Medienfreiheit: Bundesgericht muss grundsätzlich über die Bücher

Beim Strassburger Entscheid geht es um mehr als nur die versteckte Kamera

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 24. Februar 2015 vier Medienschaffenden recht gegeben: Die Kassensturz-Journalisten durften eine versteckte Kamera einsetzen, um die irreführenden Beratungspraktiken in der Versicherungsbranche aufzudecken. Die Bussen, welche die Schweizer Justiz ausgesprochen hatte, sind EMRK-widrig. Damit erwacht die versteckte Kamera als Recherchemethode aus der Schockstarre, in die sie ein weltfremdes Urteil des Bundesgerichts 2008 versetzt hat. Doch der Entscheid der Strassburger Richter hat Bedeutung weit darüber hinaus.

Medienschaffende, die Recherchen ernst nehmen, stehen regelmässig vor der gleichen Frage: Darf ich Recht brechen, um damit eine Information von öffentlichem Interesse  zu recherchieren und an die Öffentlichkeit zu bringen?

_Diese Frage stellt sich, wenn Medienschaffende mit versteckter Kamera oder Tonband Gespräche aufzeichnen wollen, um einen Missstand glaubwürdig dokumentieren zu können. In der Schweiz ist es strafbar, fremde Gespräche abzuhören oder auf einen Tonträger (Art.179bis StGB) oder Bildträger (Art. 179quater StGB) aufzunehmen.

_Diese Frage stellt sich aber auch, wenn Medienschaffende ein vertrauliches amtliches Dokument in den Händen halten, das brisante Tatsachen belegt, die von öffentlichem Interesse sind. Art. 293 StGB verbietet die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen.

_Diese Frage stellt sich weiter, wenn sich zum Beispiel ein ausländischer Journalist inkognito von Schlepperbanden über die Schweizer Grenze schleusen lässt, um die Zustände hautnah beschreiben zu können. Das Ausländergesetz qualifiziert dies als illegalen Grenzübertritt.

In all diesen Fällen haben Medienschaffende vor einem Schweizer Gericht nur eine Chance, wenn ihnen der Rechtfertigungsgrund der „Wahrung berechtigter Interessen“ zugestanden wird. Und das Gericht steht immer vor der gleichen Frage: Sind das öffentliche Interesse an der Berichterstattung, aber auch die Medien-, Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit wichtiger als der Schutz der Geheimhaltungsinteressen (Privatsphäre, vertrauliche Dokumente, Untersuchungsgeheimnis, Geschäftsgeheimnis, Bankgeheimnis, Amtsgeheimnis etc.)?

Das Bundesgericht gibt in konstanter Praxis der Geheimhaltung mehr Bedeutung als dem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung und gewichtet die Kommunikationsgrundrechte wenig. Zudem wirft es den Medienschaffenden regelmässig vor, dass der Medienbericht nicht nötig oder nicht das mildeste Mittel gewesen sei, um das Informationsinteresse zu erreichen (Verhältnismässigkeit).

_Zitieren Journalisten aus vertraulichen Dokumenten werden sie fast immer bestraft (Art. 293 StGB). Bis heute macht das Bundesgericht nicht einmal zwingend eine Abwägung der Geheimhaltungsinteressen mit dem öffentlichen Interesse an einer Information und dem Gewicht der Medienfreiheit. So etwa im Fall eines Journalisten, der über einen Autounfall auf einer Lausanner Brücke berichtete und sich dabei auf Untersuchungsakten der Staatsanwaltschaft stützte. Das Bundesgericht hat eine Busse gegen ihn wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen bestätigt.

_Lässt sich ein ausländischer Journalist von Schleppern über die Schweizer Grenze schleusen, um die dortigen Missstände zu dokumentieren, wird er wegen illegalen Grenzübertritts bestraft. Das Bundesgericht hat das Informationsinteresse und die Medienfreiheit als zu leicht befunden.(BGE 127 IV 166ff

_Setzten Journalisten eine versteckte Kamera ein, um dubiose Beratungspraktiken zu belegen, wurden sie wegen illegalen Aufnahmen verurteilt. Das Informationsinteresse und die Kommunikationsgrundrechte waren dem Bundesgericht weniger wichtig als der Schutz der Privatsphäre.

Genau da – in dieser Grundsatzfrage – widerspricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Bundesgericht. Und das nicht zum ersten Mal. Strassburg verlangt mehr Gewicht für das Interesse an öffentlicher Information und vor allem für die Medien-, Meinungsaussserungs- und Informationsfreiheit. Kein Wunder, denn Strassburg prüft Menschenrechtsverletzungen, das Bundesgericht hingegen die korrekte Anwendung des Strafrechts. Und da hat das höchste Schweizer Gericht oft eine zu enge Optik, die von Strassburg in menschenrechtlicher Hinsicht korrigiert werden muss.

Bereits im Juli 2014 rüffelte Strassburg das Schweizer Bundesgericht, weil es eine Busse gegen einen Journalisten wegen Verletzung von Art. 293 StGB (Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen) abgesegnet hat. Der Journalist hatte gestützt auf geheime Verhörprotokolle über einen Autounfall auf einer Lausanner Brücke berichtet. Gemäss Strassburg verletzt dieser Bundesgerichtsentscheid die Medienfreiheit. Der Artikel des Journalisten sei von öffentlichem Interesse gewesen, habe weder die Gerichtsverhandlung beeinflusst noch die Unschuldsvermutung verletzt, urteilten die Richter des EGMR. Das Informationsinteresse und die grundsätzliche Bedeutung der Medienfreiheit schwangen obenauf.  Der Fall wurde allerdings von der Schweiz an die grosse Kammer des EGMR weitergezogen.

