Landfriedensbruch kein Gaffertatbestand

Das Bezirksgericht Zürich pfeift Polizei und Staatsanwaltschaft mehrfach zurück: Wer bei 
Krawallen bloss zusieht, soll 
straflos bleiben.

Die 18-jährige Christine Meier* hat keinen Polizisten beleidigt, kein Tramhäuschen demoliert, keine Bierflasche geworfen. Bloss zugeschaut. Aus rund hundert Metern Entfernung beobachtete die Gymnasiastin letzten Herbst, wie ein Grossaufgebot von Polizisten am Zürcher Central und am Hauptbahnhof gegen Krawallanten vorging, die an einer öffentlichen Party randalierten. «Ich wollte Zeugin sein, wie die Polizei mit Jugendlichen umgeht, also mit meiner Generation, in meiner Stadt.»

Doch Meier wurde von der Polizei mit Wasserwerfern zu den Randalierern getrieben und dort zusammen mit 90 weiteren Personen verhaftet. Nach 14 Tagen Untersuchungshaft brummte ihr die Staatsanwaltschaft eine bedingte Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken auf – gleich viel wie Heroindealern, schweren Rasern oder notorischen Einbrechern. Der einzige Vorwurf: Die junge Frau sei «Teil einer öffentlichen Zusammenrottung» gewesen und habe «die gewaltbereite Masse mit ihrer physischen Anwesenheit unterstützt» (siehe Justizblog «Krawalle: Hinsehen streng verboten»).

Im Februar nun wurde Christine Meier vom Bezirksgericht Zürich vollumfänglich freigesprochen. Die Videoaufnahmen der Polizei würden belegen, dass sich die Schülerin am Rand des Geschehens bewegt und uninteressiert gewirkt habe, befand der Einzelrichter, der von der SP portiert wurde. Sie sei nur eine Zuschauerin gewesen – und blosses Zuschauen sei in der Schweiz straflos. Für die ungerechtfertigte Haft von 14 Tagen erhielt Meier eine Genugtuung von 2800 Franken.

Bereits Ende Januar war ein 19-jähriger Lehrling von einem Bezirksrichter der SVP vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen worden. Die Anklage genüge «klipp und klar nicht» für eine Verurteilung, rügte der Richter die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. An Beweismitteln sei «null und nichts vorhanden».

Die Bilanz sieht für Polizei und Staatsanwaltschaft nicht gut aus: In drei der fünf bisher beurteilten Fälle haben Richter die Beschuldigten vollumfänglich freigesprochen. In einem Fall reduzierte ein CVP-Bezirksrichter das Strafmass von 160 auf 90 Tagessätze erheblich. Nur einmal wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Strafe bestätigt (90 Tagessätze).

In diesem Fall erachtete ein SVP-Richter das blosse Hinschauen für strafbar. «Der Beschuldigte hielt sich während einer längeren Zeit in der gewaltbereiten Menge auf», begründet er sein Urteil. Weil sich der Student nicht aktiv von der gewaltbereiten Gruppe distanziert habe, habe er sich strafbar gemacht. Der 23-Jährige hat den Entscheid ans Obergericht weitergezogen, weil er nie Teil der gewaltbereiten Gruppe gewesen sei, sondern den Krawallanten nur aus Distanz zugeschaut habe.

Schelte für die Staatsanwaltschaft gibt es nicht nur von Richtern, sondern auch vom Zürcher Strafrechtsprofessor Wolfgang Wohlers. Er erachtet Strafen für blosse Zuschauer als «höchst problematisch», hält er in einem Kurzgutachten fest. So werde ein «von allen polizeirechtlichen Grenzen befreites, generelles Rayon-Verbot» ein geführt – ohne Mitsprache von Volk und Gesetzgeber. Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft missbrauchten den Landfriedensbruch als «Gaffertatbestand», den es in der Schweiz eben gerade nicht gebe, so Wohlers. Und weiter: «Blosse Gaffer, auch wenn sie der Polizei lästig fallen, haben straflos zu bleiben.»

Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft zeigt sich unbeeindruckt. «Offensichtlich beurteilen die Einzelrichter selber die Situation unterschiedlich», sagt Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. Bei zwei der Freisprüche habe man Berufung angemeldet. So werden das Obergericht und wohl zuletzt das Bundesgericht die Frage klären, ob man in der Schweiz nicht zusehen darf, wenn die Polizei gegen Krawallanten vorgeht.

Ärgern werden sich jene, die am Central nur zugeschaut hatten, trotzdem verhaftet und mit hohen Strafen belegt wurden, diese aber vor Gericht nicht angefochten haben. Sie bleiben rechtskräftig verurteilt. 27 Personen haben ihre Strafbefehle akzeptiert, nur sechs haben sich gewehrt.

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