Einstellungsverfügungen: Auch Praxisänderung des Bundesanwalts

Die Bundesanwaltschaft legt nun auch Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB öffentlich auf. Ein Erfolg für das Schweizer Recherche-Netzwerk investigativ.ch.

In keinem Kanton werden Einstellungsverfügungen derzeit öffentlich aufgelegt. Die Bundesanwaltschaft geht nun voran und passt sich – nach Intervention von investigativ.ch – dem neuesten Urteil des Bundesgerichts an: Im Entscheid zur Einsicht in die Einstellungsverfügung betreffend Fifa hat das höchste Schweizer Gericht festgehalten, dass Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) öffentlich verkündet werden müssen (Erwägung 3.4 des Entscheides Urteil_BGer_Fifa vom 3.07.2012).

Die Bundesanwaltschaft legt deshalb in Zukunft nicht nur Strafbefehle, sondern auch Einstellungsverfügungen ab Erlass 30 Tage lang in Bern öffentlich auf. Im Unterschied zu den Strafbefehlen sind diese aber anonymisiert.

Verfassungswidrige Praxis der Strafbehörden

Einstellungsverfügungen von Strafbehörden müssen wie Urteile verkündet werden – sicher dann, wenn sie aufgrund einer Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) ergangen sind. Das hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid festgehalten, den der Beobachter publik gemacht hat (1B_70/2012, Erw.3.4).

Die Praxis sämtlicher Kantone,  solche Einstellungsverfügungen nicht öffentlich aufzulegen, widerspricht somit dem verfassungsmässigen Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

Die Kantone Sankt Gallen, Zürich und Bern, die über den Zugang der Medien zu Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB gar erst nach einem langwierigen Stellungnahmeverfahren bei den Betroffenen entscheiden, verhalten sich gar doppelt verfassungswidrig.

Offenbar macht dieser verfassungswidrige Zustand den Strafbehörden nichts aus. Sie empfehlen Journalisten, halt einen Pilotprozess zu führen. Doch: Was soll ein Pilotprozess, wenn das Bundesgericht die Rechtsfrage bereits entschieden hat?

Genau gleich verhalten sich die Strafbehörden der meisten Kantone (Ausnahme Sankt Gallen) bei der Frage, ob Journalisten von Einstellungsverfügungen oder Strafbefehlen eine Kopie anfertigen dürfen. Die Strafbehörden verbieten das den Medien entgegen einem klaren Präjudiz des Bundesgerichts (Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006).

So teilte der Zürcher Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser Justizblog lapidar mit: „Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.“

Nachtrag August 2012: Auf Druck des Recherchenetzwerks investigativ.ch haben einige Strafverfolgungsbehörden ihre Praxis zur Auflage von Einstellungsverfügungen und zur Abgabe einer Kopie geändert.

Fifa-Korruption: Deal mit Strafbehörden soll offen gelegt werden

Das Obergericht des Kantons Zug gibt dem Beobachter recht und will offen legen, weshalb das Strafverfahren gegen die Fifa und zwei weltbekannte Fifa-Funktionäre eingestellt wurde, nachdem diese 5,5 Millionen gezahlt hatten.

Es gibt ein Dokument, das Licht in die Korruption beim Weltfussballverband Fifa bringen kann. Mit der Einstellungsverfügung 2A 2005 31601 vom 11. Mai 2010 stellte die Zuger Staatsanwaltschaft ein Straf­verfahren gegen die Fifa und zwei «weltweit anerkannte Personen des öffentlichen Lebens» wegen Veruntreuung und ungetreuer Geschäftsbesorgung nach Art 53 StGB (Wiedergutmachung) ein – weil die Beschuldigten 
5,5 Millionen Franken Wiedergutmachung zahlten. Sie hatten zugegeben, von der Firma ISL Bestechungsgelder für die Vergabe von TV- und Vermarktungsrechte erhalten zu haben.

Der Beobachter verlangte Einsicht in die Einstellungsverfügung, um zu prüfen, ob Prominente von der Justiz bevorzugt behandelt wurden. Die Zuger Staatsanwaltschaft wollte Transparenz schaffen – unter Angabe der Beträge und der Namen. Doch die Fifa und die beiden Mitbeschuldigten reichten dagegen Beschwerde beim Zuger Obergericht ein.

