Strassburg ächzt unter 150’000 Beschwerden

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) leistet Erstaunliches: Im Jahr 2010 haben die 47 Richter, 250 Gerichtsschreiber und rund 300 weiteren Angestellten total 41 183 Beschwerden entschieden.

Doch das genügte nicht: Rund 20’000 Beschwerden, die im Laufe des Jahres 2010 an den EGMR gerichtet wurden, konnten nicht behandelt werden. Der Pendenzenberg stieg somit auf mehr als 150’000 Beschwerden. 94150 Beschwerden liegen derzeit bei einem Einzelrichter, 9400 vor einem 3-er-Gremium, 47700 vor der Kammer mit 7 Richtern.

Auf dem EGMR lasten grosse Hoffnungen der Bürger in den 47 Mitgliedstaaten des Europarates: Jede Minute, Tag und Nacht, schreibt jemand dem Gerichtshof für Menschenrechte. Und alle 10 Minuten wird eine neue Beschwerde registriert. Doch für die Beschwerdeflut sind vor allem sieben Mitgliedstaaten verantwortlich – gegen sie richten sich 72 Prozent aller Fälle, die restlichen 28 Prozent der anhängigen Fälle richten sich gegen die restlichen 40 Staaten.

1. Russland: 28% der Fälle, 2. Türkei: 11%, 3. Rumänien: 9%, 4. Italien: 8%, 5. Ukraine: 7%, 6. Polen: 5% und 7. Serbien: 3%

EMRK: Gutes von den „fremden Richtern“

Die „fremden Richter“ in Strassburg haben der Schweiz bessere Richter gebracht, die Verfahren beschleunigt, die Meinungsäusserungsfreiheit und die Verfahrensrechte gestärkt.

Nach der Abstimmung über die Minarettinitiative schlug die SVP vor, notfalls die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen, wenn die Schweiz in Strassburg deswegen eine Verurteilung kassieren würde.

Das ist kurzsichtig, denn unterdessen gibt es kaum eine Gesellschaftsgruppe in der Schweiz, die nicht von der EMRK profitiert hat: Seien es Tierschützer, Homosexuelle, Adoptionskinder, Fichenopfer, Ausländer, Kunsthändler, Rechtsextreme, Linke, Erben eines Steuerhinterziehers oder Satelliten-TV-Liebhaber – der Gerichtshof schützte ihre Menschenrechte.

Wenn wir also dereinst darüber nachdenken, ob wir die EMRK kündigen, falls Strassburg nicht akzeptieren sollte, dass wir den Bau von Minaretten verbieten – und wir damit aber eigentlich meinen, dass auch Muslime sich an die Grundrechte halten sollen –, dann sollten wir uns daran erinnern, wie viel die «fremden Richter» gerade für diese Grundrechte getan haben.

Für die Ehefreiheit zum Beispiel, die wir durch Zwangsheiraten unter Muslimen bedroht sehen. Es waren die Strassburger Richter, die den Schweizer Gerichten 1987 sagen mussten, dass ein dreijähriges Eheverbot nach einer Scheidung das Menschenrecht der Ehefreiheit verletzt.

Den ganzen Leistungsausweis der EMRK im aktuellen Beobachter.