Genau auf der gleichen Linie liegt nun aber auch das Strassburger Urteil vom 24. Februar 2015 im Fall der versteckten Kamera des Kassensturzes: Der EGMR gewichtet wiederum das öffentliche Interesse höher – diesmal das öffentliche Interesse an einem Bericht über Missstände in der Versicherungsberatung. Und vor allem gibt Strassburg der Medienfreiheit mehr Gewicht und betont ein weiteres Mal die Watchdog-Funktion der Medien. Zudem misst Strassburg der Frage, ob der Bericht nötig oder das mildeste Mittel war, um das öffentliche Interesse an Information zu bedienen, eine geringere Bedeutung bei als das Bundesgericht. Strassburg genügt es, wenn der Medienbericht geeignet war, in einer wichtigen Debatte einen Beitrag zu leisten – unabhängig davon, ob er dieses Ziel auch ganz erreicht („Aux yeux de la Cour, seule importe la question de savoir si le reportage était susceptible de contribuer au débat d’intérêt général et non de savoir si le reportage a pleinement atteint cet objectif.“).

Hingegen legt der Europäische Menschrechtsgerichtshof ein grosses Gewicht auf die journalistischen Sorgfaltspflichten. Nur wenn ein Medienbericht berufsethisch einwandfrei hergestellt, Stellungnahmen eingeholt, die Wahrhaftigkeit angestrebt („veracité“), der Eingriff in die Privatsphäre möglichst klein gehalten wurde (Verpixelung, Stimmverzerrung), ist er für Strassburg des Schutzes würdig. Das wurde übrigens der Sonntagszeitung zum Verhängnis, die auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die nachrichtenlosen Vermögen und das Nazigold zwei Artikel publizierte, in denen einem Schweizer Botschafter gestützt auf ein von ihm verfasstes Strategiepapier vorgeworfen wurde, die Juden zu beleidigen. Die grosse Kammer des EGMR hat die Beschwerde gegen die Verurteilung des Journalisten unter anderem deshalb abgewiesen, weil der Artikel unnötig reisserisch aufgemacht war – und so journalistische Sorgfaltspflichten verletzt hatte. Auf diesem Weg macht Strassburg den Journalistenkodex des Schweizer Presserates zu mitentscheidendem Softlaw.

Weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Medienfreiheit regelmässig höher und die Verhältnismässigkeit des Eingriffs in die Privatsphäre oder andere Geheimhaltungsinteressen tiefer gewichtet, haben auch zwei weitere, pendente Fälle gute Chancen in Strassburg: Der Fall des Journalisten der NZZ am Sonntag, der gebüsst wurde, weil er mit Zitaten aus geheimen Kommissionsprotokollen illustrierte, wie Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf über den damaligen Bundesanwalt Erwin Beyeler dachte (Urteil 6B_186/2012). Und der Fall der BAZ-Journalistin, die gebüsst wurde, weil sie gestützt auf den Quellenschutz den Namen eines Hanfhändlers nicht bekannt geben wollte, den sie porträtiert hatte.

In beiden Fällen geht es auch um die Abwägung von Informationsinteresse, Medienfreiheit auf der einen Seite und Geheimhaltungs- oder Strafverfolgungsinteresse auf der andern Seite. Und deshalb ist es absehbar, dass sich auch in diesen beiden Fällen die Unterschiede der beiden Gerichte in der Gewichtung von Informationsinteresse, Medienfreiheit und Verhältnismässigkeitsprinzip auswirken werden.

Das Bundesgericht täte also gut daran, seine Haltung zum Verhältnis von Geheimhaltungsinteressen auf der einen Seite sowie Informationsinteressen und grundsätzliche Bedeutung der Medienfreiheit auf der andern Seite zu überdenken. Was ist wichtiger: Geheimhaltung oder Transparenz und vierte Gewalt? Da sind wir heute definitiv in einer andern Zeit angekommen.

Der Gesetzgeber täte gut daran, den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen ins Strafgesetzbuch zu schreiben. Denn das Bundesgericht hat nur schon deshalb Hemmungen ihn anzuwenden, weil es ihn selbst erfunden hat und er nirgends in einem Gesetz steht.

Richter müssen mit Namen hinstehen

Journalisten haben einen Anspruch darauf zu erfahren, welche Richter einen Entscheid gefällt haben. Das neueste Präjudiz des Bundesgerichts zeigt, wie schwer sich (andere) Gerichte mit Transparenz tun.

Ein Journalist des Beobachters wollte wissen, welche Richter an einem Grundsatzentscheid von 2005 der damaligen Asylrekurskommission (ARK) beteiligt waren. Es ging in diesem Urteil um die Frage, ob Personen aus Eritrea, die vor dem Armeedienst desertiert sind, als Flüchtlinge gelten. Der Generalsekretär des Bundesverwaltungsgerichts, in das die damalige ARK heute integriert ist, schickte dem Journalisten Auszüge des Urteils, verweigerte aber gestützt auf das Archivierungsreglement des Bundesverwaltungsgerichts (SR 152.13) und den Schutz von Treu und Glauben der damaligen Richter die Bekanntgabe der Namen der Richter.

Das Bundesgericht hält nun klipp und klar fest, dass die Bekanntgabe eines Urteils nicht durch irgendwelche Archivierungsreglemente, sondern einzig durch Art. 30 Abs. 3 BV geregelt wird, der die grundsätzliche Öffentlichkeit der Justiz festlegt.

