Bundesgericht zum Zugang zu Urteilen: Jetzt müssen Staatsanwaltschaften Praxis ändern


In einem neuen Leitentscheid zum Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) hat das Bundesgericht festgehalten, dass Gerichte auch Einsicht in nicht rechtskräftige Urteile gewähren müssen. Damit ist wohl auch die weit verbreitete Praxis von Staatsanwaltschaften verfassungswidrig, Strafbefehle erst nach Rechtskraft zugänglich zu machen.

Art. 30 Abs. 3 der Bundesverfassung hält lapidar fest, dass „Gerichtsverhandlungen und Urteilsverkündung öffentlich“ sind. Daraus hat das Bundesgericht in den letzten Jahren in konstanter Rechtsprechung eine Praxis entwickelt, die konsequent der Transparenz verpflichtet ist:

  1. Nicht nur Urteile, sondern auch Strafbefehle und Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) sind öffentlich zu machen.
  2. Der Zugang zu Urteilen ist zeitlich unbefristet zu gewähren.
  3. Urteile sind nicht erst ab Rechtskraft, sondern bereits ab Erlass öffentlich zu machen.

Diesen letzten dritten Punkt hat das Bundesgericht mit seinem Entscheid vom 21. Juni 2016 geklärt (1C_123/2016 BGE_Zugang_zu_nichtrechtskräftigen_Urteilen_16_06_21), den Stefanie Hablützel, SRF-Redaktorin und Co-Präsidentin investigativ.ch, erfolgreich erstritten hat. Es hält darin unmissverständlich fest: „Mit ihrer Praxis, die Einsicht auf rechtskräftige Urteile zu beschränken, untergräbt die Vorinstanz die Kontrollfunktion der Medien.“ Die Praxis, nur rechtskräftige Urteile öffentlich zu machen, habe zwei Nachteile. Zum einen: „Bei schriftlich geführten Verfahren ohne mündliche Urteilsverkündung wird eine zeitnahe Gerichtsberichterstattung ausgeschlossen.“ Zum andern: „Bei von der Rechtsmittelinstanz aufgehobenen Urteilen wird den Medien eine Kenntnisnahme sogar gänzlich verunmöglicht, obwohl sich die Justizkritik auch auf aufgehobene Urteile beziehen kann.“

Und in einer Klarheit, die ins Stammbuch aller Gerichte und Staatsanwaltschaften gehört, schreiben die höchsten Bundesrichter : „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Urteile grundsätzlich generell bekanntzugeben oder zur Kenntnisnahme bereitzuhalten sind.“

Klar macht das Bundesgericht auch, dass schriftliche Urteile zu veröffentlichen sind, auch wenn sie in öffentlicher Verhandlung gefällt wurden: Die verschiedenen Formen, ein Urteil zu verkünden, seien „gleichwertig“. Dazu gehöre auch „die nachträgliche Gewährung der Einsicht auf Gesuch hin.“(Erw. 3.6)

Damit sagt das Bundesgericht indirekt auch, dass der Zugang zu anonymisierten Urteilen zeitlich unbeschränkt ist – wie dies bereits das Obergericht Schaffhausen festgestellt hat.

Dieser Entscheid hat Signalwirkung nicht nur für die Bündner Gerichte, die im konkreten Fall betroffen sind und ihre Praxis ändern müssen, sondern auch für zahlreiche andere kantonale Gerichte.

Und auch für jene Staatsanwaltschaften, die nur rechtskräftige  Strafbefehle öffentlich auflegen – etwa in den Kantonen Luzern, Bern und Zürich sowie in der Bundesanwaltschaft. Sie sollten nun ihre Praxis überdenken. Die Staatsanwaltschaften der Kantone St. Gallen und Basel-Stadt legen Strafbefehle bereits heute ab Erlass auf.

