Mit dem «Maulkorbartikel» leben lernen

Der Ständerat hat jüngst entschieden, den «Maulkorbartikel» beizubehalten. Medienschaffende können demnach auch in Zukunft wegen der Veröffentlichung geheimer amtlicher Dokumente verurteilt werden. Mit dieser rechtlichen Realität gilt es einen Umgang zu finden. Die Lehren aus den bisherigen Verurteilungen.
Ein aktueller Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR zeigt, was Medienschaffenden droht, wenn sie aus Akten eines Strafverfahrens zitieren, ohne wichtige öffentliche Interessen zu verfolgen, und dabei die journalistischen Sorgfaltspflichten verletzen: Eine Busse von 5000 Franken wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen.
Das ist nun die dritte Abfuhr von Medienschaffenden in Strassburg innert zehn Jahren: 2007 hat die Grosse Kammer des EGMR eine Busse für einen Sonntags-Zeitungs-Journalisten als zulässig erachtet, weil er aus einem strategischen Papier des damaligen Schweizer Botschafters in Washington zitierte; 2012 hat Strassburg eine erste Busse des nun erneut gebüssten L’Illustré-Journalisten gutgeheissen, weil er sich bei einem Porträt zu einem Aufsehen erregenden Autounfall auf dem Lausanner Grand Pont auf Untersuchungsakten stützte. Und jetzt, Anfang Juni 2017, hat es erneut gegen den gleichen Reporter entschieden, weil er aus Untersuchungsakten eines Strafverfahrens gegen einen mutmasslichen Pädophilen zitierte*.
Diese Urteile erfolgten alle gestützt auf Artikel 293 des Strafgesetzbuches. Der umstrittene Paragraph könnte längst abgeschafft sein, doch Bundesrat und Parlament wollen es anders. Am 29. Mai 2017 hat der Ständerat als Zweitrat entschieden, dass der sogenannte Maulkorbartikel nicht gestrichen, sondern nur ergänzt und damit milde abgeschwächt wird. In Zukunft darf das Gericht Medienschaffende nicht mehr verurteilen, wenn das öffentliche Interessen an einer Berichterstattung gegenüber Geheimhaltungsinteressen überwiegt. Fazit: Der jahrelange Streit um den Paragraphen ist besiegelt.
Journalisten machen sich weiterhin strafbar, wenn sie ohne überwiegende öffentliche Interessen aus geheimen, amtlichen Dokumenten zitieren. Und das werden die Richter wohl wenig anders als bisher entscheiden, denn sie haben in den letzten zehn Jahren bereits die öffentlichen Interessen an Information gegen Geheimhaltungsinteressen abgewogen und die Medienfreiheit in den Augen der Strassburger Richter korrekt gewichtet.
Zeit also für eine Standortbestimmung und Tipps für einen pragmatischen Umgang mit dem Maulkorb. Denn der aktuelle EGMR-Entscheid zeigt auch, dass über Akten aus Strafverfahren sehr wohl berichtet werden darf. Es müssen aber berechtigte öffentliche Interessen (z.B. belegte Verfahrensmängel) verfolgt und die Sorgfaltspflichten besonders zur Namensnennung streng eingehalten werden. Zudem gewichtet der EGMR die Geheimhaltung von parlamentarischen oder verwaltungsinternen Geheimnissen tiefer. Das sollte das Bundesgericht in Zukunft – und gerade mit der neuen Gesetzesbestimmung – stärker beachten.

Aus dem aktuellen Strassburger Entscheid lassen sich die Kriterien für eine korrekte Berichterstattung im Detail ableiten:

  1. Gemäss EGMR verfolgt das Untersuchungsgeheimnis legitime Ziele: Den Schutz des Vorverfahrens (Unabhängigkeit der Justiz, Wirksamkeit des Strafverfahrens), aber auch den Schutz der Unschuldsvermutung von Beschuldigten und seiner Privatsphäre wie auch jener anderer Beteiligter, besonders von Opfern. Hingegen gebe es kaum Raum, die Meinungsfreiheit im Bereich der politischen Debatten und Diskussionen von allgemeinem Interesse einzuschränken (vgl. Ziff. 60). Das ist ein Hinweis dafür, dass Art. 293 StGB unterschiedlich angewendet werden sollte, wenn es um Akten aus einem Strafverfahren oder wenn es um geheime Protokolle parlamentarischer Kommissionen oder geheime Dokumente der Verwaltung geht.
  2. Dokumente sollten nicht auf illegalem Weg beschafft werden. Im konkreten Fall hat der Vater eines Opfers dem Journalisten die Dokumente übergeben. Daran hat Strassburg nichts auszusetzen.
  3. Der Gehalt eines Artikels soll sich auf jene Elemente beschränken, an denen wirklich ein berechtigtes öffentliches Interesse besteht. Im aktuell beurteilten Fall hat der Journalist gemäss EGMR unnötige Details über das Vorgehen des mutmasslichen Täters ausgebreitet, die nicht von öffentlichem Interesse waren, sondern einzig der Sensation gedient hätten.
  4. Ein Bericht, der sich auf geheime Dokumente stützt, muss zu einer öffentlichen Debatte beitragen. Dies muss durch eine detaillierte Recherche untermauert sein und darf sich nicht bloss auf Vorwürfe eines Opfers stützen. Im aktuell beurteilten Bericht warf der Vater dem Haftrichter vor, den Beschuldigten aus der U-Haft nur freigelassen zu haben, weil er ein einflussreicher Immobilienverwalter gewesen sei. Zudem machte der Journalist geltend, er habe mit seiner Berichterstattung weitere Opfer ermuntern wollen, sich zu melden. Beide Anliegen erachtet der EGMR grundsätzlich als berechtigte öffentliche Interessen. Aber im konkreten Fall habe der Journalist die Vorwürfe nicht genügend untermauert. Er habe ausser dem Verdacht des Vaters keine Gründe dartun können, weshalb der U-Haft-Entscheid tatsächlich nicht korrekt gewesen sei, und habe keinerlei Beleg gehabt, dass von der Staatsanwaltschaft bei der Tat nicht genügend intensiv nach weiteren Opfern gesucht worden sei.
  5. Die Unschuldsvermutung muss nicht nur genannt, sondern auch im Ton der Berichterstattung beachtet werden. Im konkreten Artikel hat der Journalist zwei mal erwähnt, dass für den Beschuldigten die Unschuldsvermutung gelte. Doch der Ton des ganzen Textes hat gemäss EGMR keine Zweifel gelassen, dass der Journalist den Beschuldigten für schuldig halte. Dies kommt bereits im Titel «Un père révolté dénonce les jeux pervers d’un abuseur d’enfants» («Ein aufgebrachter Vater klagt die perversen Spiele eines Kindsmissbrauchers an») zum Ausdruck.
  6. Die journalistischen Sorgfaltspflichten sind streng zu beachten – besonders in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre von Minderjährigen. Im eingeklagten Artikel hat der Journalist den Vater eines Opfers im Profil gezeigt, seinen Vornamen mit Initial des Familiennamens, das Alter der mutmasslichen Opfer sowie deren familiäre Beziehungen genannt. Als ganzes hat dies gemäss EGMR die minderjährigen Kinder erkennbar gemacht. Die Mutter eines der Kinder hat denn auf dem Zivilrechtswege erfolgreich eine Entschädigung wegen Persönlichkeitsverletzung eingeklagt.
  7. Da nun die öffentlichen Interessen am Artikel klein, die Geheimhaltungsinteressen von Strafverfolgungsbehörden und Privaten gross waren, glaubt der EGMR nicht, dass eine Busse von 5000 Franken Medienschaffende übermässig abschrecke, ihre Medienfreiheit trotz dieser Verurteilung auszuüben. (Ein Strafregistereintrag erfolgt bei Übertretungen wie Art. 293 StGB erst ab einer Busse von 5000 Franken…)

 

_Der Text erschien erstmals in der Medienwoche vom 6.6. 2017.
_Weitere (juristische) Gedanken zum revidierten Maulkorbartikel finden sich hier: Erste Gedanken zum «neuen» Maulkorbartikel

