Urteile sind zeitlich unbeschränkt einsehbar

Eine hartnäckige Studentin, die von ihrem Dozenten gestützt wird, ein engagierter Anwalt und der Beobachter erkämpfen ein wichtiges Präjudiz für die Recherche in der Schweiz: Urteile können auch Jahre nach der Verkündung eingesehen werden.

Im März 2013 nahm die damalige Diplomstudentin Lisa Dätwyler am dreitägigen MAZ-Kurs Recherche II teil. Zusammen mit 15 anderen Studierenden und Gästen arbeitete sie an vertieften Recherchen und wurde dabei gecoacht von Martin Stoll, Redaktor der SonntagsZeitung, und Dominique Strebel, MAZ-Studienleiter und Co-Präsident des Recherchenetzwerkes investigativ.ch. Dätwyler fand heraus, dass ein Physiotherapeut, der wegen mehrfacher sexueller Nötigung und Belästigung rechtskräftig verurteilt worden war, im Kanton Schaffhausen weiter seinen Beruf ausüben konnte. Erstaunlich, denn Patientinnen und Patienten lassen den Mann vertrauensvoll an ihrem Körper arbeiten. Dätwylers Recherche führte zu vier Beiträgen auf Radio Munot.

Doch offen blieb die Frage, weshalb das Kantonsgericht die Verurteilung nicht ans Gesundheitsamt gemeldet hatte. Und deshalb verlangte die Munot-Redaktorin Einsicht in das Urteil – unterstützt von MAZ-Studienleiter Dominique Strebel, der sich seit Jahren mit der Problematik des Zugangs zu Urteilen auseinandersetzt (Blogbeitrag).

Doch das Kantonsgericht lehnte das Gesuch ab und verweigerte die Einsicht ins Urteil. Die Begründung: Das Urteil sei öffentlich verhandelt und mündlich eröffnet worden. Die Journalistin hätte an diesem Tag im August 2012 dabei sein sollen. Jetzt aber – Monate nach der Urteilsverkündigung – sei das Urteil Archivgut und erst nach 100 Jahren oder bei Nachweis eines wissenschaftlichen oder vergleichbaren Interesses wieder zugänglich.

Ein stossender Entscheid: Lisa Dätwyler war ja im Zuge von Recherchen, die überhaupt erst nach der Urteilsverkündigung stattfinden konnten, darauf gestossen, dass da vielleicht etwas zwischen Schaffhauser Kantonsgericht und Gesundheitsamt schief gelaufen war. In dieser Situation sind recherchierende Journalisten oft: Erst Monate nach einem Urteil wird klar, dass ein Entscheid wichtig ist.

Deshalb war es von grosser Bedeutung, die Zugangsverweigerung des Schaffhauser Kantonsgerichts anzufechten. Der Fall eignete sich als Pilotprozess und die Chancen standen gut, weil das Bundesgericht die unbefristete Einsicht in Urteile zwar nicht ausdrücklich, aber doch implizit bereits angedeutet hatte. Und mit dem Basler Rechtsanwalt Jascha Schneider, der mit dieser Thematik grosse Erfahrung hat, fand sich auch ein kompetenter Experte. Aus prozesstaktischen Gründen riet Schneider zu einem neuen Gesuch eines andern Mediums. Der Beobachter übernahm (http://t.co/nTXMsrWc7K ).

Und auf Beschwerde hin erklärte nun das Obergericht Schaffhausen am 19. Mai 2015 – notabene mehr als zwei Jahre nach dem ersten Einsichtsgesuch – «dass das Bundesgericht heute aus dem Gebot der öffentlichen Urteilsverkündung gemäss Art. 30 Abs. 3 BV (…) ein zeitlich unbefristetes Einsichtsrecht in ergangene Urteile ableitet» (Erwägung 5.1). Im Klartext: Journalisten können Urteile von Gerichten zeitlich unbefristet einsehen. Deshalb muss das Kantonsgericht Schaffhausen ein anonymisiertes Urteilsdispositiv und das Protokoll der mündlichen Urteilsbegründung herausgeben (vgl. das Urteil im Volltext 15_05_19_urteil_obergericht_sh).