Und: Der Anspruch der Medien auf Bekanntgabe von Urteilen schliesst gemäss Bundesgericht auch die Namen der beteiligten Richter ein: „Die Kenntnisnahme erstreckt sich grundsätzlich auf das ganze Urteil mit Sachverhalt, rechtlichen Erwägungen und Dispositiv“, schreiben die fünf Bundesrichter. „Eingeschlossen ist auch der Spruchkörper. Die mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz verbundene Kontrollfunktion durch die Rechtsgemeinschaft wäre massgeblich beeinträchtigt oder gar illusorisch, wenn die beteiligten Gerichtspersonen unbekannt bleiben könnten.“ Und dann schreiben die Bundesrichter einen Satz, der ins Stammbuch aller Gerichte gehört: „Richter und Richterinnen üben ein öffentliches Amt aus, haben für die von ihnen getragenen Urteilen einzustehen und sich allfälliger Kritik (…) zu stellen.“

Fürwahr. Leider wurde dies bei vielen Gerichten – nicht nur dem Kantonsgericht Schaffhausen, das die Einsicht ins Dispositif eines Strafurteils gegen einen Physiotherapeuten verweigert – noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Wieviele Bundesgerichtsentscheide braucht es noch, bisauch den unteren Instanzen klar ist, dass Medien in der Regel einen Anspruch auf Einsicht in Urteile haben?

Kraftausdrücke auf Facebook schlimmer als am Stammtisch

Zur Zeit wird in unserer Gesellschaft verhandelt, welche Bedeutung eine Äusserung auf sozialen Netzwerken hat. Ist sie vergleichbar mit einem Spruch am Stammtisch oder wie eine offizielle Publikation? Die Schweizer Justiz geht andere Wege als die britische.

Das Bezirksgericht Zürich hat am 3. Dezember 2012 einen 22jährigen Gymnasiasten wegen „Schreckung der Bevölkerung“ (Art. 258 StGB) zu einer unbedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen à 10 Franken verurteilt. Wie der Tages-Anzeiger berichtete, sass der junge Mann an seinem Geburtstag frustriert vor seinem Computer. Auf seinem Facebook-Profil kündigte er seinen 290 «Freunden» an, dass er es ihnen zurückzahlen werde, wenn sie sich heute nicht über seine Geburt freuen würden. Das sei keine Frage der Freundlichkeit, sondern eine Frage von Respekt und Ehre. Jetzt könne sie niemand mehr schützen. «Päng, Päng, Päng», beendete er seine Statusmeldung.

Ein Mitschüler meldete dies dem Schulleiter, und der Schulleiter erstattete Anzeige. Der junge Mann beteuerte, es sei ein Witz gewesen. Er hätte es nie wahrgemacht. Ein Gutachter bezeichnete ihn als „nicht gefährlich“. Die Richter verurteilten ihn, obwohl sie ihm glaubten, dass er nie zur Tat geschritten wäre. Aber die Äusserung sei geeignet gewesen, die Öffentlichkeit zu erschrecken.

Was also am Stammtisch ein blöder Spruch ist, ist auf Facebook eine Straftat. Daran werden sich Schweizerinnen und Schweizer erst gewöhnen müssen.*

Ganz anders sieht der Direktor der britischen Staatsanwaltschaft, Keir Starmer, am 19. Dezember 2012 die Problematik. Er setzte gemäss NZZ sehr hohe Hürden für Staatsanwälte fest, gegen Äusserungen auf Internetforen wie Twitter oder Facebook vorzugehen. Blosse Beleidigungen, schockierende oder verstörende Äussserungen zählten in der Regel nicht als Klagegründe, empfiehlt er seinen Untergebenen in einer offiziellen Richtline. Es spielt gemäss seinen Leitsätzen keine Rolle, wie geschmacklos oder schmerzhaft solche Aussagen für Einzelne sein könnten. Die Staatsanwälte sollen lediglich gegen Äusserungen im Interent vorgehen, wenn diese eine glaubwürdige Androohung von Gewalttaten gegen Personen oder Sachen entahlten.

Die Richtlinien stiessen in Grossbritannien auf breite Unterstützung. Für Aufsehen hatte der Fall des Bürgers Paul Chambers gesorgt, der im Januar 2010 auf Twitter schrieb: „Mist der Flughafen Robin Hood ist geschlossen. Ihr habt eine Woche Zeit, um eure Angelegenheiten zu ordnen, oder ich blase den Flughafen in die Luft.“ Ein Strafgericht verurteilte ihn wegen dieser Drohung, doch diesen Sommer hob es der Präsident der Gerichte in England und Wales mit der Begrüdung auf, Chambers habe offensichtlich nur dumm herumgealbert.

Staatsanwälte, Gerichte und Gesellschaft sind also in Europa noch arg auf der Suche, wie Social-Media-Äusserungen zu werten sind.

*Nachtrag vom 3. Mai 2015: Das Bundesgericht hat den Fehlentscheid des Zürcher Bezirksgerichts (und nachfolgend des Zürcher Obergerichts) korrigiert und den Betroffenen freigesprochen. Facebook sei nicht mit der Öffentlichkeit gleich zu setzen.

„Bergier-Kommission“ zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen

Der Entwurf für ein Gesetz zur Rehabilitierung administrativ Versorgter sieht eine Art Bergier-Kommission zur Sozialhilfepolitik der Schweiz von 1940 bis 1981 vor. Ein grosser Fortschritt – auf einem langen Weg.

