Überwachung braucht Kontrolle. Schluss mit Geheimjustiz bei Zwangsmassnahmen

Jetzt sind alle Dämme gebrochen: Strafverfolger sind bereit und willens, Staatstrojaner zur Überwachung einzusetzen. Dabei hat die Kontrolle aber eine entscheidende Lücke: Die Urteile, die den Einsatz bewilligen, gelten als geheim.

Auch Bundesanwalt Michael Lauber würde nicht zögen, „bereits jetzt einen Trojaner zur Überwachung eines Terrorverdächtigen einzusetzen, falls das nötig wäre», wie er unlängst der NZZ am Sonntag sagte. Und die Zürcher Polizei hat letztes Jahr eine Hacker-Software angeschafft, um Staatstrojaner in Computer einzuschleusen.

Alles halb so schlimm, beruhigen die Strafverfolger und der zuständige Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP), denn ein Zwangsmassnahmengericht müsse den Einsatz ja bewilligen. Damit sei die rechtsstaatliche Kontrolle garantiert.

Doch diese Kontrolle hat einen entscheidenden Mangel: Zwangsmassnahmengerichte verweigern die Einsicht in ihre Entscheide. So erfährt die Öffentlichkeit zum Beispiel nicht, mit welcher rechtlichen Begründung die Richter der Zürcher Polizei den Kauf der Hacker-Software bewilligt haben, obwohl das Bundesgericht die rechtliche Grundlage für „fraglich“ und zahlreiche Strafrechtsprofessoren sie als nicht vorhanden bezeichnen. Erst das revidierte Bundesgesetz bezüglich der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs sieht den Einsatz von Staatstrojanern explizit vor. Dieses ist allerdings noch längst nicht in Kraft.

Geheimjustiz widerspricht der Verfassung,. Das betont das Bundesgericht immer wieder. Urteile müssen gemäss Bundesverfassung (Art. 30 Abs. 3 BV) und Europäischer Menschenrechtskonvention (Art. 6 Abs. 1 EMRK) öffentlich verkündet werden, damit „auch nicht verfahrensbeteiligte Dritte nachvollziehen [können], wie gerichtliche Verfahren geführt werden, das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeübt wird.“

Das gilt auch und besonders für Entscheide von Zwangsmassnahmengerichten. Denn die Strafprozessordnung bezeichnet nur das Verfahren vor diesen Gerichten für geheim, nicht aber ihre Urteile. Und gerade Entscheide, die so schwere Grundrechtseingriffe legitimieren (neben Staatstrojanern auch Untersuchungshaft, Telefonüberwachungen etc.), müssen in der Rechtswissenschaft aber auch in der Öffentlichkeit diskutiert werden können. Nur so kann sich eine gefestigte, überlegte und von der Bevölkerung getragene Praxis entwickeln. Und nur so können Anwälte, Mandanten wirksam verteidigen, wenn Überwachungsmassnahmen angeordnet werden.

Womit begründen die Zwangsmassnahmengerichte die Geheimhaltung? „Nach unserer Praxis ist es uns nicht erlaubt, über einzelne Überwachungsmassnahmen oder einzelne Typen von Überwachungsmassnahmen Auskunft zu erteilen“, schreibt das Zürcher Zwangsmassnahmengericht in einer Antwort an die digitale Gesellschaft, die ein Auskunftsgesuch über die Bewilligung von Server-Abhörungen gestellt hatte.

Die Richter argumentieren also wie einst Ludwig XIV: La loi c’est moi. Das spottet aller Prinzipien eines Rechtsstaats und des verfassungsmässigen Prinzips der Justizöffentlichkeit. Und es zeigt exemplarisch, wie nötig in diesem Bereich öffentliche Kontrolle ist.

(Erschienen im Tages-Anzeiger vom 12.12.2015)

Krawall am Central: Revision gegen alle Strafbefehle?

Sechs Jugendliche hatten sich dagegen gewehrt, dass die Staatsanwälte sie wegen Landfriedensbruchs zu hohen Strafen verurteilt hatten. Alle wurden von den Gerichten freigesprochen: Das blosse Gaffen beim Krawall am Central vor einem Jahr sei nicht strafbar. 27 andere Jugendliche hatten genau dasselbe gemacht, aber ihren Strafbefehl nicht angefochten. Sie könnten jetzt Revision verlangen.