 Zwar ist der Entscheid noch nicht rechtskräftig, doch es zeichnet sich ab: Die Hartnäckigkeit von Lisa Dätwyler, des MAZ, des Beobachters und des Rechtsanwalts Schneider wird zu einem Präjudiz führen, das für alle anderen Journalistinnen und Journalisten in der Schweiz entscheidend ist und alle Schweizer Gerichte zu einem Umdenken zwingt: Anonymisierte Urteile kann man immer einsehen. Ob Wochen, Monate oder Jahre später. Ein Sieg für Transparenz in der Justiz und für die Justizkontrolle.

 Nächster Kurs «Recherche II – in die Tiefe recherchieren» am MAZ: Details und Anmeldung

Sieg für die Transparenz in St. Gallen

Im Kanton St. Gallen müssen Strafbefehle an Medien herausgegeben, wenn nicht ein überwiegendes privates Interesse dagegensteht. Ein Sieg für die Medienfreiheit – erkämpft vom Beobachter.

Der erste Staatsanwalt des Kantons St. Gallen, Thomas Hansjakob, hatte Anfang Jahr einen Bürger den Beobachter und Justizblog mit knappen Sätzen abgewimmelt: Nein, den Strafbefehl gegen zwei Jugendliche, die mit Tempo 260 auf der Autobahn und 160 innerorts vor der Polizei geflohen sind, dürfe man nicht einsehen, denn darauf bestehe kein Anspruch.

Dagegen wehrte sich der Beobachter – mit Erfolg: Die Anklagekammer des Kantons St. Gallen hat Ende Juni 2011 festgehalten, dass in Strafbefehle grundsätzlich «Einsicht zu gewähren ist, sofern keine überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen». Im konkreten Fall haben die Richter diese Interessenabwägung gleich selbst gemacht: Weil der Beobachter nur einen anoymisierten Entscheid verlange, gebe es gar kein Interesse, den Strafbefehl geheim zu halten. Fazit: «Die Staatsanwaltschaft hat den Strafbescheid in anonymisierter Form auszuhändigen.»

Damit ist auch klar, dass die Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Einsicht und der Geheimhaltung in Zukunft vom Staatsanwalt allein gemacht werden muss – ohne dass der Beschuldigte zur Stellungnahme eingeladen wird.
Das ist erfreulich. Der Entscheid ist rechtskräftig.

Damit kann man unterdessen im Kanton St. Gallen wie in Luzern und Basel Strafbefehle innert nützlicher Frist und ohne Kosten einsehen. In den Kantonen Zürich, Zug und Bern hingegen wird weiterhin ein langwieriges kostspieliges Verfahren durchgeführt, das Justizkontrolle verunmöglicht.

Medienanwalt Glasl eilt Staatsanwälten zu Hilfe

Rechtsanwalt Daniel Glasl redet die Transparenz der Staatsanwaltschaften schön. Die Medienfreiheit sei nicht in Gefahr, titelte er am 10. Mai 2011 in einem Gastbeitrag der NZZ. Und zeigte damit seine Naivität.

Medienanwalt Glasl reagiert mit seinem Kommentar auf einen Artikel in der NZZ, in dem ich schilderte, wie die Staatsanwaltschaften seit Anfang Jahr mit überlangen Verfahren und prohibitiven Kosten, die Medien davon abhalten, die Arbeit der Strafverfolger zu kontrollieren. Glasl referiert des langen über die Persönlichkeitsrechte, analysiert drei Fälle oberflächlich, hat aber von der eigentlichen Problematik wenig begriffen.

Denn mir und andern Medienschaffenden geht es nicht darum, eine Abwägung mit den Persönlichkeitsrechten zu verhindern. Aber diese Abwägung soll der Staatsanwalt ohne langes Stellungnahmensverfahren machen – genau wie es die Gerichte seit Jahrzehnten zur vollen Zufriedenheit von Betroffenen und Medien machen und die Strafverfolger gemacht haben. Diese effizienten Einsichtsentscheide dauern meist nur Stunden oder ein, zwei Tage, kosten kaum etwas und erlauben die umfassende Sicherung der Persönlichkeitsrechte in der Interessenabwägung der in solchen Fragen erfahrenen Richter und Staatsanwälte.