Ende letzter Woche hat das Parlament das Gesetz zur Rehabillitierung administrativ Versorgter  (Rehabilitierung_Erlassentwurf_de) in die Vernehmlassung geschickt (läuft bis 22. Februar 2013). Das Gesetz wurde mit 17 zu 5 Stimmen von der Rechtskommission verabschiedet. Auf Distanz ging die SVP.

Das Gesetz ist ein grosser Schritt vorwärts:

– Es spricht von Rehabilitierung statt nur von Anerkennung von Unrecht und springt damit über den formaljuristischen Schatten (Der Begriff der Rehabilitierung ist für die Aufhebung von Urteilen reserviert. Hier fehlen aber gerade Gerichtsentscheide. Das ist gerade das Problem).

– Es sieht eine Historikerkommission à la Bergier-Kommission vor – und nicht bloss ein weiteres Programm des Nationalfonds. Das ist – wenn es durchkommt – eine ziemliche Sensation! Denn so erhält die Untersuchung der Sozialpolitik der Schweiz mit ihren dunklen Seiten der fürsorgischen Zwangsmassnahmen das nötige Gewicht und hat eine Chance, ins kollektive Bewusstsein der Schweizer Eingang zu finden. Danach müssten die Erkenntnisse aber auch in der Dauerausstellung des Landesmuseum und in den Schulbüchern Aufnahme finden.

Negativ am Entwurf ist, dass das eigentliche Unrecht verniedlicht wird, indem das Parlament den damaligen Behörden einen Persilschein ausstellt – dabei haben sich die damaligen Vormundschaftsbehörden zwar (teilweise) ans schwammig formulierte Gesetz gehalten, aber aus heutiger Sicht Kerngehaltsverletzungen von Grundrechten begangen. Das sind qualifizierte Rechtsverletzung. Das kommt im Entwurf leider nirgends zum Ausdruck.

Wichtig ist, dass die Kantone nicht davon abgehalten werden, finanzielle Wiedergutmachungen, die Einrichtung einer Anlaufstelle oder einen Härtefallfonds weiter zu prüfen. Die Konferenz der Kantone und die Sozialdirektorenkonferenz haben auf diesem nötigen Weg bereits ermutigende Schritte getan.

Verfassungswidrige Praxis der Strafbehörden

Einstellungsverfügungen von Strafbehörden müssen wie Urteile verkündet werden – sicher dann, wenn sie aufgrund einer Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) ergangen sind. Das hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid festgehalten, den der Beobachter publik gemacht hat (1B_70/2012, Erw.3.4).

Die Praxis sämtlicher Kantone,  solche Einstellungsverfügungen nicht öffentlich aufzulegen, widerspricht somit dem verfassungsmässigen Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

Die Kantone Sankt Gallen, Zürich und Bern, die über den Zugang der Medien zu Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB gar erst nach einem langwierigen Stellungnahmeverfahren bei den Betroffenen entscheiden, verhalten sich gar doppelt verfassungswidrig.

Offenbar macht dieser verfassungswidrige Zustand den Strafbehörden nichts aus. Sie empfehlen Journalisten, halt einen Pilotprozess zu führen. Doch: Was soll ein Pilotprozess, wenn das Bundesgericht die Rechtsfrage bereits entschieden hat?

Genau gleich verhalten sich die Strafbehörden der meisten Kantone (Ausnahme Sankt Gallen) bei der Frage, ob Journalisten von Einstellungsverfügungen oder Strafbefehlen eine Kopie anfertigen dürfen. Die Strafbehörden verbieten das den Medien entgegen einem klaren Präjudiz des Bundesgerichts (Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006).

So teilte der Zürcher Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser Justizblog lapidar mit: „Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.“

Nachtrag August 2012: Auf Druck des Recherchenetzwerks investigativ.ch haben einige Strafverfolgungsbehörden ihre Praxis zur Auflage von Einstellungsverfügungen und zur Abgabe einer Kopie geändert.

Blamage für Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft

Die Schlappe von Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft wird immer grösser: Das Bezirksgericht Zürich hat schon den vierten Jugendlichen freigesprochen, den die Strafverfolger wegen Landfriedensbruchs mit hohen Strafen bestraft sehen wollten, obwohl die Beschuldigten nur aus der Ferne einem Krawall zusahen.

Der Krawall am Central von letztem Herbst wird zur Blamage der Zürcher Strafverfolger. Am 14. Juni wurde auch Thomas Haupt (Name geändert) vom Bezirksgericht Zürich freigesprochen.

Haupt war am Samstag 17. September 2011 um Mitternacht  am Central auf rund 1000 Partybesucher und 50 Polizisten getroffen. In Einsatzwagen warteten weitere Gesetzeshüter. Was als Party angekündigt war, sollte sich zur Strassenschlacht entwickeln. Einzelne Krawallanten warfen Bierflaschen gegen Polizisten, die Beamten antworteten mit Wasserwerfern und Gummischrot. Die Auseinandersetzungen dauerten fast zwei Stunden.

Thomas Haupt wich in Nebengassen aus, blieb aber in der Nähe, weil er «das Terrain nicht der Willkür der Polizei überlassen» wollte. Gegen halb zwei Uhr nachts wurde er wegen Landfriedensbruchs verhaftet und danach 14 Tage lang wegen Verdunkelungsgefahr in U-Haft behalten, obwohl er nur aus Distanz den Polizeieinsatz beobachtet hatte..

Haft und Strafe wurden zu Unrecht verhängt, befand das Bezirksgericht Zürich . Das Gericht sprach Thomas Haupt vollumfänglich frei. Blosses Gaffen sei nicht Landfriedensbruch, argumentierten die Richter wie in den drei  Freisprüchen vom Frühling, und gewährten Haupt eine erhöhte Genugtuung von 4000 Franken wegen der unrechtmässiger Haft.