Am 18. September 2011 wurden am Zürcher Central 91 Jugendliche von einer übereifrigen Zürcher Polizei verhaftet. 33 davon wurden von der Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruchs mit Strafbefehlen zu bedingten Geldstrafen von bis zu 180 Tagessätzen (der maximalen Kompetenz der Staatsanwälte) veruteilt. Die meisten hatten aber bloss aus mehr als 100 Metern Entfernung über die Limmat hinweg zugeschaut, wie ein paar Krawallanten das Tramhäuschen vor dem Hauptbahnhof beschädigten.

Bloss sechs haben den Strafbefehl mit Einsprache weitergezogen – und prompt wurden alle von den Gerichten freigesprochen. Blosses Gaffen sei kein Landfriedensbruch, befanden verschiedene Einzelrichter am Zürcher Bezirksgericht und das Obergericht. Am Schluss zog die Staatsanwaltschaft selbst die Rechtsmittel zurück, die sie gegen die Freisprüche des Bezirksgerichts eingelegt hatten.

Die 27 Jugendlichen, die ihre Strafbefehle akzeptiert hatten, hatten das Nachsehen. Doch genau ihnen hilft Art. 410 der eidgenössischen Strafprozessordnung:

Art. 410 Zulässigkeit und Revisionsgründe

1 Wer durch ein rechtskräftiges Urteil, einen Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder einen Entscheid im selbstständigen Massnahmenverfahren beschwert ist, kann die Revision verlangen, wenn:

b. der Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht;

Rechtskräftig verurteilte Jugendliche, die ebenfalls bloss gegafft haben, aber jetzt mit einem Strafregistereintrag durchs Leben gehen müssen, könnten also Revision verlangen, weil ihre Verurteilung in „unverträglichem Widerspruch“ zu den Freisprüchen stehen.

Schön und gut, doch wo kein Kläger da kein Recht. Wer genau sagt den 27 Jugendlichen, dass sie Revision verlangen können? Wer hilft ihnen die Gesuche zu stellen?

Liebe Zürcher Strafverteidiger werdet aktiv!

Zürcher Staatsanwaltschaft: Blamage wird noch grösser

Das Zürcher Obergericht hat heute einen weiteren Jugendlichen freigesprochen, den die Zürcher Polizei im September 2011 verhaftetete und die Staatsanwaltschaft nach langer U-Haft wegen Landfriedensbruch mit hohen Strafen verurteilen wollte.

Das Zürcher Obergericht hat einen (reduzierten) Schuldspruch des Bezirksgerichts in einen Freispruch umgewandelt. Wer bei einem Krawall bloss zusieht, begeht keinen Landfriedensbruch, urteilen nun auch die Oberrichter. Die Betroffenen erhalten Genugtuungen von mehreren tausend Franken wegen ungerechtfertigter Haft.

Damit zeichnet sich eine totale Blamage von Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft ab: Die Rechtsauffassung von Polizei und Staatsanwaltschaft, wonach auch blosse Zuschauer Landfriedensbruch begehen, erweist sich als völlig unhaltbar. Bereits das Bezirksgericht hatte vier Jugendliche freigesprochen, wovon einer vom Obergericht ebenfalls heute bestätigt wurde. Damit wurden fünf von sechs Jugendlichen freigesprochen, die Polizei und Staatsanwaltschaft mit hohen Strafen verurteilt sehen wollten.

Damit rüffeln die Gerichte die Strafverfolger durchs Band und vehement. Die Aktion vom letzten September, bei der 33 Jugendliche mit teilweise hohen Strafen belegt wurden, war völlig unverhältnismässig. Bloss 7 haben die Strafbefehle angefochten, 6 davon sind bereits freigesprochen.

Bei der Berichterstattung im unmittelbaren Nachgang fiel der Tages-Anzeiger durch eine undifferenzierte Berichterstattung und naive Kommentierung auf, welche die Argumentation von Polizei  und Staatsanwaltschaft unkritisch übernahm und ausdrücklich verteidigte.