*Der Artikel ist für Nutzer der Schweizer Mediendatenbank SMD einsehbar: «Un père révolté dénonce les jeux pervers d’un abuseur d’enfants», L’illustré, 28.1.2009

Erste Gedanken zum „neuen“ Maulkorbartikel

Wer aus geheimen amtlichen Dokumenten zitiert, kann sich weiterhin strafbar machen. Das Parlament hat den umstrittenen Maulkorbartikel (Art. 293 StGB) nicht gestrichen. Es hat aber einen neuen Absatz 3 eingefügt, der die Richter zu einer Abwägung zwingt zwischen den Interessen an der Publikation und den Geheimhaltungsinteressen. Wer aus geheimen Dokumenten zitiert, soll nicht mehr strafbar sein, wenn er damit einem öffentlichen Interesse dient, das wichtiger ist als die Geheimhaltungsinteressen. Bis Oktober läuft die Referendumsfrist. Doch schon jetzt ist klar: Ein bald 40-jähriges Ringen zwischen Politik/Justiz und Medien hat sein Ende gefunden. Zeit für eine erste kleine Würdigung der neuen Rechtslage.

Das gibt Hoffnung auf medienfreundlichere Entscheide

  1.  Die Gerichte haben jetzt eine neue gesetzliche Grundlage, die sie anweist, das öffentliche Interesse an der Information gegen das Geheimhaltungsinteresse abzuwägen („Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Veröffentlichung kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegengestanden hat.“) Neues  Recht ist immer eine Gelegenheit für einen Neustart. Die neue Rechtslage kann Anlass sein, die alte restriktive Praxis zu überdenken und der Medienfreiheit mehr Gewicht zu geben. Das ist eine Chance für eine Praxisänderung, liebe Richter. Packt sie!
  2. Um einen Journalisten freizusprechen, mussten die Gerichte bisher überzeugt sein, dass der Journalist die „Wahrung berechtigter Interessen“ geltend machen kann. Diesen aussergesetzlichen Rechtfertigungsgrund haben die Richter restriktiv angewendet, weil sie ihn selbst erfunden haben. Ein Journalist blieb nur straflos, wenn die Veröffentlichung amtlicher Dokumente „notwendig“ und „angemessen“ war, den „einzig möglichen Weg darstellt, um den Missstand zu beheben“ und „offenkundig weniger schwer wiegt als die Interessen, welche der Täter zu wahren sucht“ (BGE 126 IV 236). Neu muss die Veröffentlichung amtlicher geheimer Dokumente nicht mehr notwendig, angemessen und ultima ratio sein. Und der Geheimnisverrat muss nicht mehr offenkundig weniger schwer wiegen als die Interessen an Information der Öffentlichkeit. Neu muss das Interesse an Information simpel und einfach gegenüber den Geheimhaltungsinteressen überwiegen. Das Parlament hat die Hürde also tiefer gelegt und will die Medienfreiheit höher gewichten. Das müssen die Gerichte berücksichtigen. Und sie können es freier handhaben, weil sie mit der gesetzlichen Grundlage endlich sicheren Grund haben und sich nicht mehr auf aussergesetzlichem Gelände bewegen.

Das stimmt eher pessimistisch

  1. Schon seit dem Entscheid der Grossen Kammer des EGMR im Fall Stoll, also seit 2007, hat das Bundesgericht bereits ergänzend jeweils auch eine Abwägung zwischen Medienfreiheit/Interesse an Information einerseits und dem jeweiligen Geheimhaltungsinteresse andererseits vorgenommen. Und immer hat es zu Ungunsten der Medienfreiheit entschieden. 2008 im Fall Bédat I (BGE 6P.153/2006); 2012 im Fall Bédat II (BGE 6B_256/2012), 2013 im Fall Hollenstein (BGE 6B_186/2012) und 2016 im Fall Rutishauser (BGE 6B_1267/2015).
  2. Wenn Richter darüber entscheiden, welches Gewicht staatliche Geheimnisse haben, sind sie immer auch etwas befangen, da sie selbst zu genau jenem Staat gehören, der etwas für geheim erklärt hat.

