Sieg für Transparenz bei Zürcher Strafbefehlen

Der Zugang zu Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen wird im Kanton Zürich schneller und billiger. Die Zürcher Staatsanwälte verzichten in Zukunft darauf, die Stellungnahmen der Betroffenen einzuholen. Ein Sieg für Justizblog und das Recherchenetzwerk investigativ.ch

Kleine Rückblende: Ab 2011 luden die Zürcher Staatsanwälte die Betroffenen zur Stellungnahme ein, wenn Medien ein Gesuch um Einsicht in einen Strafbefehl oder eine Einstellungsverfügung stellten. Die Betroffenen waren danach berechtigt, gegen den Einsichtsentscheid des Staatsanwaltes Beschwerde zu führen – bis ans Bundesgericht. Deshalb dauerte die Einsicht in die Einstellungsverfügung im Fall Nef mehr als zwei Jahre. Und deshalb musste ein Journalist des Tages-Anzeigers Kosten von 4000 Franken übernehmen, weil sein Gesuch abgelehnt wurde.

Justizblog und investigativ.ch hatten diese Praxis von Anfang an als verfassungswidrig kritisiert, weil es die Justizöffentlichkeit wie sie in Art. 30 Abs. 3 BV vorgesehen ist, faktisch aushebelt: Kaum ein Journalist stellte bei so langwierigen Verfahren mit so hohem Kostenrisiko noch ein Einsichtsgesuch.

Damit ist nun Schluss: Nach Gesprächen von Justizblog und investigativ.ch mit dem Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich erstellte dieser einen Leitfaden Zugang zu Personendaten Dritter, der die Rechtsauffassung der Medien untermauerte. Gemäss Zürcher Informations- und Datenschutzgesetz (§ 17 Abs. 1 Bst. a IDG) ist der Zugang zu sensiblen Personendaten auch ohne Stellungnahme der Betroffenen möglich, wenn dies ein Gesetz vorsieht. Art. 30 Abs. 3 BV ist ein solches Gesetz.

Wegen dieses Grundlagenpapieres hat nun die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ihre Praxis geändert: „Es ist richtig, dass der Leitfaden „Zugang zu Personendaten Dritter“ des Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich die Praxis der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich betreffend Einsicht in Endverfügungen beeinflusst“, schreibt Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. „Demnach ist Art. 30 Abs. 3 BV als gesetzliche Grundlage im Sinne von § 17 Abs. 1 lit. a IDG zu qualifizieren, weshalb die Einsicht grundsätzlich zu gewähren ist und nicht von einer expliziten Einwilligung des Beschuldigten abhängt und auch auf eine Stellungnahme weiterer Drittpersonen verzichtet werden kann.“

Eckert betont danach die allgemeinen Voraussetzungen für die Einsicht: Der Gesuchsteller muss ein ernsthaftes Interesse an der Kenntnisnahme glaubhaft machen – dies ergibt sich gemäss Bundesgericht bei Medien von selbst aus ihrer Kontrollfunktion. Anderseits ist daneben auch immer eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei überwiegende öffentliche oder private Interessen dem allgemeinen Informationszugangsrecht Grenzen setzen können, was in jedem Einzelfall zu prüfen ist.

Diese Praxisänderung erleichtert den Medien nun den Zugang zu Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen, die mehr als 95% aller Urteile in der Strafjustiz ausmachen.

Ähnlich offen ist der Zugang in den Kantonen Luzern und Basel-Stadt. In Bern hingegen werden die Betroffenen immer noch um Stellungnahme angefragt, obwohl das Berner Datenschutzgesetz eine analoge Bestimmung zum Zürcher IDG enthält. Wenn ein Gesetz die Einsicht in sensible Personendaten vorsieht, müssen Betroffene nicht zur Stellungnahme eingeladen werden.

Also Berner ändert auch ihr Eure Praxis! Dasselbe gilt übrigens für die Bundesanwaltschaft.

Einstellungsverfügungen: Auch Praxisänderung des Bundesanwalts

Die Bundesanwaltschaft legt nun auch Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB öffentlich auf. Ein Erfolg für das Schweizer Recherche-Netzwerk investigativ.ch.

In keinem Kanton werden Einstellungsverfügungen derzeit öffentlich aufgelegt. Die Bundesanwaltschaft geht nun voran und passt sich – nach Intervention von investigativ.ch – dem neuesten Urteil des Bundesgerichts an: Im Entscheid zur Einsicht in die Einstellungsverfügung betreffend Fifa hat das höchste Schweizer Gericht festgehalten, dass Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) öffentlich verkündet werden müssen (Erwägung 3.4 des Entscheides Urteil_BGer_Fifa vom 3.07.2012).

