Höchstrichterlicher Freipass für Pharma-Geschenke an Ärzte

Eigentlich dürfen Ärzte keine „geldwerten Vorteile“ annehmen, wenn sie Medikamente verschreiben. Mit dieser Regel wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Pharmafirmen mit Geschenken Einfluss auf  Ärzte und Apotheker nehmen. Das Bundesgericht zieht dem Gesetz nun aber die Zähne: Wenn Ärzte geldwerte Vorteile annehmen, können sie nicht bestraft werden. Die Strafnorm sei nämlich zu wenig bestimmt und deshalb nicht anwendbar, meint das Bundesgericht.

Seit Jahren geht das Schweizer Heilmittelinstitut Swissmedic gegen Ärzte und Apotheker vor, die von Pharmafirmen „Geschenke“ annehmen. Es tut dies gestützt auf Art. 33 Absatz 2 des Heilmittelgesetzes HMG, der im Abschnitt „Werbung und Preisvergleiche“ steht:

2 Personen, die Arzneimittel verschreiben oder abgeben, und Organisationen, die solche Personen beschäftigen, dürfen für die Verschreibung oder die Abgabe von Arzneimitteln geldwerte Vorteile weder fordern noch annehmen.

Deshalb führte Swissmedic verschiedene Verfahren gegen Ärzte und Apotheker und sprach Bussen aus. Dafür stützte es sich auf die Übertretungsnorm des Heilmittelgesetzes:

Art. 87 Übertretungen

1 Mit Haft oder mit Busse bis zu 50 000 Franken wird bestraft, wer vorsätzlich:

b. gegen die Bestimmungen über die Werbung für Arzneimittel verstösst;

 In zwei Entscheiden hat das Bundesgericht dieser Praxis nun die Grundlage entzogen. Im April 2012 stellte die II. öffentlich-rechtliche Abteilung fest, dass Art. 33 HMG Swissmedic keine Kompetenz gebe, gegen Pharmafirmen zu ermitteln, die unzulässige Rabatte an Ärzte und Apotheker gewähren (Art. 33 Abs. 3 HMG). Dafür sei der Artikel zu wenig klar.

Nun erklärt die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in einem Entscheid vom 11. Dezember 2012 den Artikel 87 Abs. 1 Bst. b HMG für zu wenig bestimmt und deshalb nicht anwendbar, weil die Strafnorm den sanktionierten Gesetzesartikel (Art. 33 Abs. 2 HMG) nicht ausdrücklich nenne.

Die fünf Bundesrichter begründen diese neue Praxis – die weitreichende Folgen im ganzen Verwaltungsstrafrecht haben wird – , ohne sich auch nur mit einem Wort mit der juristischen Lehre auseinandergesetzt zu haben.

Die einhellige Lehre ist nämlich anderer Meinung: Mark Pieth in der Schweizer  Ärztezeitung 2002 (und analog im Basler Kommentar zum StGB 2007): Diese Sondernorm [Art. 33 HMG] in einem verwaltungsrechtlichen Erlass ist ihrerseits durch die Strafbestimmungen des Heilmittelgesetzes (Art. 87) abgesichert“. Urs Saxer im Basler Kommentar zum HMG 2006: „Der Arzt eines öffentlichen Spitals, der geldwerte Vorteile im Zusammenhang mit der Arzneimittelabgabe annimmt, verletzt daher nebst Art. 33 allenfalls auch einen Straftatbestand gemäss Art.322ter ff. StGB.“ Gleicher Meinung sind Urs Jaisli und Benedikt Suter. Eine abweichende Meinung wird in keinem Kommentar vertreten.

Nach diesem Entscheid des Bundesgerichts reibt man sich die Augen: Apotheker und Ärzte können also derzeit unbehelligt von Swissmedic geldwerte Vorteile von Pharmafirmen entgegennehmen. Da hat offenbar das Parlament massiv gepatzert und ein völlig untaugliches Gesetz erlassen. Der unmittelbare Schaden für die Bekämpfung von unerwünschten Geschenken von Pharmafirmen an Ärzte wird sich in Grenzen halten, denn die Lücke wird durch die HMG-Revision bald behoben (vgl. Artikeln 57a + 57b und 86a E-HMG). Der Entwurf ist bereits in der Vernehmlassung.

Zahlreiche laufende Verfahren von Swissmedic hängen nun aber in der Luft. Zudem schafft das Bundesgericht mit diesem Entscheid einen umfassenden Überprüfungs- und Revisionsbedarf im Verwaltungsstrafrecht: Selbst bei Übertretungstatbeständen gilt nun gemäss Bundesgericht die strenge Anforderung, dass die sanktionierte Norm ausdrücklich genannt werden muss. Diese Voraussetzung erfüllen zahlreiche Verwaltungserlasse nicht.  Art. 71 des Gewässerschutzgesetzes etwa bedroht generell mit Busse, wer „in anderer Weise diesem Gesetz zuwiderhandelt“. Und Art. 90 Ziff. 1 des Strassenverkehrsgesetzes bestraft denjenigen mit Busse, „der Verkehrsregeln dieses Gesetzes“ verletzt. Das sind immerhin die Artikel 26 bis 57 des SVG! Solche allgemeinen Binnenverweise sind im Nebenstrafrecht völlig üblich.

Erstaunlich ist dabei, dass diese Erwägung des Bundesgerichts in der amtlichen Sammlung nicht publiziert wird. Amtlich veröffentlicht wird einzig die (begrüssenswerte) Neuerung der Praxis zur Verjährung: Neu läuft die Verjährung auch bei einem freisprechenden vorinstanzlichen Entscheid nicht mehr weiter (vgl. Erwägung 1 des BGE vom 11. Dezember 2012).