Diese Missstände bleiben eh bestehen

  1. Der Maulkorbartikel bestraft die Falschen: Die Überbringer der Botschaft statt die Geheimnisbrecher – notabene Parlamentarier oder Verwaltungsangestellte, die den Journalisten ein Dokument durchstechen.
  2. Der Maulkorbartikel wird willkürlich angewandt: Jährlich wird über Dutzende geheimer Dokumente berichtet. (Jeder Bericht über ein laufendes Strafverfahren auf der Basis von Untersuchungsakten erfüllt den Tatbestand). Aber gemäss polizeilicher Kriminalstatistik gibt es nur ein bis zwei Anzeigen pro Jahr. Oft trifft es die unbequemen Rechercheure, denen man mit einer Anzeige eins auswischen will. Von den drei Journalisten, deren Artikel das Bundesgericht in den letzten 10 Jahren beurteilt hat, sind zwei unterdessen „Super-Chefredakteure“: Arthur Rutishauser und Pascal Hollenstein.
  3. Medienschaffende müssen mit hoher Rechtsunsicherheit leben.

Das Fazit für Medienschaffende bleibt sich gleich:

  1. Das Risiko wegen Art. 293 StGB in Nöte zu kommen, ist im grossen Ganzen gesehen gering. Nur bei einem kleinen Teil der Zitate aus geheimen Dokumenten kommt es zu Strafverfahren, da Art. 293 StGB ein Antragsdelikt ist.
  2. Kommt es zu einem Verfahren ist eine Verurteilung zwar wahrscheinlich, doch die Strafen für diese Übertretung liegen fast immer unter der Limite von 5000 Franken, die zu einem Strafregistereintrag führen würden (die Bussen lagen bisher zwischen 400 und 4000 Franken).
  3. Der beste Schutz ist sorgfältige Arbeit: Bei Zitaten aus geheimen amtlichen Dokumenten sollten Medienschaffende alle journalistischen Sorgfaltspflichten besonders gut einhalten, ein hohes öffentliches Interesse damit verfolgen und sich jeder unnötigen Zuspitzung oder Boulevardisierung enthalten. Und sie sollten den Chef und den Medienanwalt vorgängig informieren und mit ins Boot holen: Ein Strafverfahren wegen eines Zitates aus einem geheimen Dokument ist publizistisch beste Werbung – wenn denn der belegte Missstand von einiger Tragweite ist.

Bundesgericht schützt PUK-Geheimnis

Ein aktuelles Urteil aus Lausanne zur Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen schützt die Meinungsbildung des Staates selbst da, wo keine Meinung mehr gebildet wird. Das erlaubt den Behörden den Zeitpunkt der Publikation ohne störende Recherche selbst festzulegen.


Arthur Rutishauser, Chefredaktor von Tages-Anzeiger und Sonntagszeitung, soll gebüsst werden, weil er aus dem Entwurf des Berichts zur parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zur BVK-Affäre rund fünf Wochen vor der offiziellen Veröffentlichung zitiert hat. Das hat das Bundesgericht in seinem neuesten Urteil zum Straftatbestand der Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) entschieden (Urteil 6B_1267/2015vom 25. Mai 2016).

Das höchste Schweizer Gericht widerspricht damit den Entscheiden von Zürcher Bezirks- und Obergericht sowie des Schweizerischen Presserates. Sie alle beurteilten das Vorgehen des Journalisten als korrekt. Mit dem Bundesgerichtsentscheid tut sich also eine Kluft zwischen Medienethik und Medienrecht auf. Und es bestätigt sich der Eindruck, dass kantonale Gerichte mehr Verständnis für die Arbeit der Medien haben als das Bundesgericht.

