen Menschen angetan wurde», begründet Rechsteiner. Der Staat müsse auch Geld für die Forschung sprechen, «damit dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte endlich aufgearbeitet wird.» Nicht gefordert wird eine finanzielle Wiedergutmachung. «Die Konsequenzen der Aufarbeitung müssen aber später thematisiert werden», meint der Nationalrat. Mit der vorliegenden Initiative werde das Maximum dessen erreicht, was derzeit politisch umsetzbar sei. «Das ist aber viel mehr, als noch vor kurzem vorstellbar war.»

Buch zum Thema: Dominique Strebel, Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen, Beobachter-Buchverlag, 2010, 29 Franken

Wiedergutmachung für administrativ Versorgte naht

Der Regierungsrat des Kantons Bern und der Berner Gemeinderat sprechen sich für einen Härtefallfonds für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aus.

Die Antworten der Exekutiven des Kantons und der Stadt Bern auf parlamentariche Vorstösse sind ein Hoffnungsschimmer für administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Verding- und misshandelte Heimkinder. Auf ein Postulat von Grossrätin Christine Häsler (Grüne) antwortet der Berner Regierungsrat: „Es ist deshalb angezeigt, neben der moralischen Wiedergutmachung auch die Möglichkeiten einer finanziellen Entschädigung zu prüfen. Um schwierige Abrenzungen, Ungleichbehandlungen und damit erneute Ungerechtigkeiten zu vermeiden, sollte gegebenenfalls ein Unterstützungsfonds auf nationaler Ebene eingereichtet werden.“

Gleich tönt es beim Gemeinderat der Stadt Bern als Antwort auf eine Interpellation der Fraktion SVPplus: „Der Gemeinderat hat Verständnis für das Anliegen, in geeigneter Weise Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu rehabilitieren. Sollten sich auf eidgenössischer udn kantonaler Bestrebungen zur Äufnung einees Fonds zur Wiedergutmachung erlittenen Unrechts ergeben, ist der Gemeinderat bereit, eine Beteiligung der Stadt zu prüfen.“

Alles wartet also auf den Bund. Der wird bald Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen. Die SP-Nationalräte Paul Rechsteiner und Jacqueline Fehr bereiten nämlich eine parlamentarische Initiative zum Thema vor.

Betrachtet man die Parteicouleur der Parlamentarier, die in der Sache aktiv waren, erkennt man, dass die Rehabilitierung der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ein überparteiliches Anliegen ist.

Widmer Schlumpfs Entschuldigung

An einem Gedenkanlass in der Strafanstalt Hindelbank haben sich Bund und Kantone endlich für das Unrecht entschuldigt, das administrativ Versorgten angetan wurde. Die Reden im Wortlaut.

Ungewohnte Szenen spielten sich am 10. September ab in der Strafanstalt Hindelbank BE: Frauen und Männer umarmten sich, Tränen in den Augen. Und Justizministerin Widmer-Schlumpf hakte Frauen unter, die vor rund 40 Jahren als Jugendliche ohne Straftat und ohne Urteil in Hindelbank versorgt worden waren. Vormundschaftsämter hatten sie wie Tausende andere weggesperrt, nur weil sie als schwererziehbar, liederlich oder arbeitsscheu galten. Bis 1981 war das gängige Praxis.

Eine Stunde zuvor hatten die rund zwei Dutzend administrativ Versorgten im Prunksaal des Schlosses Hindelbank gespannt Platz genommen. Eine bunt zusammengewürfelte Schar, von der schicken Geschäftsfrau bis zur Ex-Prostituierten oder dem selbständigen Baumaschinenmechaniker. Sie alle eint das Schicksal, wegen Behördenwillkür mit dem Stigma von Straffälligen leben zu müssen – die sie nie waren.

Und dann die entscheidenden Worte der Justizministerin: «Ich möchte Sie im Namen des Bundes um Entschuldigung bitten für das Unrecht, das man ihnen angetan hat.» Die Betroffenen sind sichtlich bewegt, vereinzelt ist Schluchzen zu hören.

Auch der Zürcher Regierungspräsident Hans Hollenstein, der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser und der Aargauer Oberrichter Guido Marbet entschuldigten sich. Sie taten es im Namen der Kantone. Marbet ging gar einen Schritt weiter und verurteilte ausdrücklich die «willkürliche Versorgungspraxis» der damaligen Vormundschaftsbehörden, die «in moralischer Selbstherrlichkeit den ihnen übertragenen Fürsorgeauftrag aufs Schlimmste missachteten».

Nach dem rund einstündigen Gedenkanlass waren die Betroffenen erleichtert: «Endlich können wir die Last der Ungerechtigkeit, die wir jahrelang alleine tragen mussten, an den Staat zurückgeben», sagte Gina Rubeli, die 1970 als 18-Jährige weggesperrt wurde. Ursula Biondi, die 1967 als 17-Jährige in die Anstalt kam, sprach vom «schönsten Tag in meinem Leben». Es dominierte eine Stimmung der Versöhnung.