Zwar könnte man – wie etwa Ex-NZZ-Bundesgerichtskorrespondent Markus Felber  – argumentieren, Strafbefehle würden erst mit Rechtskraft urteilsähnlich und unterstünden somit erst ab da Art. 30 Abs. 3 BV. Doch stützt sich diese Rechtsauffassung weder auf einen Verfassungs- noch einen Gesetzesartikel noch ein höchstrichterliches Präjudiz. Im Gegenteil: Sie widerspricht unter anderem Art. 69 Abs. 2 StPO, der erklärt, Strafbefehle seien öffentlich einsehbar, um damit den Mangel zu heilen, dass Strafbefehle nicht wie Urteile öffentlich verkündet werden. Die Einsicht in Strafbefehle ist also ein Surrogat zur öffentlichen Verkündigung, die notabene nicht rechtskräftige Urteile betrifft. Zudem würden die vom Bundesgericht in obigem Entscheid aufgezeigten schweren Mängel der Justizkontrolle bei Strafbefehlen bestehen bleiben: Über nicht rechtskräftige Strafbefehle wäre dann keine zeitnahe Berichterstattung möglich oder der Zugang zu den nicht rechtskräftigen Strafbefehlen wäre gar ganz unterbunden, wenn die Rechtsmittelinstanz den Strafbefehl aufhebt – dann wird er nämlich nie rechtskräftig.

Auch der Verweis auf BGE 133 IV 112, den einige Verwaltungsstrafbehörden anfügen, um erst rechtskräftige Strafbefehle öffentlich zu machen, ist unbehelflich. Der Entscheid hält zwar fest, dass Strafbescheide nach Verwaltungsstrafrecht Parallelen zum Strafbefehl und erst die Strafverfügung als erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art.70 Abs. 3 StGB aufweist. Doch betrifft der Entscheid nur verjährungsrechtliche Fragen. Damit ist nicht entschieden, ob ein (nicht rechtskräftiger) Strafbescheid nicht auch Art. 30 Abs. 3 BV – also dem Verkündigungsprinzip – untersteht. Art. 69 Abs. 2 StPO, der gerade festhält, dass eben auch Strafbefehle zu verkündigen sind (obwohl sie nicht öffentlich eröffnet werden), deutet darauf hin, dass Urteile und Strafbefehle vom Gesetzgeber gleich behandelt werden sollen. Das heisst: Genau wie nicht rechtskräftige Urteile sollen auch nicht rechtskräftige Strafbefehle zu verkündigen sein.

Zu diesem Resultat kommen auch Professor Urs Saxer und Simon Thurnherr im Kommentar zu Art. 69 Abs. 2 StPO, RZ 39.Kommentar_StPO_69_2.

Einmal mehr staunt der Beobachter, dass in der Frage der Justizöffentlichkeit jedes noch so kleine Detail via Bundesgericht herausgeklagt werden muss. Wie wenn die Justizbehörden ihr ureigenes Produkt – das Urteil, den Strafbefehl – vor der Öffentlichkeit möglichst verstecken möchten.

Nachtrag I vom 14. September 2016: Mit dem Bundesgerichts-Entscheid zum Fall Cresta Run habe ich mich auch in Medialex 7-8/2016 befasst und die Tragweite detaillierter (und noch juristischer) ausgeleuchtet: „Mit diesem Urteil vollzieht das Bundesgericht einen eigentlichen Paradigmenwechsel: weg vom reinen Verkündungs- hin zum Kenntnisnahmeprinzip. Entscheidend ist nicht, ob ein Urteil überhaupt einmal öffentlich gemacht worden ist, sondern ob die Art der Verkündung «die verfassungsrechtlich gebotene Kenntnisnahme erlaubt».“ Den ganzen Medialex-Text zum Download: anmerkungen_zu_1c_123_2016_def

Nachtrag II vom 1. März 2017: Nicht rechtskräftige Strafbefehle müssen erst öffentlich zugänglich sein, wenn das Strafbefehlsverfahren abgeschlossen ist. Das hat im Oktober 2016 das Luzerner Kantonsgericht entschieden. Meines Erachtens ist dieser Entscheid juristisch korrekt. In diesem Punkt habe ich meine Meinung geändert und dies in diesem Post begründet.