Das blosse Risiko genügt bereits
Das Bundesgericht gibt dem Schutz der Meinungsbildung der Parlamentarier ein sehr hohes Gewicht. Es sei «unerheblich», ob der Zeitungsartikel die Meinungsbildung der PUK tatsächlich beeinflusst habe, schreiben die höchsten Schweizer Richter. «Ein diesbezügliches Risiko genügt.» (Erw. 2.6).
Führen wir uns die konkreten Umstände vor Augen: Da hat eine parlamentarische Untersuchungskommission mehr als zwei Jahre lang ermittelt. Sie hat um Formulierungen und Wertung gerungen, einen Text erstellt und die Betroffenen, die bereits ausführlich befragt worden waren, zur Stellungnahme zu diesem Schlusstext eingeladen. Die Stellungnahmen sind bereits bei den Parlamentariern eingetroffen. Sie müssen sie nur noch verarbeiten. An diesem Tag, dem 28. August 2012, veröffentlicht Rutishauser seinen Artikel.Gibt es da noch irgendeine Meinungsbildung der Parlamentarier, die geschützt werden muss?
Nein, sagte das Zürcher Obergericht, das – im Unterschied zum Bundesgericht – die konkreten Abläufe im Detail nachzeichnete. «Zu diesem Zeitpunkt ist das Interesse des Staates an der (vorläufigen) Geheimhaltung des Schlussberichts lediglich noch darin zu sehen, den Zeitpunkt der Publikation der von ihm erarbeiteten lnformationen und Meinungen ungehindert selber zu bestimmen.» Und daran sei das öffentliche Interesse gering.
Das Bundesgericht interessieren die konkreten Umstände nicht. Das blosse Risiko einer Beeinflussung genügt den höchsten Schweizer Richtern. Es stützt sich dabei auf den Entscheid Bédat des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom März 2016. Dieser Entscheid der Grossen Kammer des EGMR hielt fest, dass der Staat nicht belegen müsse, ob die Meinungsbildung der Untersuchungsbehörden und Gerichte beeinflusst worden sei, wenn er einen Geheimnisbruch sanktioniere. Das Risiko eines Einflusses auf das Verfahren genüge bereits («Le risque d’influence sur la procédure justifie en soi…» Ziff. 70). Diese Aussage des EGMR zu einer laufenden Strafuntersuchung kann wohl kaum telquel auf ein faktisch abgeschlossenes parlamentarisches Untersuchungsverfahren übertragen werden.
Zahme Journalisten, die brav auf die Medienkonferenz warten
Würde diese rigide Haltung Schule machen, hätten Journalisten zu warten, bis es dem Staat zu informieren beliebt – auch wenn die Meinungsbildung schon längst fertig ist. Egal ob die Behörden sich noch Wochen oder Monate Zeit lassen, um den für sie richtigen Zeitpunkt zu wählen. Das kann gerade bei einem Fall wie der Affäre BVK stossend sein, in dem auch der Staat selbst – seine Behördenmitglieder, aber auch Kontroll- und Aufsichtsinstanzen versagt haben. Wollen wir zahme Journalisten, die brav auf die Medienkonferenz warten?
Der Presserat nicht. Der Journalist soll auf Berichterstattung verzichten, wenn ein vertrauliches Dokument in den nächsten Tagen öffentlich werden würde, meint das Selbstregulierungsorgan in seinem Entscheid zum gleichen Fall. Wenn es also Wochen geht, bis der Bericht öffentlich wird, darf der Journalist veröffentlichen, wenn keine äusserst wichtigen Interessen dadurch verletzt werden.
Das Bundesgericht hat es sich auch einfach gemacht, als es die Frage prüfte, ob Arthur Rutishauser Gründe hatte, sofort zu publizieren und nicht die 5 Wochen bis zur möglichen Veröffentlichung zu warten. Es schreibt nur, es sei «nicht erkennbar, inwiefern gute Gründe bestanden haben könnten.»
Der Presserat – in seinem Entscheid vom Januar 2013 noch sehr nahe bei der öffentlichen Diskussion über den Skandal – bezeichnet es als «legitim» nicht bis zur Medienkonferenz zu warten «angesichts des unbestritten grossen öffentlichen Interesses am Thema BVK, das in den Medien seit Monaten für Schlagzeilen gesorgt hatte, und nachdem auch aufgrund des im gleichen Zusammenhang geführten Strafverfahrens schon viele Informationen publik waren». Und fügt an, es würde «jedenfalls zu kurz greifen, die vorzeitige Veröffentlichung von Informationen aus dem Berichtsentwurf auf eine blosse Jagd auf Primeurs zu reduzieren.»
Man meint den Esel und schlägt den Sack
Mit seinem neuesten Entscheid dehnt das Bundesgericht den Geheimnisbereich weiter aus. Das fördert geradezu Indiskretionen, denn es wird immer Parlamentarier geben, die Journalisten geheime Dokumente zukommen lassen. Verurteilt wird aber immer nur der Medienschaffende, nicht der Parlamentarier. Man meint den Esel und schlägt den Sack. Dabei ist es das Parlament selbst, das seinen eigenen Laden nicht im Griff hat.
Zudem gehen die Behörden willkürlich gegen Journalisten vor. Viele Medienschaffende, die vertrauliche Dokumente öffentlich machen, werden nicht belangt. So gibt es gemäss polizeilicher Kriminalstatistik pro Jahr nur ein bis zwei Anzeigen. Diese Anzeigen richten sich gegen jene Journalisten, die unbequem sind, die kritische Fragen stellen, die bohren und hartnäckig sind. Also genau jene, die die öffentliche Meinungsbildung braucht.

