Sieg für die Transparenz in St. Gallen

Im Kanton St. Gallen müssen Strafbefehle an Medien herausgegeben, wenn nicht ein überwiegendes privates Interesse dagegensteht. Ein Sieg für die Medienfreiheit – erkämpft vom Beobachter.

Der erste Staatsanwalt des Kantons St. Gallen, Thomas Hansjakob, hatte Anfang Jahr einen Bürger den Beobachter und Justizblog mit knappen Sätzen abgewimmelt: Nein, den Strafbefehl gegen zwei Jugendliche, die mit Tempo 260 auf der Autobahn und 160 innerorts vor der Polizei geflohen sind, dürfe man nicht einsehen, denn darauf bestehe kein Anspruch.

Dagegen wehrte sich der Beobachter – mit Erfolg: Die Anklagekammer des Kantons St. Gallen hat Ende Juni 2011 festgehalten, dass in Strafbefehle grundsätzlich «Einsicht zu gewähren ist, sofern keine überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen». Im konkreten Fall haben die Richter diese Interessenabwägung gleich selbst gemacht: Weil der Beobachter nur einen anoymisierten Entscheid verlange, gebe es gar kein Interesse, den Strafbefehl geheim zu halten. Fazit: «Die Staatsanwaltschaft hat den Strafbescheid in anonymisierter Form auszuhändigen.»

Damit ist auch klar, dass die Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Einsicht und der Geheimhaltung in Zukunft vom Staatsanwalt allein gemacht werden muss – ohne dass der Beschuldigte zur Stellungnahme eingeladen wird.
Das ist erfreulich. Der Entscheid ist rechtskräftig.

Damit kann man unterdessen im Kanton St. Gallen wie in Luzern und Basel Strafbefehle innert nützlicher Frist und ohne Kosten einsehen. In den Kantonen Zürich, Zug und Bern hingegen wird weiterhin ein langwieriges kostspieliges Verfahren durchgeführt, das Justizkontrolle verunmöglicht.

Unkontrollierbare Strafjustiz in St. Gallen

 

Im Kanton St. Gallen darf man nicht wissen, wie ein Raser bestraft wurde, der mit 260 kmh über die Autobahn und mit 160 kmh durch Dörfer fuhr.

Mit so einer Abfuhr hätte Martin Meier (Name geändert) nicht gerechnet. Dabei wollte er nichts Unsittliches vom ersten Staatsanwalt des Kantons St. Gallen. Nur eine Auskunft. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass zwei Jugendliche ohne Fahrausweis mit einer Geschwindigkeit von 260 Stundenkilometern auf der Autobahn und mit 160 Stundenkilometer innerorts vor der St. Galler Polizei geflohen waren. Meier hatte die Strafverfolger gefragt, „welche Belohnung diese Schurken für diese Raserei erhalten haben.“ Nach fast einem Jahr und einem zweiten Brief erhielt der Rentner Antwort: „Da ich nicht davon ausgehe, dass Sie mit der ausgesprochenen Strafe zufrieden wären, weil sie wohl deutlich unter Ihren Erwartungen liegt, verzichte ich auf nähere Angaben“, antwortete Dr. iur. Thomas Hansjakob, erster Staatsanwalt des Kantons St. Gallen, in knappen sechs Zeilen.

„Ist es möglich und zulässig, dass derart krasse Straftaten ‚hinter verschlossenen Türen’ behandelt werden können, und die Öffentlichkeit darüber nichts mehr erfahren darf?“, fragte Meier. Eigentlich nicht. Immer wieder hat das Bundesgericht betont, dass auch Strafentscheide von Staatsanwälten öffentlich gemacht werden müssen. Eine solche Justizkontrolle bedeute „eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz“. Und das eidgenössische Strafprozessordnung hält seit Anfang Jahr unmissverständlich fest, dass jedermann auch Einsicht in Strafbefehle nehmen kann. Das ergibt sich gemäss der juristischen Fachzeitschrift plädoyer aus den Materialien zum neuen Art. 69 StPO (vgl. plädoyer 2/11, Seite 6). Doch offenbar hält sich der Kanton St. Gallen nicht daran.

Nun versuchte ich es als Journalist. Medien können auch berechtigte Interessen wie die Justizkontrolle geltend machen, Aber Thomas Hansjakob wies auch dieses Einsichtsgesuch ab – immerhin brauchte er diesmal nur einen Tag. Der Strafverfolger befand, dass es im Interesse des damals knapp 18-jährigen Beschuldigten liege, den Entscheid geheim zu halten. Und dieses Interesse sei wichtiger als jenes der Öffentlichkeit an der Information.

Seinen Schnellentscheid hat der Staatsanwalt nicht nur kaum begründet, sondern dabei auch vergessen, dass man den Namen des Betroffenen problemlos anonymisieren könnte. Ich möchte den Jugendlichen nämlich nicht an den Pranger stellen, sondern die Arbeit der Staatsanwaltschaft kontrollieren und zum Beispiel klären, wie es trotz der massiven Tempoüberschreitungen zu einem so milden Urteil kommen kann. Staatsanwälte können nämlich nur tiefe Strafen – oft bedingte Geldstrafen – selbst ausfällen. Aber vielleicht gibt es gute Gründe für die Milde. Dies zu erklären wäre wichtig, damit die Bürger das Strafrecht verstehen und kompetent abstimmen können. Bereits haben 110’000 Personen die eidgenössische Initiative „Schutz vor Rasern“ unterschrieben. Wird diese Initiative angenommen, müssen Raser zwingend ein bis vier Jahre ins Gefängnis, auch wenn es noch so gute Gründe für tiefere Strafen gäbe. Doch statt ihre Praxis zu erklären, schiebt die St. Galler Staatsanwaltschaft Täterschutz vor und verschanzt sich vor der Öffentlichkeit.

Geheimniskrämerei herrscht auch bei den Strafverfolgern der Kantone Zürich, Zug und Bern (vgl. Justizblog berichtete). Und schweizweit werden inzwischen mehr als 95 Prozent aller Strafurteile von Staatsanwälten gefällt, weniger als 5 Prozent von Gerichten. Viele Gerichte stellen ihre Entscheide ins Internet. Staatsanwälte hingegen geben nicht einmal auf Gesuch hin Auskunft. Da stimmt etwas grundsätzlich nicht. Deshalb verlangt nun in Bern Grossrat Harald Jenk per Interpellation Auskunft über die intransparente Praxis. Und der Entscheid des St. Galler Staatsanwalts Thomas Hansjakob wurde angefochten.

Nachtrag Juli 2011: Die Beschwerde gegen den Entscheid des Staatsanwalts Hansjakob war erfolgreich: Strafbefehle können im Kanton St. Gallen nun herausverlangt werden. Dies hat das St. Galler Appellationsgericht entschieden. Mehr dazu hier.