Die Bundesanwaltschaft legt deshalb in Zukunft nicht nur Strafbefehle, sondern auch Einstellungsverfügungen ab Erlass 30 Tage lang in Bern öffentlich auf. Im Unterschied zu den Strafbefehlen sind diese aber anonymisiert.

Strafbefehle: Praxisänderung der Bundesanwaltschaft

Die Bundesanwaltschaft erlaubt nun Kopien, wenn Journalisten vor Ort in Bern Strafbefehle einsehen. Ein Erfolg für investigativ.ch.

Viele Kantone legen Strafbefehle unmittelbar nach Erlass oder Rechtskraft zur Einsicht öffentlich auf. Nur der Kanton Sankt Gallen erlaubt es aber Journalisten, eine Kopie von einem Strafbefehl zu machen. In den meisten Kantonen kann man sich nur Notizen machen. So war auch die Praxis der Bundesanwaltschaft – bis vor Kurzem.

Sie widerspricht in mindestens einem Punkt der klaren Praxis des Bundesgerichts: In einem Entscheid vom 1. September 2006 (!!!) hat das höchste Schweizer Gericht klipp und klar festgehalten, dass Journalisten Anspruch auf eine Kopie haben (Entscheid 1P.298/2006).

Investigativ.ch wies die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft und die Bundesanwaltschaft auf dieses klare Präjudiz hin. Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser sieht keinen Handlungsbedarf: »Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.«

Ganz anders haben Bundesanwalt Michael Lauber und sein Rechtsdienst auf den Bundesgerichtsentscheid reagierte, auf den sie investigativ.ch hingewiesen hat:Sie haben umgehend die Praxis geändert und erlauben nun Kopien. Kostenlos.

Offen bleibt die Frage, ob die Bundesanwaltschaft in Zukunft auch Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) öffentlich auflegt. Der Rechtsdienst ist noch am Abklären. Zudem sind auch Abklärungen in Gang, ob Journalisten auch an den Zweigstellen in Zürich, Lausanne und Lugano Einsicht nehmen können. Fortsetzung folgt.

www.investigativ.ch: Die Recherche-Plattform der Schweiz

Der Verein investigativ.ch baut seine Website zum Kompetenzzentrum für Recherche aus. Ab dem 1. November 2011 verraten Recherche-Journalistinnen und -Journalisten unter  www.investigativ.ch ihre Tipps und Tricks.

Der Mitgliederbereich der neuen Website bietet handfesten Service:  Rechercheanleitungen, kommentierte Links, Dossiers mit dem aktuellen Stand von Recherchen in wichtigen Themenbereichen. Zudem stehen Musterbriefe für Einsichtsgesuche zum Download bereit, und ein Forum ermöglicht den Austausch über konkrete Rechercheprobleme.

Auch Nicht-Mitglieder können sich über einen Blog über die aktuellen Entwicklungen in der weiten und nahen Welt der Recherche informieren. Und wer den Newsletter abonniert, ist über Veranstaltungen und Tagungen auf dem Laufenden.

Das Angebot wird von allen Mitgliedern des Vereins investigativ.ch aktualisiert und weiter angereichert. So berichtet die Website aktuell über die Herzberg-Tagung vom 2. November 2011, die dieses Jahr der Recherche gewidmet ist.

Recherchewissen ist shareware. Davon ist investigativ.ch überzeugt. Mitglied können alle hauptberuflichen Journalistinnen und Journalisten werden.

Investigativ.ch, das Recherche-Netzwerk Schweiz, ist  auch auf Twitter (investigativ_ch) und Facebook präsent. Reinschauen, „followen“ und „liken“.

Verwirrung im Fall Nef

Das Bundesgericht hat noch nicht beurteilt, ob die Einstellungsverfügung im Fall Nef an die Medien herausgegeben werden muss. Es hat erst entschieden, dass Nefs Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt wird. Dieser Entscheid war zu erwarten.

Im Verfahren um die Herausgabe der Einstellungsverfügung, womit die Zürcher Staatsanwältin Judith Vogel das Strafverfahren wegen Nötigung und anderer Delikte gegen Ex-Armeechef Roland Nef einstellte, ist inzwischen ziemlich unübersichtlich.