Offenbar hat die Schweiz ein Verfahren gefunden, wie sie unkompliziert den Opfern von Unrecht vergangener Zeiten moralische Wiedergutmachung zukommen lassen kann. Und genau dies verdienen neben den administrativ Versorgten auch die Zwangssterilisierten, die Verding- und misshandelten Heimkinder – auch sie Betroffene von Zwangsmassnahmen der Fürsorgebehörden. Deshalb müssen sich Bund, Kantone und Gemeinden nun auf gleiche Art auch bei ihnen entschuldigen.

Doch mit einer Entschuldigung allein ist es nicht getan. Dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte muss seinen Platz bekommen im kollektiven Gedächtnis der Schweiz, damit künftig nicht wieder ähnliche Fehler passieren. Nationalfonds und Bund müssen nun also Forschungsgelder sprechen, damit die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen umfassend aufgearbeitet werden können. Gestützt darauf sind neue Kapitel in die Schulbücher einzufügen, und die Dauerausstellung im Landesmuseum muss entsprechend ergänzt werden.

Vor allem aber müssen die Betroffenen Hilfe bekommen, wenn sie nach ihren Akten suchen oder wegen des schlechten Starts ins Leben heute in finanzielle Not geraten.

Die Rede von Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf im Wortlaut: Der Bundesrat entschuldigt sich in aller Form bei den administrativ Versorgten.

Offizielles Pressecommuniqué von Bund und Kantonen mit den Reden von Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser und dem Aargauer Oberrichter Guido Marbet, Präsident der Vormundschaftskonferenz (in der Randspalte anwählbar)

Käser entschuldigte sich im Namen der Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren: Intensive Forschung in den Archiven der Berner Polizeidirektion haben unter anderem zu Tage gebracht, dass sogar vier Betroffen ohne Einweisungsbeschluss eingewiesen wurden.

Oberrichter Guido Marbet entschuldigte sich im Namen der Vormundschaftskonferenz: Er kritisiert offen die damaligen Behörden, die «in moralischer Selbstherrlichkeit den ihnen übertragenen Fürsorgeauftrag aufs Schlimmste missachteten».

Über den Sinn von Wiedergutmachung

Heute Freitag, 10. September 2010, werden die ehemals administrativ Versorgten von Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf offiziell empfangen. Das mediale Gewitter ist programmiert. Wichtig ist aber, dass die Schweiz daraus auch etwas lernt.

Es ist nämlich zu hoffen, dass damit nicht nur ein Mediengewitter sich entlädt, sondern sich in der Sache wirklich etwas bewegt: Dass sich die offizielle Schweiz entschuldigt bei den administrativ Versorgten, Zwangssterilisierten, Verding- und Heimkindern. Bei all jenen Opfern von Zwangsmassnahmen, welche die Sozial- und Vormundschaftsbehörden teilweise bis weit in die 1980er-Jahre verhängen konnten – als Laien ohne gerichtliche Kontrolle.

Weiter muss ein Fonds für Härtefälle eingerichtet werden, die historische Forschung genug Geld bekommen, um dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte gründlich aufzuarbeiten, und auch diese Vergangenheit muss ihren festen Platz in Schulbüchern und im Landesmuseum bekommen.

Damit könnte die Schweiz viel gewinnen: Die Erkenntnis, dass Grundrechte auch in aktuellen aufgeheizten Debatten zu beachten sind. Nur so muss man sich dann 30 Jahre später nicht wieder entschuldigen.

Das gilt heute zum Beispiel für Sans Papiers und Sozialhilfeempfänger. Ab Januar 2011 dürfen in der Schweiz Sans Papiers nicht mehr heiraten. Ehefreiheit adé. Und das neue Zürcher Sozialhilfegesetz sieht vor, dass auch WohnpartnerInnen von Sozialhilfeempfängern den Sozialämtern ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen müssen. Was soll das?

Was früher Sexual- und Arbeitsmoral war – und zu administrativ Versorgten, Zwangssterilisierten und Verdingkindern geführt hat – sind heute Ausländer- und Sozialmissbrauchshysterie. Nicht dass das keine Probleme wären, die man angehen muss, aber auch bei deren Lösung müsste man die Grundrechte beachten. die Ehefreiheit und die persönliche Freiheit.

Dem Thema nahm sich auch der Club im Schweizer Fernsehen am 7. September 2010 an. Und der aktuelle Beobachter

Ein Grundrechtslehrbuch, einmal anders

„Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen“. So heisst das Buch über das Schicksal der administrativ Versorgten. Es ist mehr als ein Schicksalsbuch, es ist ein Plädoyer für die Bedeutung des modernen Sozialstaats und der Grundrechte.