Statt die Aktion von Polizei und Staatsanwaltschaft nun endlich kritisch zu würdigen, weil sie Straftatbestände überdehnte und unverhältnismässig war, stellt das Tages-Anzeiger online Portal die Jugendlichen auch jetzt noch tendenziell als Täter dar. So schreibt die Zeitung im Lead zum jüngsten Freispruch: „Die Geständnisse der Männer reichten aber nicht aus, um sie zu verurteilen.“

Gestanden haben die jungen Männer nur, um aus der U-Haft freizukommen. Das nennt man eigentlich Beugehaft.

Blamage für Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft

Die Schlappe von Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft wird immer grösser: Das Bezirksgericht Zürich hat schon den vierten Jugendlichen freigesprochen, den die Strafverfolger wegen Landfriedensbruchs mit hohen Strafen bestraft sehen wollten, obwohl die Beschuldigten nur aus der Ferne einem Krawall zusahen.

Der Krawall am Central von letztem Herbst wird zur Blamage der Zürcher Strafverfolger. Am 14. Juni wurde auch Thomas Haupt (Name geändert) vom Bezirksgericht Zürich freigesprochen.

Haupt war am Samstag 17. September 2011 um Mitternacht  am Central auf rund 1000 Partybesucher und 50 Polizisten getroffen. In Einsatzwagen warteten weitere Gesetzeshüter. Was als Party angekündigt war, sollte sich zur Strassenschlacht entwickeln. Einzelne Krawallanten warfen Bierflaschen gegen Polizisten, die Beamten antworteten mit Wasserwerfern und Gummischrot. Die Auseinandersetzungen dauerten fast zwei Stunden.

Thomas Haupt wich in Nebengassen aus, blieb aber in der Nähe, weil er «das Terrain nicht der Willkür der Polizei überlassen» wollte. Gegen halb zwei Uhr nachts wurde er wegen Landfriedensbruchs verhaftet und danach 14 Tage lang wegen Verdunkelungsgefahr in U-Haft behalten, obwohl er nur aus Distanz den Polizeieinsatz beobachtet hatte..

Haft und Strafe wurden zu Unrecht verhängt, befand das Bezirksgericht Zürich . Das Gericht sprach Thomas Haupt vollumfänglich frei. Blosses Gaffen sei nicht Landfriedensbruch, argumentierten die Richter wie in den drei  Freisprüchen vom Frühling, und gewährten Haupt eine erhöhte Genugtuung von 4000 Franken wegen der unrechtmässiger Haft.

Die Bilanz sieht für Polizei und Staatsanwaltschaft katastrophal aus: In vier der sechs vom Bezirksgericht beurteilten Fälle haben die Richter die Beschuldigten vollumfänglich freigesprochen. In einem Fall reduzierte ein Bezirksrichter das Strafmass von 160 auf 90 Tagessätze erheblich. Nur einmal wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Strafe bestätigt (90 Tagessätze).

Zwei der vier Freisprüche wurden von der Staatsanwaltschaft angefochten. Einer erwuchs in Rechtskraft, im Fall von Thomas Haupt ist noch offen, ob die Staatsanwaltschaft auch ans Obergericht gelangt.

Landfriedensbruch kein Gaffertatbestand

Das Bezirksgericht Zürich pfeift Polizei und Staatsanwaltschaft mehrfach zurück: Wer bei 
Krawallen bloss zusieht, soll 
straflos bleiben.

Die 18-jährige Christine Meier* hat keinen Polizisten beleidigt, kein Tramhäuschen demoliert, keine Bierflasche geworfen. Bloss zugeschaut. Aus rund hundert Metern Entfernung beobachtete die Gymnasiastin letzten Herbst, wie ein Grossaufgebot von Polizisten am Zürcher Central und am Hauptbahnhof gegen Krawallanten vorging, die an einer öffentlichen Party randalierten. «Ich wollte Zeugin sein, wie die Polizei mit Jugendlichen umgeht, also mit meiner Generation, in meiner Stadt.»