Erstaunlich ist zudem, dass kein einziges Schweizer Medium diese Entscheide des Bundesgerichts vertieft aufgegriffen hat. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmet dem Thema Woche für Woche lange Artikel. So hat es vermeldet, dass in Deutschland in den letzten Jahren mehr als tausend Korruptionsverfahren gegen Ärzte eingeleitet wurden. Ob dies in der Schweiz so anders ist?

Verfassungswidrige Praxis der Strafbehörden

Einstellungsverfügungen von Strafbehörden müssen wie Urteile verkündet werden – sicher dann, wenn sie aufgrund einer Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) ergangen sind. Das hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid festgehalten, den der Beobachter publik gemacht hat (1B_70/2012, Erw.3.4).

Die Praxis sämtlicher Kantone,  solche Einstellungsverfügungen nicht öffentlich aufzulegen, widerspricht somit dem verfassungsmässigen Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

Die Kantone Sankt Gallen, Zürich und Bern, die über den Zugang der Medien zu Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB gar erst nach einem langwierigen Stellungnahmeverfahren bei den Betroffenen entscheiden, verhalten sich gar doppelt verfassungswidrig.

Offenbar macht dieser verfassungswidrige Zustand den Strafbehörden nichts aus. Sie empfehlen Journalisten, halt einen Pilotprozess zu führen. Doch: Was soll ein Pilotprozess, wenn das Bundesgericht die Rechtsfrage bereits entschieden hat?

Genau gleich verhalten sich die Strafbehörden der meisten Kantone (Ausnahme Sankt Gallen) bei der Frage, ob Journalisten von Einstellungsverfügungen oder Strafbefehlen eine Kopie anfertigen dürfen. Die Strafbehörden verbieten das den Medien entgegen einem klaren Präjudiz des Bundesgerichts (Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006).

So teilte der Zürcher Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser Justizblog lapidar mit: „Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.“

Nachtrag August 2012: Auf Druck des Recherchenetzwerks investigativ.ch haben einige Strafverfolgungsbehörden ihre Praxis zur Auflage von Einstellungsverfügungen und zur Abgabe einer Kopie geändert.

Fifa-Korruption: Deal mit Strafbehörden soll offen gelegt werden

Das Obergericht des Kantons Zug gibt dem Beobachter recht und will offen legen, weshalb das Strafverfahren gegen die Fifa und zwei weltbekannte Fifa-Funktionäre eingestellt wurde, nachdem diese 5,5 Millionen gezahlt hatten.

Es gibt ein Dokument, das Licht in die Korruption beim Weltfussballverband Fifa bringen kann. Mit der Einstellungsverfügung 2A 2005 31601 vom 11. Mai 2010 stellte die Zuger Staatsanwaltschaft ein Straf­verfahren gegen die Fifa und zwei «weltweit anerkannte Personen des öffentlichen Lebens» wegen Veruntreuung und ungetreuer Geschäftsbesorgung nach Art 53 StGB (Wiedergutmachung) ein – weil die Beschuldigten 
5,5 Millionen Franken Wiedergutmachung zahlten. Sie hatten zugegeben, von der Firma ISL Bestechungsgelder für die Vergabe von TV- und Vermarktungsrechte erhalten zu haben.

Der Beobachter verlangte Einsicht in die Einstellungsverfügung, um zu prüfen, ob Prominente von der Justiz bevorzugt behandelt wurden. Die Zuger Staatsanwaltschaft wollte Transparenz schaffen – unter Angabe der Beträge und der Namen. Doch die Fifa und die beiden Mitbeschuldigten reichten dagegen Beschwerde beim Zuger Obergericht ein.

Auch die Oberrichter haben sich nun für Transparenz entschieden: Es bestehe ein „gewichtiges öffentliches (und weltweites) Interesse an den Umständen, die zur Einstellung des Strafverfahrens im Fall Fifa führten“, schreiben sie in ihrem Entscheid vom 22. Dezember, der dem Beobachter vorliegt. Es müsse von der Öffentlichkeit kontrolliert werden können, „wie sich die Wiedergutmachungssumme von CHF 5,5 Mio zusammensetzt und wer sich in welcher Höhe daran beteiligt hat.“ Bis heute sei es nicht möglich zu prüfen, ob die Fifa und die beiden beteiligten Exekutiv-Mitglieder „in irgendeiner Weise bevorzugt behandelt wurde“ oder ob die Einstellung der Strafuntersuchung „in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht korrekt erfolgte“ (Fifa_Obergericht_Zug).

Deshalb wollen auch die Zuger Oberrichter dem Beobachter die Einstellungsverfügung herausgeben. Die Fifa und die beiden Mitbeteiligten haben nun 30 Tage Zeit, um gegen den Entscheid Beschwerde beim Bundesgericht einzulegen.

Fifa-Chef Sepp Blatter hatte vor zwei Monaten angekündigt, die Einstellungsverfügung Mitte Dezember öffentlich zu machen. Doch geschehen ist nichts.

Nachtrag 27. Dezember 2011, 18:00: Gemäss SDA akzeptiert die Fifa das Urteil. Damit ist aber noch nicht klar, ob die Einstellungsverfügung öffentlich wird, da die beiden mitbeteiligten Fifa-Funktionäre das Urteil als Privatpersonen anfechten können.

Nachtrag 11. Juli 2012: Das Bundesgericht hat die Beschwerde der beiden Fifa-Funktionäre abgewiesen und den Zugang zur Einstlellungsverfügung erlaubt.