Eine 17-Jährige wurde 1967 in die Strafanstalt Hindelbank gesperrt, weil sie mit einem sieben Jahre älteren Mann ein Kind erwartete; eine 18-Jährige wurde 1970 in der psychiatrischen Klinik Wil ruhig gespritzt und nach Hindelbank versorgt, weil sie gegen die engen Verhältnisse in ihrer Familie und im St. Galler Dorf Altstätten rebellierte; eine 19-jährige wurde 1980 nach Hindelbank gebracht, weil sie ihrer Pflegemutter in der Wut einen Wäschesack nachwarf.

Sie alle sassen ohne Straftat und ohne gerichtliche Überprüfung im Knast. Und wie ihnen ist es Tausenden von so genannt administrativ Versorgten ergangen.

In allen Fällen war dies formal legal: Das ZGB und kantonale Armengesetze sahen entsprechende Massnahmen vor. Doch die Praxis der Sozial- und Vormundschaftsbehörden erschüttert heute. Ohne gerichtliche Überprüfung konnten sie Jugendliche in Gefängnissen und geschlossenen Anstalten versorgen – und das als Laienbehörden.

Heute passiert das nicht mehr, weil die Schweiz die kantonalen Armengesetze aufgehoben und das ZGB revidiert hat – aber erst 1981 unter dem Druck der europäischen Menschenrechtskonvention. Heute verhindert Sozialhilfe, dass „Arbeitsscheue“ weggesperrt werden, heute werden „schwererziehbare“ Jugendliche in spezialisierten Heimen betreut statt in Gefängnissen versorgt. Auf dem Hintergrund der alten menschenrechtswidrigen Praxis erscheinen diese Errungenschaften in einem neuen Licht.

Am 10. September werden Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein (ZH) und Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (BE) 30 administrativ Versorgte in Hindelbank empfangen, um ihnen zu erklären, dass auch die offizielle Schweiz heute der Meinung ist, dass ihnen Unrecht geschehen ist. 

Wer schon heute die Hintergründe besser kennen will, kann sich „Weggesperrt“ ab dem 1. September in jeder guten Buchhandlung beschaffen. Leseproben gibt es unter www.beobachter.ch/weggesperrt

Akten gesichert

Brisante Akten waren von der Vernichtung bedroht, weil hunderte kommunale Vormundschaftsämter aufgehoben werden. Jetzt sind sie gesichert – dank eines Artikels des Beobachters.

«Darf man Schicksale entsorgen?», fragte der Beobachter im Dezember (siehe Artikel zum Thema). Jetzt handelt die Politik. In einem Brief rufen Justizministerin Widmer-Schlumpf und die Präsidenten der Justiz- und der Sozialdirektorenkonferenz die Kantonsregierungen dazu auf, dafür zu sorgen, dass die Akten «betreffend administrative Einweisungen im jeweiligen Kanton und in den zuständigen Gemeinden umgehend gesichert und vor einer Vernichtung geschützt werden». Dies ist ein Erfolg, denn administrativ Eingewiesene von einst brauchen ihre Akten, um zu belegen, wie die Vormundschaftsbehörden mit ihnen umgesprungen sind.

Bleibt zu hoffen, dass so auch Dossiers von Zwangssterilisierten, Verdingkindern und Zwangsadoptierten vor dem Schredder bewahrt werden.

Erschreckendes aus dem Vormundschaftsrecht

Die Schweiz hat die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte erst vor 30 Jahren erkannt. Und Überbleibsel des alten paternalistisch-repressiven Staatsverständnisses finden sich noch heute.

Zur Zeit schreibe ich an einem Buch über administrative Anstaltseinweisungen von „Arbeitsscheuen“, „Liederlichen“ und „Müssigängern“. Bis 1981 konnten Laien im Amt eines Vormundes solche Menschen in Anstalten einweisen, auch wenn sie keine Straftat begangen hatten und ohne dass diese angehört wurden oder sich vor Gericht dagegen hätten wehren können. Erst unter dem Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden diese elementaren Verfahrensgarantien in der Schweiz eingeführt.

Eine erste Erkenntnis: Grundrechte wie die persönliche Freiheit oder der Anspruch auf rechtliches Gehör sind sehr junge Errungenschaften unserer Rechtskultur.

Noch heute gilt „liederlicher Lebenswandel“ als Entmündigungsgrund. Und noch heute haben unter 16-Jährige kein Recht, sich vor einem Gericht gegen eine Einweisung in eine geschlossene Anstalt zu wehren.

Das wird erst die aktuelle Revision des Vormundschaftsrecht beseitigen, die 2008 vom Parlament beschlossen wurde, aber erst im Jahr 2013 in Kraft treten wird. Aber auch in Zukunft werden Kinder bei einer Anstaltseinweisung kein Recht haben, einen unabhängigen Kinderanwalt beizuziehen.

Immerhin werden mit der aktuellen Revision die Laienbehörden im Vormundschaftswesen der Vergangenheit angehören, obwohl sich die Gemeinden noch immer dagegen wehren, dass professionelle Behörden für so sensible Entscheide zuständig sein sollen.

Eine zweite Erkenntnis: Die Mühlen des Vormundschaftsrechts mahlen äusserst langsam.