Die Bilanz sieht für Polizei und Staatsanwaltschaft katastrophal aus: In vier der sechs vom Bezirksgericht beurteilten Fälle haben die Richter die Beschuldigten vollumfänglich freigesprochen. In einem Fall reduzierte ein Bezirksrichter das Strafmass von 160 auf 90 Tagessätze erheblich. Nur einmal wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Strafe bestätigt (90 Tagessätze).

Zwei der vier Freisprüche wurden von der Staatsanwaltschaft angefochten. Einer erwuchs in Rechtskraft, im Fall von Thomas Haupt ist noch offen, ob die Staatsanwaltschaft auch ans Obergericht gelangt.

Die Unverfrorenheit der digitalen Monopolisten Facebook + Co

Die digitalen Monopolisten Facebook, Google, Twitter + Co werden zur Bedrohung für Demokratie, Rechtsstaat und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Unterdessen ist es ein Gemeinplatz, dass Persönlichkeits-, Datenschutz- und Urheberrechte im Internet ausgehebelt werden, weil sie schlicht nicht vollzogen werden können. Der Staat als Kontroll- und Deutungsinstanz hat abgedankt. Facebook schreibt die Datenschutzgesetze, Musiktauschbörsen machen das Urheberrecht zu Makulatur, und auf Prangerwebistes schwingen sich einzelne Bürger zu selbst ernannten Richtern auf.

Neu ist nun auch die Tendenz, dass internationale Provider und die digitalen Monopolisten die Meinungsäusserungsfreiheit und damit die für die Demokratie zentrale Freiheit der Meinungsbildung beschränken.

So wurde der Betreiber des Blogs www.eschenring.ch von seinem Provider darüber informiert, dass der Blog innert 48 Stunden umgeschrieben werden müsse, weil es fünf Beschwerden gegeben habe.

Der Blogger erfuhr nicht, wer sich beschwert hat, nur worüber: Eschenring.ch hatte der Polizei in einem Mordfall vorgeworfen, Unschuldige verdächtigt und ihnen keine Einsicht in Akten gewährt zu haben. So schrieb der Blogger unter anderem „Ein heimliches Stasi-Datennetzwerk wird damit betrieben!“ oder „skandalöse Geheimbehörden schüren Angst & Schrecken“ oder „Zuger Behörden stecken tief im Sumpf illegaler Machenschaften“.

Diese Sätze seien umzuschreiben, verlangte der Provider. Ansonsten werde der Blog geschlossen. Diese Forderung war ultimativ. Zu den Vorwürfen konnte der Blogger nicht Stellung nehmen.

So zügelte er den Content für 3000 Franken zu einem andern Provider.

Ähnlich ging es einem Beobachter-Journalisten, der über eine Zürcher Firma schrieb, die Gentests vertrieb. Hier schloss die Blog-Plattform den Blog schon mal vorsorglich. Erst nach Tagen wurde er wieder frei geschaltet.

Diese Vorkommnisse sind nicht einfach nur unangenehm für ein paar Schreiberlinge. Nein, sie zeigen, wie Provider die Meinungsäusserungsfreiheit beschränken können. Ähnlich machen es Facebook, das zum Beispiel eine Diskussionsgruppe zur Ölpest im Golf von Mexiko von 800’000 Leuten kurzerhand schliesst, und Flickr, das eine Foto einer Reportage löscht, die ein rauchendes Strassenkind zeigt.

Doch die digitalen Monopolisten beeinflussen die Meinungsbildung noch viel subtiler: So personalisiert Google die Suchanfragen mittels Algorithmen, die sich nach den früheren Suchanfragen des Nutzers richten. Ähnlich schlägt Facebook neue Freunde und Amazon neue Bücher vor. Der Nutzer nimmt nur noch wahr, was seinen früheren Interessen gleicht. Überraschendes, unerwartetes scheint gar nicht mehr auf.

Der eidgenössische Öffentlichkeits- und Datenschutzbeauftragte hält das für bedenklich und fordert gesetzliche Regelungen, auch wenn es um Globalplayer gehe. Ähnliches beabsichtigen FDP-Nationalrat Peter Malama, SP-Nationalrat Jean-Christophe Schwaab und CVP-Nationalrätin Viola Amherd mit parlamentarischen Vorstössen, die ein Social Media-Gesetz vergleichbar dem RTVG, ein Recht auf Vergessen und eine Verpflichtung zur angemessenen Berücksichtigung der Meinungsvielfalt fordern.

Diese Vorstösse sind in den letzten Wochen eingereicht worden. Davor war Netzpolitik in der Schweiz kein politisches Thema. Zum Glück ist die Schweiz aufgewacht.

Mehr dazu im aktuellen Beobachter. Und an der Veranstaltung von Reporter ohne Grenzen am 3. Mai 2012 im NZZ-Foyer in Zürich.

Landfriedensbruch kein Gaffertatbestand

Das Bezirksgericht Zürich pfeift Polizei und Staatsanwaltschaft mehrfach zurück: Wer bei 
Krawallen bloss zusieht, soll 
straflos bleiben.

Die 18-jährige Christine Meier* hat keinen Polizisten beleidigt, kein Tramhäuschen demoliert, keine Bierflasche geworfen. Bloss zugeschaut. Aus rund hundert Metern Entfernung beobachtete die Gymnasiastin letzten Herbst, wie ein Grossaufgebot von Polizisten am Zürcher Central und am Hauptbahnhof gegen Krawallanten vorging, die an einer öffentlichen Party randalierten. «Ich wollte Zeugin sein, wie die Polizei mit Jugendlichen umgeht, also mit meiner Generation, in meiner Stadt.»