Doch Meier wurde von der Polizei mit Wasserwerfern zu den Randalierern getrieben und dort zusammen mit 90 weiteren Personen verhaftet. Nach 14 Tagen Untersuchungshaft brummte ihr die Staatsanwaltschaft eine bedingte Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken auf – gleich viel wie Heroindealern, schweren Rasern oder notorischen Einbrechern. Der einzige Vorwurf: Die junge Frau sei «Teil einer öffentlichen Zusammenrottung» gewesen und habe «die gewaltbereite Masse mit ihrer physischen Anwesenheit unterstützt» (siehe Justizblog «Krawalle: Hinsehen streng verboten»).

Im Februar nun wurde Christine Meier vom Bezirksgericht Zürich vollumfänglich freigesprochen. Die Videoaufnahmen der Polizei würden belegen, dass sich die Schülerin am Rand des Geschehens bewegt und uninteressiert gewirkt habe, befand der Einzelrichter, der von der SP portiert wurde. Sie sei nur eine Zuschauerin gewesen – und blosses Zuschauen sei in der Schweiz straflos. Für die ungerechtfertigte Haft von 14 Tagen erhielt Meier eine Genugtuung von 2800 Franken.

Bereits Ende Januar war ein 19-jähriger Lehrling von einem Bezirksrichter der SVP vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen worden. Die Anklage genüge «klipp und klar nicht» für eine Verurteilung, rügte der Richter die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. An Beweismitteln sei «null und nichts vorhanden».

Die Bilanz sieht für Polizei und Staatsanwaltschaft nicht gut aus: In drei der fünf bisher beurteilten Fälle haben Richter die Beschuldigten vollumfänglich freigesprochen. In einem Fall reduzierte ein CVP-Bezirksrichter das Strafmass von 160 auf 90 Tagessätze erheblich. Nur einmal wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Strafe bestätigt (90 Tagessätze).

In diesem Fall erachtete ein SVP-Richter das blosse Hinschauen für strafbar. «Der Beschuldigte hielt sich während einer längeren Zeit in der gewaltbereiten Menge auf», begründet er sein Urteil. Weil sich der Student nicht aktiv von der gewaltbereiten Gruppe distanziert habe, habe er sich strafbar gemacht. Der 23-Jährige hat den Entscheid ans Obergericht weitergezogen, weil er nie Teil der gewaltbereiten Gruppe gewesen sei, sondern den Krawallanten nur aus Distanz zugeschaut habe.

Schelte für die Staatsanwaltschaft gibt es nicht nur von Richtern, sondern auch vom Zürcher Strafrechtsprofessor Wolfgang Wohlers. Er erachtet Strafen für blosse Zuschauer als «höchst problematisch», hält er in einem Kurzgutachten fest. So werde ein «von allen polizeirechtlichen Grenzen befreites, generelles Rayon-Verbot» ein geführt – ohne Mitsprache von Volk und Gesetzgeber. Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft missbrauchten den Landfriedensbruch als «Gaffertatbestand», den es in der Schweiz eben gerade nicht gebe, so Wohlers. Und weiter: «Blosse Gaffer, auch wenn sie der Polizei lästig fallen, haben straflos zu bleiben.»

Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft zeigt sich unbeeindruckt. «Offensichtlich beurteilen die Einzelrichter selber die Situation unterschiedlich», sagt Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. Bei zwei der Freisprüche habe man Berufung angemeldet. So werden das Obergericht und wohl zuletzt das Bundesgericht die Frage klären, ob man in der Schweiz nicht zusehen darf, wenn die Polizei gegen Krawallanten vorgeht.

Ärgern werden sich jene, die am Central nur zugeschaut hatten, trotzdem verhaftet und mit hohen Strafen belegt wurden, diese aber vor Gericht nicht angefochten haben. Sie bleiben rechtskräftig verurteilt. 27 Personen haben ihre Strafbefehle akzeptiert, nur sechs haben sich gewehrt.

Hinschauen gleich schlimm wie dealen

Wer bei Krawallen aus der Distanz zuschaut, verdient die gleiche Strafe wie jemand, der mit 25 Gramm 
Heroin handelt oder mehrere Einbrüche begeht – urteilen die Zürcher Strafbehörden.