Auch die Oberrichter haben sich nun für Transparenz entschieden: Es bestehe ein „gewichtiges öffentliches (und weltweites) Interesse an den Umständen, die zur Einstellung des Strafverfahrens im Fall Fifa führten“, schreiben sie in ihrem Entscheid vom 22. Dezember, der dem Beobachter vorliegt. Es müsse von der Öffentlichkeit kontrolliert werden können, „wie sich die Wiedergutmachungssumme von CHF 5,5 Mio zusammensetzt und wer sich in welcher Höhe daran beteiligt hat.“ Bis heute sei es nicht möglich zu prüfen, ob die Fifa und die beiden beteiligten Exekutiv-Mitglieder „in irgendeiner Weise bevorzugt behandelt wurde“ oder ob die Einstellung der Strafuntersuchung „in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht korrekt erfolgte“ (Fifa_Obergericht_Zug).

Deshalb wollen auch die Zuger Oberrichter dem Beobachter die Einstellungsverfügung herausgeben. Die Fifa und die beiden Mitbeteiligten haben nun 30 Tage Zeit, um gegen den Entscheid Beschwerde beim Bundesgericht einzulegen.

Fifa-Chef Sepp Blatter hatte vor zwei Monaten angekündigt, die Einstellungsverfügung Mitte Dezember öffentlich zu machen. Doch geschehen ist nichts.

Nachtrag 27. Dezember 2011, 18:00: Gemäss SDA akzeptiert die Fifa das Urteil. Damit ist aber noch nicht klar, ob die Einstellungsverfügung öffentlich wird, da die beiden mitbeteiligten Fifa-Funktionäre das Urteil als Privatpersonen anfechten können.

Nachtrag 11. Juli 2012: Das Bundesgericht hat die Beschwerde der beiden Fifa-Funktionäre abgewiesen und den Zugang zur Einstlellungsverfügung erlaubt.

Strafrecht bringt Geld für Hilfsorganisationen

Gemeinnützige Organisationen profitieren vom neuen Strafrecht: 2010 erhielten sie drei Millionen Franken aus Wiedergutmachungszahlungen.

Plötzlich eine Million Franken auf dem Postcheckkonto – wer wünscht sich das nicht. Für die Schweizer Patenschaft für Berggemeinden wurde der Wunsch Realität. Am 15. Oktober 2010 rieb sich Barbla Graf, Geschäftsleiterin der Hilfsorganisation, die Augen: Da liegt eine neue Million auf dem Konto. Erst aus der Presse erfährt Graf, dass der Geldsegen vom russischen Milliardär Viktor Vekselberg sowie den beiden Investoren Ronny Pecik und Georg Stumpf stammt.

Die Patenschaft für Berggemeinden wie auch die Schweizer Berghilfe erhielten von den drei Financiers jeweils eine Million Franken. Dazu überwies das Trio acht Millionen ans Eidgenössiche Finanzdepartement (EFD). Dies aber nicht freiwillig: Mit dieser Geldsumme kauften sich die drei Beschuldigten von einem Strafverfahren wegen Börsendelikten frei. Das EFD stellte darauf das Verfahren wegen Wiedergutmachung (Art. 53 Strafgesetzbuch) ein.

«Wir haben uns über das Geld natürlich gefreut», meint Barbla Graf von der Patenschaft für Berggemeinden. «Woher das Geld stammt und weshalb es gezahlt wurde, stört uns nicht. Es ist Geld wie jedes andere auch.» Bemerkenswert ist das Resultat dennoch: Ein russischer Milliardär und zwei österreichische Investoren unterstützen nun also Wasserversorgungen, Kindergärten und Lawinenverbauungen in Schweizer Berggemeinden, weil sie bei der Übernahme der Firma Sulzer Anlass zu einer Strafuntersuchung wegen Meldepflichtverletzungen gaben.

Auf diese Art hat das EFD in den letzten neun Monaten drei weitere Verfahren erledigt: gegen die Unternehmer Giorgio Behr und Dieter Meier sowie gegen die Firma Laxey/Implenia. Insgesamt flossen 9,25 Millionen Franken an Wiedergutmachungszahlungen in die allgemeine Bundeskasse und zusätzliche drei Millionen an gemeinnützige Organisationen.

Ein gutes Geschäft für alle also. Werden diese strafrechtlichen Ablasszahlungen nun also zum Normalfall? «Nein», sagt EFD-Mediensprecher Roland Meier, «wir wenden diese Art von Einstellung von Strafverfahren zurückhaltend und nur auf Initiative der Beschuldigten an». Die Wiedergutmachungszahlungen liegen gemäss Meier zudem im oberen Bereich realistischer Bussen, die bei einer Verurteilung zu erwarten gewesen wären.

Dass die Wiedergutmachung Ausnahme und nicht Regel ist, bestätigt auch die Statistik: Von Oktober 2010 bis Juni 2011 hat das EFD 14 Strafanzeigen wegen Widerhandlungen gegen das Börsengesetz eingereicht, davon nur zwei wegen Wiedergutmachungen eingestellt und erste Bussen ausgesprochen.