So lief die Einsicht in Strafbefehle jahre- und jahrzehntelang problemlos. Erst seit Entscheiden des Bundesgerichts, welche die Rechte der Medien stärkten, haben die Staatsanwaltschaften zu mauern begonnen. Zumindest in Zug und Zürich – den finanzkräftigen Zentren mit Firmen und Privatpersonen, die sich nicht in die Karten schauen lassen wollen – vor allem wenn sie sich von Strafverfahren via Art. 53 StGB loskaufen. Und denen sich Glasl offenbar mit seinem Text empfehlen will. Greift diese Praxis um sich, ist die Geheimjustiz im Vormarsch und die Medienfreiheit eben doch in Gefahr.

In Basel und neu auch Luzern hingegen geht es übrigens anders: Da entscheiden die Staatsanwälte wie bisher selbst über Einsichtsgesuche – ohne langes Verfahren und mit minimalen Kosten für die Medien. Es geht also. Rechtlich lässt sich diese Lösung darauf stützen, dass Einsicht in sensible Personendaten gewährt wird, wenn das Gesetz (Art. 30 Abs. 3 BV und EMRK 6) dies erlaubt. Es braucht also keine Einwilligung des Betroffenen wie dies in Zürich und Zug neu konstruiert wird. Ansonsten müsste man konsequenterweise dasselbe prohibitive Einsichtsverfahren für die Einsicht in Urteile einführen – und davon ist das Bundesgericht, das seine Entscheide fast vollständig im Internet publiziert (!) weit entfernt.

Also Staatsanwälte: Stellt Eure Strafbefehle und Einstellungsverfügungen ins Internet. Denn gemäss Bundesgericht gibt es unter dem Aspekt von Art. 30 Abs. 3 BV keine nennenswerten Unterschiede zwischen Urteilen und Strafbefehlen.

Zürcher Bezirksgericht: Schneckenpost statt E-Mail

Die neue Strafprozessordnung will Gerichte kundenfreundlicher machen und verpflichtet sie deshalb zur elektronischen Kommunikation. Beim Zürcher Bezirksgericht wird man aber auf die Schneckenpost verwiesen.

Da wollte Justizblog vom Zürcher Bezirksgericht Anfang Februar 2011 wissen, wie Journalisten über abgekürzte Verfahren nach neuer Strafprozessordnung (Art. 358ff StPO) infomiert werden. Also über jene Deals zwischen Staatsanwalt und Beschuldigten, die bis zu einer Strafe von 5 Jahren möglich sind.

Justizblog wollte wissen, ob Journalisten zu den Gerichtsverhandlungen, welche solche Deals absegnen, eingeladen, ob sie die vereinbarten Deals wie eine Anklageschrift vorgängig einsehen und so diesen heiklen neuen Bereich der Strafjustiz kontrollieren können.

Die telefonische Begegnung der andern Art im Wortprotokoll:

Gerichtsschreiberin X. Y. (Name der Redaktion bekannt): „Das weiss ich nicht“.

Justizblog: „Können Sie mich mit einer kompetenten Auskunftsperson verbinden?“

X.Y.: „Nein, stellen sie Ihre Frage schriftlich.“

Justizblog: „An welche E-Mail-Adresse?“

X.Y.: „Nicht per E-Mail. Per Post“

Justizblog: „???? Per Post? Das geht ja Tage.“

X.Y.: „Per Post“

Justizblog: „Aber nach neuer StPO müssen die Gerichte doch eine elektronische Kommunikation gewährleisten“

X.Y.: „Die ist noch nicht eingerichtet“

Justizblog: „Können Sie mir nicht eine Fax-Nummer nennen? Dann spar ich wenigstens 24 Stunden.“

X.Y.: „Warten Sie, ich versuche jemand zu erreichen“.

Nach rund fünf Minuten. X.Y.: „Sind Sie noch da?“

Justizblog: „Ja.“

X.Y.: „Vize-Präsident Beat Gut sagt, dass die abgekürzten Verfahren wie normale Gerichtsverhandlungen den Journalisten auf einer Liste angezeigt und die Vereinbarungen zur Einsicht abgegeben werden.“

Justizblog: „Besten Dank.“

Das Informationsverhinderungsgesetz

In den letzten Jahren sorgte das Bundesgericht für mehr Transparenz in der Justiz. Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft hat aber einen Weg gefunden, um die Geheimjustiz bei Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen weiterzuführen. Absurderweise mit Hilfe des so genannten Informations- und Öffentlichkeitsgesetzes.