Presserat lockert Journalistenkodex: Leaks erlaubt

Ohne dass es jemand bemerkt hätte, änderte der Schweizer Presserat im April 2015 einen wichtigen Passus des Journalistenkodex: In Zukunft dürfen Medienschaffende vertrauliche Dokumente und Informationen veröffentlichen, auch wenn diese durch unlautere Methoden erlangt wurden. Damit entfernt sich die Medienethik weiter vom Medienrecht.

Bis vor einem halben Jahr musste mit einer Rüge des Presserats rechnen, wer geleakte Informationen veröffentlichte. Richtlinie a.1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» hielt ausdrücklich fest: «Die Information darf nicht durch unlautere Methoden (Bestechung, Erpressung, verbotenes Abhören, Einbruch/Diebstahl) erlangt worden sein». Dieser Passus wurde im vergangenen April ersatzlos gestrichen.

Die Lockerung hat allerdings Grenzen. Gemäss Presserat dürfen Informationen, die auf geleakten Daten oder Dokumenten beruhen, nur dann veröffentlicht werden, wenn die Medienschaffenden die Quellen kennen, die Information im öffentlichen Interesse ist, keine äusserst wichtigen Interessen tangiert sind und wenn der Informant die Indiskretion absichtlich und freiwillig getätigt hat.

Die kleine aber feine Anpassung des Journalistenkodex ist bemerkenswert, weil der Presserat damit noch stärker auf Distanz zu den Schweizer Gerichten geht, die illegal erlangte Beweise für unverwertbar erklären und die die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) immer noch streng ahnden.

Zudem entwickelt sich das medienethische Selbstkontrollorgan der Schweiz auch weg vom Trend in Deutschland. Dort hat der Bundestag letzten Freitag, 16. Oktober 2015, von der öffentlichen Meinung wenig beachtet unter dem Titel «Datenhehlerei» einen neuen Artikel 202d ins Strafgesetzbuch eingefügt:

  1. Wer Daten (§ 202a Absatz 2), die nicht allgemein zugänglich sind und die ein anderer durch eine rechtswidrige Tat erlangt hat, sich oder einem anderen verschafft, einem anderen überlässt, verbreitet oder sonst zugänglich macht, um sich oder einen Dritten zu bereichern oder einen anderen zu schädigen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
  2. (…)
  3. Absatz 1 gilt nicht für Handlungen, die ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger dienstlicher oder beruflicher Pflichten dienen (…).»

Absatz 3 soll gemäss erläuterndem Bericht auch Journalisten von der Strafbarkeit ausnehmen, aber nur, wenn sie eine konkrete Veröffentlichung vorbereiten. Der Deutsche Anwaltsverein kritisierte, diese Regelung greife zu kurz: «Ein Journalist, der Daten zugespielt bekommt, kann naturgemäss erst nach der Sichtung des Datenbestandes beurteilen, ob daraus eine Veröffentlichung werden kann bzw. soll». Dann habe er sich aber bereits strafbar gemacht. Zudem gelten Blogger, Programmierer etc. nicht als Journalisten und sind vor Strafe in Zukunft nicht geschützt.