Gesetz zur Rehabilitierung

Eine parlamentarische Initiative verlangt ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten. Das Parlament soll das Unrecht anerkennen, das Tausenden von Menschen angetan wurde.

Bis 1981 wiesen Vormundschaftsbehörden Tausende unschuldiger Menschen in Anstalten oder Gefängnisse ein, nur weil sie als arbeitsscheu oder liederlich galten. Gegen die Einweisung konnten sich die Betroffenen nicht einmal vor einem Gericht wehren. Justizblog machte diese Missstände publik und forderte Wiedergutmachung. Am 10. September 2010 entschuldigte sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Nun reagiert auch das Parlament.

Nationalräte sämtlicher Bundesratsparteien und selbst Nationalratspräsident Jean René Germanier FDP verlangen in einer parlamentarischen Initiative ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten. Das Parlament soll das Unrecht anerkennen, das den Betroffenen angetan wurde, für freien Zugang zu den Akten sorgen und sich verpflichten, die Vorgänge historisch aufarbeiten zu lassen, heisst es im Vorstoss von SP-Nationalrat Paul Rechsteiner.

«Es ist an der Zeit, dass auch das Parlament als oberste Gewalt der Schweiz das Unrecht anerkennt, das diesen Menschen angetan wurde», begründet Rechsteiner. Der Staat müsse auch Geld für die Forschung sprechen, «damit dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte endlich aufgearbeitet wird.» Nicht gefordert wird eine finanzielle Wiedergutmachung. «Die Konsequenzen der Aufarbeitung müssen aber später thematisiert werden», meint der Nationalrat. Mit der vorliegenden Initiative werde das Maximum dessen erreicht, was derzeit politisch umsetzbar sei. «Das ist aber viel mehr, als noch vor kurzem vorstellbar war.»

Buch zum Thema: Dominique Strebel, Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen, Beobachter-Buchverlag, 2010, 29 Franken

Wiedergutmachung für administrativ Versorgte naht

Der Regierungsrat des Kantons Bern und der Berner Gemeinderat sprechen sich für einen Härtefallfonds für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aus.

Die Antworten der Exekutiven des Kantons und der Stadt Bern auf parlamentariche Vorstösse sind ein Hoffnungsschimmer für administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Verding- und misshandelte Heimkinder. Auf ein Postulat von Grossrätin Christine Häsler (Grüne) antwortet der Berner Regierungsrat: „Es ist deshalb angezeigt, neben der moralischen Wiedergutmachung auch die Möglichkeiten einer finanziellen Entschädigung zu prüfen. Um schwierige Abrenzungen, Ungleichbehandlungen und damit erneute Ungerechtigkeiten zu vermeiden, sollte gegebenenfalls ein Unterstützungsfonds auf nationaler Ebene eingereichtet werden.“

Gleich tönt es beim Gemeinderat der Stadt Bern als Antwort auf eine Interpellation der Fraktion SVPplus: „Der Gemeinderat hat Verständnis für das Anliegen, in geeigneter Weise Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu rehabilitieren. Sollten sich auf eidgenössischer udn kantonaler Bestrebungen zur Äufnung einees Fonds zur Wiedergutmachung erlittenen Unrechts ergeben, ist der Gemeinderat bereit, eine Beteiligung der Stadt zu prüfen.“

Alles wartet also auf den Bund. Der wird bald Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen. Die SP-Nationalräte Paul Rechsteiner und Jacqueline Fehr bereiten nämlich eine parlamentarische Initiative zum Thema vor.

Betrachtet man die Parteicouleur der Parlamentarier, die in der Sache aktiv waren, erkennt man, dass die Rehabilitierung der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ein überparteiliches Anliegen ist.

Checkbuchjustiz: Transparenz im Fall Vekselberg

Die Begründung, weshalb das Strafverfahren gegen den Milliardär Viktor Vekselberg eingestellt wurde, steht auf wackligen Füssen und wirft neue Fragen auf. Der Beobachter stellt die Einstellungsverfügung ins Internet.

Das eidgenössische Finanzdepartement ermittelte gegen den Milliardär Viktor Vekselberg sowie die österreichischen Investoren Ronny Pecik und Georg Stumpf, weil diese beim Kauf von Sulzer-Aktien die Meldepflicht nach Börsengesetz verletzt haben sollen.