Christine Meier* und Thomas Haupt* werden Anfang Jahr vor Gericht stehen. Sie haben niemanden verletzt und auch sonst keinerlei Schaden angerichtet. Vorgeworfen wird ihnen, sie seien Mitte September 2011 am Central in Zürich «Teil einer öffentlichen Zusammenrottung» gewesen und hätten damit «die gewaltbereite Masse mit ihrer physischen Anwesenheit unterstützt». Landfriedensbruch heisst das im Juristenjargon.

Der 18-jährigen Christine droht eine bedingte Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken und zusätzlich eine Busse von 1600 Franken. Der 20-jährige Thomas soll 120 Tagessätze à 30 Franken und eine Busse von 800 Franken bezahlen. Damit fordert die Staatsanwaltschaft mehr als dreimal so hohe Strafen, wie sie sonst bei Landfriedensbruch üblich sind.

Für das gleiche Strafmass könnte Christine Meier mit 25 Gramm Heroin handeln, ein paar Einbruch- oder Entreissdiebstähle begehen, schwer betrunken Auto fahren oder sich mit 125 Kilometer pro Stunde innerorts blitzen lassen. «Die Strafen mögen von aussen betrachtet hoch erscheinen», gesteht der Zürcher Oberstaatsanwalt An­dreas Eckert ein. «Aber die Ausschreitungen am Central wollten wir konsequent ahnden.»

Die beiden Schweizer Jugendlichen, die noch nie straffällig geworden sind, verstehen die Welt nicht mehr. «Ich habe doch nichts Unrechtes getan», sagt Christine Meier. Sie hat in jener Nacht keine einzige Bierflasche geworfen, in keiner Art randaliert, sondern nur dagestanden und geschaut. Sie wollte Zeugin sein, wie die Polizei mit Jugendlichen umgeht, also mit ihrer Generation, in ihrer Stadt. «Und jetzt will man mich zur Kriminellen machen.»

Für Meier hatte alles Mitte Juli an einem Fest unter der Zürcher Duttweilerbrücke begonnen. Die junge Frau, die politisch nicht aktiv ist, schätzt solche Outdoor-Partys, weil sie nicht vom Kommerz gesteuert sind, der Eintritt nicht 30 Franken, nicht jeder Drink 15 und nicht jedes Bier zehn Franken kostet wie in einem Club. An jener Party im Hochsommer in einem kaum bewohnten Gebiet habe die Polizei mit einem Grosseinsatz die Musikanlage beschlagnahmt und grundlos mit Tränengas und Gummischrot in die Menge geschossen. Deshalb ging die 18-Jährige Mitte September ans Central, «um ein Zeichen zu setzen gegen solch sinnlose Gewalt der Polizei».

Auch Thomas Haupt ist Freiraum wichtig. «Freiraum heisst, sich vom Druck des Geldes zu befreien, von der Profitgier.» An jenem 17. September 2011 erfuhr er von Freunden per SMS, dass es in Zürich am Central eine Strassenparty gebe. Weil er an jenem Tag nach Zürich umzog, dachte er, es sei eine gute Gelegenheit, am neuen Wohnort Leute kennenzulernen.

Um Mitternacht traf Haupt am Central auf rund 1000 Partybesucher und 50 Polizisten. In Einsatzwagen warteten weitere Gesetzeshüter. Was als Party angekündigt war, sollte sich zur Strassenschlacht entwickeln. Einzelne Krawallanten warfen Bierflaschen gegen Polizisten, die Beamten antworteten mit Wasserwerfern und Gummischrot. Die Auseinandersetzungen dauerten fast zwei Stunden. Thomas Haupt wich in Nebengassen aus, blieb aber in der Nähe, weil er «das Terrain nicht der Willkür der Polizei überlassen» wollte. Gegen halb zwei Uhr nachts wurde er verhaftet.

Christine Meier stand gegen ein Uhr nachts mit Kollegen am Neumühlequai und beobachtete über die Limmat hinweg, wie Randalierer vor dem rund 100 Meter entfernten Hauptbahnhof ein Tramhäuschen demolierten. 20 Minuten später wurde sie mit Wasserwerfern Richtung Platzspitz getrieben, wo sie von beiden Seiten eingekesselt und danach verhaftet worden ist – wie Dutzende anderer Jugendlicher auch (siehe «September 2011: Die Bilanz einer Massenverhaftung», links).

