Ein Grundrechtslehrbuch, einmal anders

„Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen“. So heisst das Buch über das Schicksal der administrativ Versorgten. Es ist mehr als ein Schicksalsbuch, es ist ein Plädoyer für die Bedeutung des modernen Sozialstaats und der Grundrechte.

Eine 17-Jährige wurde 1967 in die Strafanstalt Hindelbank gesperrt, weil sie mit einem sieben Jahre älteren Mann ein Kind erwartete; eine 18-Jährige wurde 1970 in der psychiatrischen Klinik Wil ruhig gespritzt und nach Hindelbank versorgt, weil sie gegen die engen Verhältnisse in ihrer Familie und im St. Galler Dorf Altstätten rebellierte; eine 19-jährige wurde 1980 nach Hindelbank gebracht, weil sie ihrer Pflegemutter in der Wut einen Wäschesack nachwarf.

Sie alle sassen ohne Straftat und ohne gerichtliche Überprüfung im Knast. Und wie ihnen ist es Tausenden von so genannt administrativ Versorgten ergangen.

In allen Fällen war dies formal legal: Das ZGB und kantonale Armengesetze sahen entsprechende Massnahmen vor. Doch die Praxis der Sozial- und Vormundschaftsbehörden erschüttert heute. Ohne gerichtliche Überprüfung konnten sie Jugendliche in Gefängnissen und geschlossenen Anstalten versorgen – und das als Laienbehörden.

Heute passiert das nicht mehr, weil die Schweiz die kantonalen Armengesetze aufgehoben und das ZGB revidiert hat – aber erst 1981 unter dem Druck der europäischen Menschenrechtskonvention. Heute verhindert Sozialhilfe, dass „Arbeitsscheue“ weggesperrt werden, heute werden „schwererziehbare“ Jugendliche in spezialisierten Heimen betreut statt in Gefängnissen versorgt. Auf dem Hintergrund der alten menschenrechtswidrigen Praxis erscheinen diese Errungenschaften in einem neuen Licht.

Am 10. September werden Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein (ZH) und Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (BE) 30 administrativ Versorgte in Hindelbank empfangen, um ihnen zu erklären, dass auch die offizielle Schweiz heute der Meinung ist, dass ihnen Unrecht geschehen ist. 

Wer schon heute die Hintergründe besser kennen will, kann sich „Weggesperrt“ ab dem 1. September in jeder guten Buchhandlung beschaffen. Leseproben gibt es unter www.beobachter.ch/weggesperrt

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