Swissmedic erleichtert den Zugang zu Strafentscheiden

Seit Anfang Jahr mailt Swissmedic registrierten Journalistinnen und Journalisten vierteljährlich eine Liste aller  Strafbescheide, Strafverfügungen und Einstellungsverfügungen, die das Schweizerische Heilmittelinstitut in den vorangegangenen drei Monaten erlassen hat. Gestützt darauf können Medienschaffende gezielt einzelne Entscheide anfordern, die ihnen per Mail zugestellt werden.

Die vierteljährlich vermailte Liste der Swissmedic-Entscheide ist zwar anonymisiert, enthält aber detaillierte Angaben zu den betroffenen Unternehmen und Personen. Die registrierten Journalisten können gestützt darauf während drei Monaten gezielt einzelne Strafbescheide und Strafverfügungen anfordern, die – sofern sie rechtskräftig sind – in nicht-anonymisierter Form zugemailt werden. Einstellungsverfügungen erhalten die Journalisten nur in anonymisierter Form, ausser wenn die Einstellung aus Opportunitäts- oder Verjährungsgründen erfolgte. Nicht-rechtskräftige Entscheide werden nicht zugemailt (aber offenbar auf der Liste aufgeführt).

Die Regelung von Swissmedic ist ein grosser Fortschritt, denn bei den meisten kantonalen Staatsanwaltschaften erfahren die Medienschaffenden gar nicht, welche Entscheide die Strafverfolger gefällt haben – ausser sie gehen regelmässig in deren Büros vorbei. Und dort liegen die Entscheide nur zwischen 7 und 30 Tagen auf (je nach Kanton verschieden). Zudem sind oft nicht einmal Kopien möglich.

Bei Swissmedic können sich Journalisten nun mit vertretbarem Aufwand ein Bild der Rechtspraxis machen und erhalten einfach und schnell Einsicht in nicht-anonymisierte Strafentscheide. Das ist wichtig bei einer Aufsichtsbehörde, die im Heilmittelbereich Strafmassnahmen verfügen kann – zum Beispiel gegen Online-Anbieter, die Medikamente ohne Rezept abgeben, gegen Pharmaunternehmen, die Ärzte mit Vorteilen ködern oder wenn Medikamente illegal eingeführt werden.

Aber wie jede Regelung steckt der Teufel im Detail:

Entscheidend für das Funktionieren der neuen Regelung wird sein, wie detailliert Swissmedic die Fälle in der vierteljährlich versandten Liste umschreibt. Denn Journalisten müssen sich über die Tragweite eines Falles ein Bild machen können. Zudem verpflichtet Swissmedic die registrierten Journalisten „sich in konkreten Fällen an Auflagen bzw. Weisungen der Swissmedic zu halten, inbesondere solche zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte betroffener Personen resp. schutzwürdiger Geheimhaltungsinteressen betroffener Unternehmen“. Auch da wird sich noch zeigen müssen, wie restriktiv dies Swissmedic handhabt. Weiter ist offen, wie Swissmedic Gesuche behandeln wird, mit denen Journalisten Zugang zu Strafentscheiden verlangen, die älter als drei Monate sind.

Zu bedauern ist grundsätzlich, dass Journalisten keinen Zugang zu nicht-rechtskräftigen Strafentscheiden erhalten. Damit verletzt Swissmedic das Verkündigungsgebot von Art. 30 Abs. 3 der Bundesverfassung. Diese Bestimmung orientiert sich nämlich an der mündlichen Urteilsverkündigung, wo der anwesenden Öffentlichkeit Urteile kundgetan werden, die notabene nicht rechtskräftig sind. Viele kantonale Staatsanwaltschaften handhaben das genauso verfassungswidrig.

Doch trotzdem ist die neue Zugangsregelung des Heilmittelinstituts ein wichtiger Schritt zu mehr Justizöffentlichkeit, an der sich die kantonalen Staatsanwaltschaften ein Vorbild nehmen können

Hier geht es zur Registierung.

Deklaration von Interessenbindungen: Der Autor hat als Berater an der Entwicklung des neuen Zugangssystems mitgearbeitet.