Doch Meier wurde von der Polizei mit Wasserwerfern zu den Randalierern getrieben und dort zusammen mit 90 weiteren Personen verhaftet. Nach 14 Tagen Untersuchungshaft brummte ihr die Staatsanwaltschaft eine bedingte Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken auf – gleich viel wie Heroindealern, schweren Rasern oder notorischen Einbrechern. Der einzige Vorwurf: Die junge Frau sei «Teil einer öffentlichen Zusammenrottung» gewesen und habe «die gewaltbereite Masse mit ihrer physischen Anwesenheit unterstützt» (siehe Justizblog «Krawalle: Hinsehen streng verboten»).

Im Februar nun wurde Christine Meier vom Bezirksgericht Zürich vollumfänglich freigesprochen. Die Videoaufnahmen der Polizei würden belegen, dass sich die Schülerin am Rand des Geschehens bewegt und uninteressiert gewirkt habe, befand der Einzelrichter, der von der SP portiert wurde. Sie sei nur eine Zuschauerin gewesen – und blosses Zuschauen sei in der Schweiz straflos. Für die ungerechtfertigte Haft von 14 Tagen erhielt Meier eine Genugtuung von 2800 Franken.

Bereits Ende Januar war ein 19-jähriger Lehrling von einem Bezirksrichter der SVP vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen worden. Die Anklage genüge «klipp und klar nicht» für eine Verurteilung, rügte der Richter die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. An Beweismitteln sei «null und nichts vorhanden».

Die Bilanz sieht für Polizei und Staatsanwaltschaft nicht gut aus: In drei der fünf bisher beurteilten Fälle haben Richter die Beschuldigten vollumfänglich freigesprochen. In einem Fall reduzierte ein CVP-Bezirksrichter das Strafmass von 160 auf 90 Tagessätze erheblich. Nur einmal wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Strafe bestätigt (90 Tagessätze).

In diesem Fall erachtete ein SVP-Richter das blosse Hinschauen für strafbar. «Der Beschuldigte hielt sich während einer längeren Zeit in der gewaltbereiten Menge auf», begründet er sein Urteil. Weil sich der Student nicht aktiv von der gewaltbereiten Gruppe distanziert habe, habe er sich strafbar gemacht. Der 23-Jährige hat den Entscheid ans Obergericht weitergezogen, weil er nie Teil der gewaltbereiten Gruppe gewesen sei, sondern den Krawallanten nur aus Distanz zugeschaut habe.

Schelte für die Staatsanwaltschaft gibt es nicht nur von Richtern, sondern auch vom Zürcher Strafrechtsprofessor Wolfgang Wohlers. Er erachtet Strafen für blosse Zuschauer als «höchst problematisch», hält er in einem Kurzgutachten fest. So werde ein «von allen polizeirechtlichen Grenzen befreites, generelles Rayon-Verbot» ein geführt – ohne Mitsprache von Volk und Gesetzgeber. Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft missbrauchten den Landfriedensbruch als «Gaffertatbestand», den es in der Schweiz eben gerade nicht gebe, so Wohlers. Und weiter: «Blosse Gaffer, auch wenn sie der Polizei lästig fallen, haben straflos zu bleiben.»

Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft zeigt sich unbeeindruckt. «Offensichtlich beurteilen die Einzelrichter selber die Situation unterschiedlich», sagt Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. Bei zwei der Freisprüche habe man Berufung angemeldet. So werden das Obergericht und wohl zuletzt das Bundesgericht die Frage klären, ob man in der Schweiz nicht zusehen darf, wenn die Polizei gegen Krawallanten vorgeht.

Ärgern werden sich jene, die am Central nur zugeschaut hatten, trotzdem verhaftet und mit hohen Strafen belegt wurden, diese aber vor Gericht nicht angefochten haben. Sie bleiben rechtskräftig verurteilt. 27 Personen haben ihre Strafbefehle akzeptiert, nur sechs haben sich gewehrt.

Wyler/Zopfi akzeptieren Urteil

Die beiden Whistleblowerinnen ziehen ihren Fall nicht an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter, weil die Chancen in Strassburg zu gering seien. 

„Die Gefahr für eine Niederlage ist zu hoch“, begründet Esther Wyler den definitiven Verzicht auf den Gang nach Strassburg. „Das wäre für alle künftigen Whistleblower kontraproduktiv.“ Sie stützt ihren Entscheid auf ein Kurzgutachten des emeritierten Berner Staatsrechtsprofessors Jörg Paul Müller. Der EMRK-Spezialist kam zum Schluss, dass die Chancen einer Beschwerde an den EGMR „nur sehr gering“ sind (vgl. Auszug aus der Stellungnahme von Prof. Jörg Paul Müller).

Die Praxis des Strassburger Gerichts unterscheidet sich beim Whistleblowing kaum von jener des Bundesgerichts. Im Juli letzten Jahres hat der EGMR zwar einer Frau aus Deutschland recht gegeben, die Missstände in einem Pflegeheim öffentlich gemacht hatte. Doch war die Pflegerin zuvor auch an die Staatsanwaltschaft als externe Anlaufstelle gelangt. Das hatten Esther Wyler und Margrit Zopfi nicht gemacht – was ihnen das Bundesgericht vorwarf. „Heute würde ich an die Whistleblower-Beratung des Beobachters oder direkt an den Staatsanwalt gelangen, bevor ich an die Medien ginge“, meint Esther Wyler.