Am 18. Oktober 2010 stellte der Rechtsdienst des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD) das Strafverfahren hingegen ein, weil Vekselberg, Pecik und Stumpf je eine Million Franken an die Schweizer Berghilfe und die Schweizer Patenschaft für Berggemeinden sowie weitere 8 Millionen ans EFD gezahlt hatten.

Viele Politiker zeigten sich empört, dass sich die finanzstarken Investoren von einem Strafverfahren freikaufen konnten. SVP-Nationalrat Rudolf Joder fordert deshalb mit einer parlamentarischen Initiative bereits die Streichung der Wiedergutmachung aus dem Strafgesetzbuch.

Das Strafverfahren wurde nach Artikel 53 des Strafgesetzbuches erledigt. Diese Bestimmung aus dem Jahre 2007 erlaubt es, Strafverfahren einzustellen, wenn es um eine Strafe von weniger als 24 Monaten geht, eine Wiedergutmachung geleistet wird und wenn sowohl das Interesse der Geschädigten wie auch jenes der Öffentlichkeit an einer Strafverfolgung gering sind.

Dem Beobachter liegt nun die Einstellungsverfügung mit detaillierter Begründung vor.

Das EFD sieht im Fall Vekselberg alle Voraussetzungen erfüllt. Vekselberg, Pecik und Stumpf hätten einen blanken Strafregisterauszug, deshalb sei eine bedingte Strafe für die Meldepflichtverletzung nach Börsengesetz, die ihnen vorgeworfen wurde, wahrscheinlich gewesen. Damit wäre die Strafe sicher unter 24 Monaten gelegen. Die drei Beschuldigten hätten zudem eine Wiedergutmachung geleistet – zum einen an wohltätige Institutionen, zum andern an das Finanzdepartement, „damit dieser Betrag im Interesse sämtlicher Marktteilnehmer zur Sicherstellung und Stärkung eines funktionierenden Finanzmarktes verwendet wird.“ Damit hätten „die Beschuldigten alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um das von ihnen bewirkte Unrecht im Sinne von Art. 53 StGB auszugleichen.“

Das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung von Vekselberg, Stumpf und Pecik stuft das Finanzdepartement zudem als gering ein. Die Strafverfolger kommen zu diesem Schluss, weil 2007, als die Beschuldigten sich strafbar gemacht haben sollen, noch nicht geklärt gewesen sei, ob so genannte „cash settlement Optionen“ auch unter die Meldepflicht des Börsengesetzes fallen. Heute besteht im revidierten Börsengesetz klar eine Meldepflicht. „Das öffentliche Interesse an einer Klärung dieser Fragen basierend auf der Rechtslage im Frühjahr 2007 ist deshalb gering“, folgert nun das EFD.

Diese Argumentation erstaunt: Nur weil heute das neue Recht klar stellt, dass das vorgeworfene Verhalten strafbar ist, entfällt das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nach altem Recht nicht. Angesichts der heutigen unmissverständlichen Strafbarkeit der vorgeworfenen Meldepflichtsverletzung würde sich ein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung von Vekselberg, Pecik und Stumpf im Gegenteil umso stärker aufdrängen.

Die Verfügung kann unter www.beobachter.ch/vekselberg heruntergeladen werden

Checkbuchjustiz adé?

Zwei parlamentarische Vorstösse fordern die Streichung oder die Beschränkung der Wiedergutmachung im Schweizer Strafrecht.

Fifa-Funktionäre kauften sich für 5,5 Millionen, Milliardär Viktor Vekselberg und Partner für 10 Millionen und Ex-Armeechef Roland Nef für eine unbekannte Summe von Strafverfahren frei. Das hat nun Folgen: Nationalrat Rudolf Joder (SVP) verlangt mit einer parlamentarischen Initiative die Streichung von Artikel 53 des Strafgesetzbuches, der dies ermöglicht. Ratskollege Daniel Vischer (Grüne) will den Artikel mit einer Motion massiv einschränken: Freikaufen dürfe sich ein Täter nur, wenn er geständig ist und eine Strafe von weniger als 12 Monaten zu erwarten hat (derzeit 24).

Dies forderten die Strafverfolger bereits im August 2009 in einer Umfrage des Justizdepartements. Das Zürcher Obergericht hielt damals fest, der Artikel «bevorzugt wirtschaftlich potente Beschuldigte». Trotzdem fand Art. 53 StGB nicht Eingang in die laufende Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches.

Die Resultate der damaligen Umfrage sind eine Fundgrube für alle politisch interessierten Strafrechtler. Ein guter Überblick dazu gibt auch die Zusammenfassung des EJPD.