Für alle Interessierte: Der Fall steht kurz vor dem höchstrichterlichem Entscheid. Wenn nun aber in einigen Medien der Eindruck entstand, das Bundesgericht habe Nefs Beschwerde gutgeheissen und die Verfügung bleibe definitiv unter Beschluss, ist das falsch.

Das Bundesgericht hat erst entschieden, dass Nefs Beschwerde gegen den Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts, die Verfügung zugänglich zu machen, aufschiebende Wirkung zuerkannt wird.

Das ist auch kein Wunder: Hätte das höchste Gericht dies nicht gemacht, hätten die Medien die Verfügung erhalten. Die eigentliche Streitsache wäre also im bloss summarischen Verfahren entschieden worden. Und das wäre ja angesichts des anstehenden Präjudizes zur Einsicht in Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB etwas gar flapsig gewesen.

Fall Nef: Zürcher Verwaltungsgericht will Transparenz

Beobachter und Weltwoche sollen Einsicht in die Einstellungsverfügung im Fall Nef erhalten. Das hat das Zürcher Verwaltungsgericht entschieden – und auch gleich einen Artikel des Zürcher Datenschutzgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Nur knapp ist es aber an einer Neuauflage einer Justizposse vorbeigeschlittert.

Der Beobachter verlangte im Juli 2008 Einsicht in die Einstellungsverfügung im Fall Nef. Der Verdacht drängte sich nämlich auf, dass die Zürcher Staatsanwaltschaft Nef begünstigt hatte, als sie das Strafverfahren wegen Nötigung, Pornographie und weiterer Delikte am 23. Oktober 2007 eingestellt hatte (vgl. Justizblog). Der zuständige Staatsanwalt hiess das Gesuch gut, die Oberstaatsanwaltschaft untersagte danach aber die Einsicht auf Intervention Nefs hin. Beobachter und Weltwoche gelangten deshalb ans Verwaltungsgericht. Dieses erklärte sich zuerst für unzuständig und schob die Beschwerde ans Obergericht weiter. Dieses wollte die Beschwerde ebenfalls nicht behandeln, worauf das Bundesgericht ein Machtwort sprach und das Verwaltungsgericht am 14. Januar 2010 anwies, die Beschwerde „beschleunigt“ zu behandeln.

Das hat das Zürcher Verwaltungsgericht nun getan und die Beschwerde der beiden Medien gutgeheissen. „An der Klärung der Vorwürfe besteht ein gewichtiges Interesse – zumal die Vorwürfe zumindest nicht abwegig erscheinen“, halten die Richter fest. Die privaten Interessen Nefs an Geheimhaltung würden hingegen nicht schwer wiegen.

Soweit das Urteil in der Hauptsache. Interessant sind aber noch zwei Nebenresultate: Die Verwaltungsrichter erklären nämlich Art. 26 Abs. 2 des Zürcher Gesetzes über die Information und den Datenschutz (IDG) für verfassungswidrig. Dieser Artikel erlaubt die Bekanntgabe von „besonderen Personendaten“ nämlich nur, wenn der Betroffene zustimmt.

Das Gebot der Verhandlungs- und Entscheidöffentlichkeit nach Art. 30 Abs. 3 BV gebiete nun aber eine Einsicht in Einstellungsverfügungen, auch wenn darin besondere Personendaten enthalten sind, falls das öffentliche Interesse an der Einsicht überwiege. Diese Klarstellung ist sehr zu begrüssen.

Es fällt sowieso auf, dass Gerichte und Behörden ziemlich hilflos sind, was die Einsicht in Einstellungsverfügungen und die Gesuche nach Zürcher IDG betreffen. So prüft die Oberstaatsanwaltschaft Zürich derzeit zum Beispiel, ob sie überhaupt berechtigt ist, gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts ans Bundesgericht zu gelangen.

Eine weitere grundlegende Frage scheint zudem noch immer nicht richtig geklärt. So hält eine Minderheit der Verwaltungsrichter in einer (sehr seltenen) Dissenting Opinion fest, dass das Verwaltungsgericht gar (noch) nicht zuständig sei, da Beobachter und Weltwoche vorgängig an die Zürcher Justitzdirektion hätten gelangen müssen.

Zum Glück blieben diese Richter in der Minderheit. Denn unterdessen dauert das Einsichtsverfahren beinahe zwei Jahre. Das darf aber bei Einsichtsbegehren nicht die Regel werden, sonst sind sie für Medien meist nutzlos.

Nef den Entscheid des Verwaltungsgerichts mit Beschwerde vom 28. Juni 2010 angefochten hat.