Damit bleibt es bei den Strafen, die das Zürcher Obergericht verhängt und das Bundesgericht Mitte Dezember 2011 bestätigt hatte: Die beiden ehemaligen Mitarbeiterinnen des Zürcher Sozialamtes wurden wegen Amtsgeheimnisverletzung zu bedingten Geldstrafen von je 20 Tagessätzen à 80 Franken verurteilt

Margrit Zopfi und Esther Wyler fordern vom Parlament, dass es nun den Schutz von Whistleblowern verbessert. Bereits diese Woche wird FDP-Nationalrat Filippo Leutenegger eine parlamentarische Initiative einreichen, die das Strafgesetzbuch zu Gunsten von Whistleblowern ändern will. Leutenegger lässt aber offen, ob Whistleblower vor dem Gang an die Medien an eine externe Meldestelle gelangen müssen, um straffrei zu bleiben. Das müsse der Gesetzgeber entscheiden, meint er auf Anfrage.

Zwei Gesetzesvorschläge, die den Kündigungsschutz von Whistleblowern verbessern wollen, liegen im Justizdepartement von Simonetta Sommaruga auf Eis, obwohl das Vernehmlassungsverfahren bereits vor mehr als einem Jahr abgeschlossen wurde.

Hinschauen gleich schlimm wie dealen

Wer bei Krawallen aus der Distanz zuschaut, verdient die gleiche Strafe wie jemand, der mit 25 Gramm 
Heroin handelt oder mehrere Einbrüche begeht – urteilen die Zürcher Strafbehörden.

Christine Meier* und Thomas Haupt* werden Anfang Jahr vor Gericht stehen. Sie haben niemanden verletzt und auch sonst keinerlei Schaden angerichtet. Vorgeworfen wird ihnen, sie seien Mitte September 2011 am Central in Zürich «Teil einer öffentlichen Zusammenrottung» gewesen und hätten damit «die gewaltbereite Masse mit ihrer physischen Anwesenheit unterstützt». Landfriedensbruch heisst das im Juristenjargon.

Der 18-jährigen Christine droht eine bedingte Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken und zusätzlich eine Busse von 1600 Franken. Der 20-jährige Thomas soll 120 Tagessätze à 30 Franken und eine Busse von 800 Franken bezahlen. Damit fordert die Staatsanwaltschaft mehr als dreimal so hohe Strafen, wie sie sonst bei Landfriedensbruch üblich sind.

Für das gleiche Strafmass könnte Christine Meier mit 25 Gramm Heroin handeln, ein paar Einbruch- oder Entreissdiebstähle begehen, schwer betrunken Auto fahren oder sich mit 125 Kilometer pro Stunde innerorts blitzen lassen. «Die Strafen mögen von aussen betrachtet hoch erscheinen», gesteht der Zürcher Oberstaatsanwalt An­dreas Eckert ein. «Aber die Ausschreitungen am Central wollten wir konsequent ahnden.»

Die beiden Schweizer Jugendlichen, die noch nie straffällig geworden sind, verstehen die Welt nicht mehr. «Ich habe doch nichts Unrechtes getan», sagt Christine Meier. Sie hat in jener Nacht keine einzige Bierflasche geworfen, in keiner Art randaliert, sondern nur dagestanden und geschaut. Sie wollte Zeugin sein, wie die Polizei mit Jugendlichen umgeht, also mit ihrer Generation, in ihrer Stadt. «Und jetzt will man mich zur Kriminellen machen.»

Für Meier hatte alles Mitte Juli an einem Fest unter der Zürcher Duttweilerbrücke begonnen. Die junge Frau, die politisch nicht aktiv ist, schätzt solche Outdoor-Partys, weil sie nicht vom Kommerz gesteuert sind, der Eintritt nicht 30 Franken, nicht jeder Drink 15 und nicht jedes Bier zehn Franken kostet wie in einem Club. An jener Party im Hochsommer in einem kaum bewohnten Gebiet habe die Polizei mit einem Grosseinsatz die Musikanlage beschlagnahmt und grundlos mit Tränengas und Gummischrot in die Menge geschossen. Deshalb ging die 18-Jährige Mitte September ans Central, «um ein Zeichen zu setzen gegen solch sinnlose Gewalt der Polizei».

Auch Thomas Haupt ist Freiraum wichtig. «Freiraum heisst, sich vom Druck des Geldes zu befreien, von der Profitgier.» An jenem 17. September 2011 erfuhr er von Freunden per SMS, dass es in Zürich am Central eine Strassenparty gebe. Weil er an jenem Tag nach Zürich umzog, dachte er, es sei eine gute Gelegenheit, am neuen Wohnort Leute kennenzulernen.

Um Mitternacht traf Haupt am Central auf rund 1000 Partybesucher und 50 Polizisten. In Einsatzwagen warteten weitere Gesetzeshüter. Was als Party angekündigt war, sollte sich zur Strassenschlacht entwickeln. Einzelne Krawallanten warfen Bierflaschen gegen Polizisten, die Beamten antworteten mit Wasserwerfern und Gummischrot. Die Auseinandersetzungen dauerten fast zwei Stunden. Thomas Haupt wich in Nebengassen aus, blieb aber in der Nähe, weil er «das Terrain nicht der Willkür der Polizei überlassen» wollte. Gegen halb zwei Uhr nachts wurde er verhaftet.