Über den Sinn von Wiedergutmachung

Heute Freitag, 10. September 2010, werden die ehemals administrativ Versorgten von Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf offiziell empfangen. Das mediale Gewitter ist programmiert. Wichtig ist aber, dass die Schweiz daraus auch etwas lernt.

Es ist nämlich zu hoffen, dass damit nicht nur ein Mediengewitter sich entlädt, sondern sich in der Sache wirklich etwas bewegt: Dass sich die offizielle Schweiz entschuldigt bei den administrativ Versorgten, Zwangssterilisierten, Verding- und Heimkindern. Bei all jenen Opfern von Zwangsmassnahmen, welche die Sozial- und Vormundschaftsbehörden teilweise bis weit in die 1980er-Jahre verhängen konnten – als Laien ohne gerichtliche Kontrolle.

Weiter muss ein Fonds für Härtefälle eingerichtet werden, die historische Forschung genug Geld bekommen, um dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte gründlich aufzuarbeiten, und auch diese Vergangenheit muss ihren festen Platz in Schulbüchern und im Landesmuseum bekommen.

Damit könnte die Schweiz viel gewinnen: Die Erkenntnis, dass Grundrechte auch in aktuellen aufgeheizten Debatten zu beachten sind. Nur so muss man sich dann 30 Jahre später nicht wieder entschuldigen.

Das gilt heute zum Beispiel für Sans Papiers und Sozialhilfeempfänger. Ab Januar 2011 dürfen in der Schweiz Sans Papiers nicht mehr heiraten. Ehefreiheit adé. Und das neue Zürcher Sozialhilfegesetz sieht vor, dass auch WohnpartnerInnen von Sozialhilfeempfängern den Sozialämtern ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen müssen. Was soll das?

Was früher Sexual- und Arbeitsmoral war – und zu administrativ Versorgten, Zwangssterilisierten und Verdingkindern geführt hat – sind heute Ausländer- und Sozialmissbrauchshysterie. Nicht dass das keine Probleme wären, die man angehen muss, aber auch bei deren Lösung müsste man die Grundrechte beachten. die Ehefreiheit und die persönliche Freiheit.

Dem Thema nahm sich auch der Club im Schweizer Fernsehen am 7. September 2010 an. Und der aktuelle Beobachter

Ein Grundrechtslehrbuch, einmal anders

„Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen“. So heisst das Buch über das Schicksal der administrativ Versorgten. Es ist mehr als ein Schicksalsbuch, es ist ein Plädoyer für die Bedeutung des modernen Sozialstaats und der Grundrechte.

Eine 17-Jährige wurde 1967 in die Strafanstalt Hindelbank gesperrt, weil sie mit einem sieben Jahre älteren Mann ein Kind erwartete; eine 18-Jährige wurde 1970 in der psychiatrischen Klinik Wil ruhig gespritzt und nach Hindelbank versorgt, weil sie gegen die engen Verhältnisse in ihrer Familie und im St. Galler Dorf Altstätten rebellierte; eine 19-jährige wurde 1980 nach Hindelbank gebracht, weil sie ihrer Pflegemutter in der Wut einen Wäschesack nachwarf.

Sie alle sassen ohne Straftat und ohne gerichtliche Überprüfung im Knast. Und wie ihnen ist es Tausenden von so genannt administrativ Versorgten ergangen.

In allen Fällen war dies formal legal: Das ZGB und kantonale Armengesetze sahen entsprechende Massnahmen vor. Doch die Praxis der Sozial- und Vormundschaftsbehörden erschüttert heute. Ohne gerichtliche Überprüfung konnten sie Jugendliche in Gefängnissen und geschlossenen Anstalten versorgen – und das als Laienbehörden.

Heute passiert das nicht mehr, weil die Schweiz die kantonalen Armengesetze aufgehoben und das ZGB revidiert hat – aber erst 1981 unter dem Druck der europäischen Menschenrechtskonvention. Heute verhindert Sozialhilfe, dass „Arbeitsscheue“ weggesperrt werden, heute werden „schwererziehbare“ Jugendliche in spezialisierten Heimen betreut statt in Gefängnissen versorgt. Auf dem Hintergrund der alten menschenrechtswidrigen Praxis erscheinen diese Errungenschaften in einem neuen Licht.

Am 10. September werden Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein (ZH) und Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (BE) 30 administrativ Versorgte in Hindelbank empfangen, um ihnen zu erklären, dass auch die offizielle Schweiz heute der Meinung ist, dass ihnen Unrecht geschehen ist. 

Wer schon heute die Hintergründe besser kennen will, kann sich „Weggesperrt“ ab dem 1. September in jeder guten Buchhandlung beschaffen. Leseproben gibt es unter www.beobachter.ch/weggesperrt