Mutig hat das Bundesgericht 1998 entschieden, dass auch Strafbefehle dem Verkündigungsgebot von Art. 30 Abs. 3 der Bundesverfassung unterliegen – Medien können sie also wie Urteile einsehen. Ein konsequenter Schritt, denn mehr als 90 Prozent aller Strafurteile werden nicht mehr von Richtern, sondern von den Staatsanwälten gefällt. Eine Entwicklung, die durch die eidgenössische Strafprozessordnung noch massiv verstärkt werden wird.

Einen bedingten Anspruch auf Einsicht gab das höchste Schweizer Gericht den Journalisten 2008 auch bei Einstellungsverfügungen. Und so erfuhr die Öffentlichkeit zum Beispiel, auf wie dürftiger Grundlage das Strafverfahren wegen Nötigung und Pornographie gegen Ex-Armeechef Roland Nef eingestellt wurde. Beobachter und Weltwoche konnten die Einstellung wegen Wiedergutmachung gegen den Willen der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft einsehen. Und prompt löste die Berichterstattung darüber parlamentarische Vorstösse aus, die zum Ziel haben, die Einstellung bei Wiedergutmachung massiv einzuschränken.

Jetzt haben Oberstaatsanwalt Brunner und Co einen Weg gefunden, allzu kritische Journalisten trotzdem fernzuhalten. In einem neuen Entscheid verweigern sie die Einsicht in einen Strafbefehl und eine Einstellungsverfügung und auferlegen dem Journalisten, dessen Gesuch vom entscheidenden Staatsanwalt zuerst gutgeheissen wurde, die Entscheidgebühr von 2000 Franken und eine Parteientschädigung von 4000 Franken. Gegen diesen Kostenentscheid rekurrierte der Tages-Anazeiger-Journalist vergebens vor Zürcher Verwaltungsgericht.

Die Oberstaatsanwaltschaft verfüge in dieser Frage über ein weites Ermessen. Es liege deshalb keine Verletzung des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vor, meinten die Richter.

Die Konsequenz für die Journalisten: Sobald gegen ein Einsichtsgesuch rekurriert wird, müssen sie das Gesuch zurückziehen, sonst laufen sie Gefahr bei der eher medienfeindlichen Oberstaatsanwaltschaft ins Kostenmesser zu rennen. Somit hat der Rekursgegner, der die Einsicht verweigern will, ein simples und effizientes Mittel, Transparenz zu unterbinden.

Oberstaatsanwalt Brunner wehrt sich gegen den Vorwurf, so Geheimjustiz zu schaffen. Die Strafbefehle würden einen Monat kostenlos zur Einsicht aufgelegt. Erst wenn man danach Einsicht verlange, würden Kosten auferlegt. Dies genüge den Ansprüchen des Bundesgerichts.

Mag sein, aber es verunmöglicht Justizkontrolle. Denn in wichtigen Fällen – wie zum Beispiel im Fall Nef – wird erst im Nachhinein klar, dass Kontrolle nötig ist.

Die absurde Situation entsteht durch das Zürcher Informations- und Datenschutzgesetz IDG. Denn dieses wird neu angewendet, wenn Journalisten einen Strafbefehl oder eine Einstellungsverfügung herausverlangen. Das heisst, dass das Einsichtgesuch den Betroffenen zur Stellungnahme zugestellt wird. Das verlängert zum einen das Einsichtsverfahren, zum andern macht es eine Beschwerde an die Oberstaatsanwaltschaft erst möglich. Falls diese dann gegen die Einsicht entscheidet, fallen gestützt auf das Verwaltungsrechtspflegegesetz die prohibitiv hohe Kosten an – wenn es der Oberstaatsanwaltschaft gerade so passt.

Damit aber kann ein bundesverfassungsrechtlicher Anspruch auf Einsicht in Urteile und Strafbefehle durch ein kantonales Gesetz ausgehebelt werden. Das kann nicht richtig sein.

Vergleicht man den Ablauf mit der Einsicht in Urteile wird die stossende Situation sofort klar: Bei der Einsicht in Urteile entscheidet das Gericht darüber – ohne Anhörung der vom Urteil Betroffenen – allein gestützt auf Art. 30 Abs. 3 BV. Die Einsicht wird fast immer gewährt – ausser natürlich zum Beispiel in Vormundschaftssachen. Eine Parteianhörung findet nicht statt. Kosten fallen keine an. Justizkontrolle ist möglich.