Christine Meier stand gegen ein Uhr nachts mit Kollegen am Neumühlequai und beobachtete über die Limmat hinweg, wie Randalierer vor dem rund 100 Meter entfernten Hauptbahnhof ein Tramhäuschen demolierten. 20 Minuten später wurde sie mit Wasserwerfern Richtung Platzspitz getrieben, wo sie von beiden Seiten eingekesselt und danach verhaftet worden ist – wie Dutzende anderer Jugendlicher auch (siehe «September 2011: Die Bilanz einer Massenverhaftung», links).

Thomas Haupt und Christine Meier verbrachten 14 Tage in Untersuchungshaft – wegen «Verdunkelungsgefahr». Sie erlebten diese Internierung als Druckmittel, als Beugehaft. «Am dritten Tag forderte mich ein Staatsanwalt auf, eine Strafe wegen Landfriedensbruchs zu akzeptieren», sagt Meier. Sie käme dann mit einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen davon. Das kam für Meier aber nicht in Frage, «weil ich ja gar nichts Unrechtes gemacht hatte». Als die Staatsanwaltschaft Meier nach der 
Untersuchungshaft zu 170 Tagessätzen – also fast der doppelten Strafe – verurteilen wollte, erschien ihr die Justiz wie ein Bazar. Sie hat den Strafbefehl vor Gericht angefochten. «Beugehaft ist verboten», widerspricht Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. Ein Staatsanwalt zeige einem Beschuldigten nur Varianten auf. Das sei normal.

Christine Meier ist noch heute überzeugt, dass die Polizei eine wichtige Funktion habe, aber sie ist von der sinnlosen Gewalt ernüchtert, die diese einsetzt.

Die Stadtpolizei Zürich sieht die Ereignisse im Sommer 2011 anders. Bei der Party unter der Duttweilerbrücke, an der die Polizei unverhältnismässig Gewalt angewendet haben soll, hätten die Jugendlichen mit der Aggression begonnen und Flaschen geworfen. Erst dann hätten die Beamten Gummischrot eingesetzt. Und den Vorwurf, beim Central Unschuldige verhaftet zu haben, kontert Polizeisprecher Marco Cortesi mit der Aussage: «Wer sich stundenlang in einem Gebiet aufhält, wo es 
zu Ausschreitungen kommt, muss damit rechnen, eingekesselt und verhaftet zu werden. Wenn Krawalle länger andauern, muss man sich halt entfernen.»

Diese Auffassung hat zur Konsequenz, dass Teilnehmer Demonstrationen oder öf­fentliche Feste verlassen müssen, wenn Ein­zelne über längere Zeit Gewalt anwenden. So kann die Versammlungsfreiheit durch Krawallanten ausser Kraft gesetzt werden.

Mitverantwortlich für diese Situation ist das Bundesgericht. Es erklärte im Grundsatzentscheid zum Landfriedensbruch, der noch aus dem Jahr 1982 stammt, einzig für straffrei, wer sich als «bloss passiver, von der Ansammlung distanzierter Zuschauer gebärdet». Weil diese offene Formulierung zu ungerechten Verhaftungen führen kann, fordern Strafrechtler wie Günter Stratenwerth oder Stefan Trechsel, dass «blosse Gaffer, auch wenn sie der Polizei lästig fallen, straflos bleiben».

Ähnlich sieht es Jugendanwalt Beat Fritsche, Mediensprecher der Zürcher Jugendstrafrechtspflege. «Wenn sich beweisen lässt, dass ein Beschuldigter am Neumühlequai stand und über die Limmat hinweg zuschaute, wie am Bahnhofquai ein Tramhäuschen demoliert wurde, kann man ihn nicht wegen Landfriedensbruchs verurteilen», meint er deutlich.

Die Jugendanwaltschaft, die minderjährige Straftäter beurteilt, hat denn auch anders reagiert als die Staatsanwaltschaft. Von 20 Strafverfahren im Zusammenhang mit den Ereignissen am Central hat sie bereits sieben eingestellt und nur fünf Strafbefehle erlassen. Acht Verfahren sind noch pendent. Erste Entschädigungen wegen ungerechtfertigter Haft wurden ausbezahlt.

Sollen bei Krawallen auch Zuschauer bestraft werden können, das übliche Strafmass verdreifacht und Untersuchungshaft als Druckmittel eingesetzt werden dürfen? Diese Fragen werden ab Anfang Jahr Gerichte verhandeln – die aller Erfahrung nach die Grundrechte höher einschätzen als Polizei und Staatsanwaltschaft.

September 2011: Die Bilanz einer Massenverhaftung

In der Nacht vom 17. auf den 18. September 2011 hat die Polizei in der Stadt Zürich 91 Jugendliche verhaftet, als es bei einer Party auf öffent­lichem Grund zu Krawallen kam.

  • 25 Jugendliche wurden umgehend wieder freigelassen, weil offensichtlich nichts Straf­bares vorlag.
  • 9 Jugendliche erhalten definitiv keine Strafe, da das Verfahren mangels Beweisen bereits eingestellt wurde.
  • 31 Jugendlichewurden von Staats- und Jugendanwälten zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Das Strafmass liegt zwischen 120 und 180 Tagessätzen bei volljährigen Beschuldigten und zwischen 400 Franken Busse und einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen bei minderjährigen Beschuldigten.22 dieser Strafbefehle wurden rechtskräftig, 9 wurden bereits angefochten und gelangen somit vor Gericht.
  • 26 Strafverfahren sind noch hängig, das heisst, es ist 
unklar, ob sie eingestellt werden, 
in einen rechtskräftigen Strafbefehl münden oder vor Gericht verhandelt werden. Ein Strafverfahren wurde 
an einen anderen Kanton ab­getreten.