Thomas Haupt und Christine Meier verbrachten 14 Tage in Untersuchungshaft – wegen «Verdunkelungsgefahr». Sie erlebten diese Internierung als Druckmittel, als Beugehaft. «Am dritten Tag forderte mich ein Staatsanwalt auf, eine Strafe wegen Landfriedensbruchs zu akzeptieren», sagt Meier. Sie käme dann mit einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen davon. Das kam für Meier aber nicht in Frage, «weil ich ja gar nichts Unrechtes gemacht hatte». Als die Staatsanwaltschaft Meier nach der 
Untersuchungshaft zu 170 Tagessätzen – also fast der doppelten Strafe – verurteilen wollte, erschien ihr die Justiz wie ein Bazar. Sie hat den Strafbefehl vor Gericht angefochten. «Beugehaft ist verboten», widerspricht Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. Ein Staatsanwalt zeige einem Beschuldigten nur Varianten auf. Das sei normal.

Christine Meier ist noch heute überzeugt, dass die Polizei eine wichtige Funktion habe, aber sie ist von der sinnlosen Gewalt ernüchtert, die diese einsetzt.

Die Stadtpolizei Zürich sieht die Ereignisse im Sommer 2011 anders. Bei der Party unter der Duttweilerbrücke, an der die Polizei unverhältnismässig Gewalt angewendet haben soll, hätten die Jugendlichen mit der Aggression begonnen und Flaschen geworfen. Erst dann hätten die Beamten Gummischrot eingesetzt. Und den Vorwurf, beim Central Unschuldige verhaftet zu haben, kontert Polizeisprecher Marco Cortesi mit der Aussage: «Wer sich stundenlang in einem Gebiet aufhält, wo es 
zu Ausschreitungen kommt, muss damit rechnen, eingekesselt und verhaftet zu werden. Wenn Krawalle länger andauern, muss man sich halt entfernen.»

Diese Auffassung hat zur Konsequenz, dass Teilnehmer Demonstrationen oder öf­fentliche Feste verlassen müssen, wenn Ein­zelne über längere Zeit Gewalt anwenden. So kann die Versammlungsfreiheit durch Krawallanten ausser Kraft gesetzt werden.

Mitverantwortlich für diese Situation ist das Bundesgericht. Es erklärte im Grundsatzentscheid zum Landfriedensbruch, der noch aus dem Jahr 1982 stammt, einzig für straffrei, wer sich als «bloss passiver, von der Ansammlung distanzierter Zuschauer gebärdet». Weil diese offene Formulierung zu ungerechten Verhaftungen führen kann, fordern Strafrechtler wie Günter Stratenwerth oder Stefan Trechsel, dass «blosse Gaffer, auch wenn sie der Polizei lästig fallen, straflos bleiben».

Ähnlich sieht es Jugendanwalt Beat Fritsche, Mediensprecher der Zürcher Jugendstrafrechtspflege. «Wenn sich beweisen lässt, dass ein Beschuldigter am Neumühlequai stand und über die Limmat hinweg zuschaute, wie am Bahnhofquai ein Tramhäuschen demoliert wurde, kann man ihn nicht wegen Landfriedensbruchs verurteilen», meint er deutlich.

Die Jugendanwaltschaft, die minderjährige Straftäter beurteilt, hat denn auch anders reagiert als die Staatsanwaltschaft. Von 20 Strafverfahren im Zusammenhang mit den Ereignissen am Central hat sie bereits sieben eingestellt und nur fünf Strafbefehle erlassen. Acht Verfahren sind noch pendent. Erste Entschädigungen wegen ungerechtfertigter Haft wurden ausbezahlt.

Sollen bei Krawallen auch Zuschauer bestraft werden können, das übliche Strafmass verdreifacht und Untersuchungshaft als Druckmittel eingesetzt werden dürfen? Diese Fragen werden ab Anfang Jahr Gerichte verhandeln – die aller Erfahrung nach die Grundrechte höher einschätzen als Polizei und Staatsanwaltschaft.

September 2011: Die Bilanz einer Massenverhaftung

In der Nacht vom 17. auf den 18. September 2011 hat die Polizei in der Stadt Zürich 91 Jugendliche verhaftet, als es bei einer Party auf öffent­lichem Grund zu Krawallen kam.

  • 25 Jugendliche wurden umgehend wieder freigelassen, weil offensichtlich nichts Straf­bares vorlag.
  • 9 Jugendliche erhalten definitiv keine Strafe, da das Verfahren mangels Beweisen bereits eingestellt wurde.
  • 31 Jugendlichewurden von Staats- und Jugendanwälten zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Das Strafmass liegt zwischen 120 und 180 Tagessätzen bei volljährigen Beschuldigten und zwischen 400 Franken Busse und einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen bei minderjährigen Beschuldigten.22 dieser Strafbefehle wurden rechtskräftig, 9 wurden bereits angefochten und gelangen somit vor Gericht.
  • 26 Strafverfahren sind noch hängig, das heisst, es ist 
unklar, ob sie eingestellt werden, 
in einen rechtskräftigen Strafbefehl münden oder vor Gericht verhandelt werden. Ein Strafverfahren wurde 
an einen anderen Kanton ab­getreten.

„Weltwoche“ plädiert für Beugehaft

Die „Weltwoche“ plädiert offen für die Beugehaft. Journalisten verlieren das Verständnis für den Sinn von Untersuchungshaft.

Wir vertrauen alle darauf: Verhaften darf man uns nur, wenn wir rechtskräftig verurteilt worden sind. Ohne Urteil darf man uns bei begründetem Verdacht nur in Haft nehmen, wenn wir sonst fliehen würden, Beweise vertuschen könnten oder gefährlich sind für die Gesellschaft.

Einen andern Grund für Haft darf es in einem Strafverfahren nicht geben.

Doch, den muss es geben, meint nun die „Weltwoche“ in ihrer ersten Ausgabe des Jahres: Das Erpressen eines Geständnisses.  So lobt sie einen Aargauer Untersuchungsrichter, weil er zwei Linksextremisten sechs Wochen in Haft behielt, weil sie im Verdacht standen, Autos eines SVP-Lokalpolitikers angezündet zu haben.

„Üblich wäre gewesen, dass die beiden Delinquenten alles abstreiten und nach wenigen Tagen wieder auf freien Fuss kommen, ohne sich jemals vor Gericht verantworten zu müssen“, schreibt der Weltwoche-Journalist und bewundert den Untersuchungsrichter, weil er die beiden Verdächtigen in Haft behielt: „Er vertraute auf den Kulturschock, den die beiden Söhne aus reichem Haus im Gefängnis erlebten.“

Die Weltwoche lobt nicht nur, sie stimmt gar eine Hymne an: „Es kam zum ersten Fall in der Geschichte des neueren Schweizer Linksextremismus, bei dem die Täter konsequent verfolgt, verhaftet und überführt wurden.“ (Artikel im Volltext)

Kein Wort darüber, dass eine solche Haft mit dem Zwecke, ein Geständnis zu erzwingen, schlicht illegal ist. Kein Gedanke darüber, dass ein so entstandenes Geständnis vielleicht nicht stimmt – sondern einzig den Zweck hat, aus dem Knast zu kommen.

Leider ist die Weltwoche mit ihrem vorrechtsstaatlichen Verständnis der Untersuchungshaft nicht alleine. Ähnlich verständnislos hat der „Tages-Anzeiger“ argumentiert, als er sich wunderte, weshalb die drei jungen Männer, die in Kreuzlingen bei Gewalt gegen ein wehrloses Opfer gefilmt wurden, nach einem Tag U-Haft wieder auf freien Fuss gesetzt wurden. Und der „Blick“ empörte sich damals mit dem Titel: „Geschnappt – und schon wieder frei!“

Offenbar geht das Verständnis dafür verloren, dass Menschen nur gefangen gehalten werden dürfen, wenn sie entweder rechtskräftig verurteilt sind oder wenn Gefahr besteht, dass sie flüchten, Beweise vernichten oder dass sie für die Gesellschaft generell gefährlich sind.

Alles andere ist illegal. Egal ob es sich um Linksextreme oder Rechtsextreme handelt. Denn mit Ideologie hat das wenig zu tun, sondern mit dem Recht, wie es derzeit halt einfach gilt.