In Deutschland scheint nach dem Debakel rund um die Ermittlungen wegen Landesverrats gegen das Blog netzpolitik.org das Pendel wieder in Richtung Geheimhaltung zurückzuschlagen.

Und ganz grundsätzlich fällt auf, dass die Schweiz und Deutschland nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis suchen und dabei bisher ohne kohärenten Plan agieren. Doch kein Wunder, wirken doch seit einigen Jahren zwei Kräfte, die sich teilweise entgegenlaufen, teilweise verstärken: Zum einen das Grundcredo der Transparenz, dem sich der moderne Staat verpflichtet hat, und zum andern die Unsicherheit von Daten im digitalen Zeitalter. Dass der Schweizer Presserat in dieser Grundsatzdebatte ein deutliches Zeichen setzt, ist aus Sicht des Journalismus sehr zu begrüssen. Und hoffentlich orientiert sich der Schweizer Gesetzgeber nicht an der neuen Härte Deutschlands sondern am Presserat, streicht in der laufenden Revision Artikel 293 StGB, der die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen unter Strafe stellt, und beschliesst eine Revision des Obligationenrechts, das Whistleblower tatsächlich besser schützt.

Denn als Grund für die Streichung des Verwertungsverbots von unlauter beschafften Informationen nennt Presserats- Geschäftsführerin Ursina Wey gerade die Debatte über das Whistleblowing. Die ursprüngliche Fassung von Richtlinie a.1 stamme aus dem Jahr 2000, damals sei dieses Thema (noch) nicht aktuell gewesen. «Zudem erachtete es der Presserat als problematisch, (abschliessend) konkrete Delikte bzw. Straftatbestände zu nennen, welche dazu führen sollen, dass eine Indiskretion nicht veröffentlicht werden darf, andere, wie beispielsweise eine Amtsgeheimnisverletzung, hingegen nicht.»

Für diese Klärung gebührt dem Presserat Lob. Irritiernd hingegen ist, wie zurückhaltend er diese Änderung des Journalistenkodex kommuniziert hat. Sie ist ganz hinten im Jahresbericht 2014 erwähnt. Kommentarlos. Und bis Redaktionsschluss wurde die Neuerung weder in der Online-Version des Medienethik-Ratgebers des Presserats noch in dessen App nachgeführt. Dort finden orientierungsbedürftige Journalisten immer noch die alte Version. So ernst der Presserat von den Gerichten bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte genommen wird, wenn sie unbestimmte Rechtsbegriffe zu füllen haben, so wenig scheint sich der Presserat selbst seiner Bedeutung bewusst zu sein.

Netzpolitik.org: Empörung in Deutschland, Alltag in der Schweiz

In Deutschland wurde das Strafverfahren gegen netzpolitik.org nach lautstarken Protesten eingestellt. In der Schweiz hingegen werden Journalisten wegen ähnlicher Taten verurteilt. Jahr für Jahr. Und kein Hahn kräht danach.

Das Strafverfahren wegen Landesverrats gegen die beiden deutschen Journalisten  Markus Beckedahl und André Meister der Internetplattform netzpolitik.org wurde am 10. August 2015 eingestellt.

Beckedahl und Meister hatten Auszüge aus den Haushaltsplänen des Verfassungsschutzes publiziert, die belegten, dass der Verfassungsschutz 75 zusätzliche Mitarbeiter anstellen will, die das Internet nach verdächtigen Mitteilungen durchsuchen. Am 30. Juli war bekannt geworden, dass der Generalbundesanwalt gegen die Redaktion ermittelt.

Beckedahl fiel aus allen Wolken, als er von den Ermittlungen hörte: „Ich wusste gar nicht, dass Journalisten wegen Landesverrates angeklagt werden können. Ich dachte sowas ist einmal beerdigt worden“, sagte er in einem Interview mit dem „Medienmagazin“ von Radio Eins.

Tja, Markus Beckedahl – in der Schweiz ist das üblich! Da braucht es nicht einmal den Vorwurf des Landesverrats: Pro Jahr ergehen gemäss Polizeistatistik durchschnittlich zwei Anzeigen gegen Journalisten, weil sie aus geheimen Dokumenten zitiert haben. Meist werden sie verurteilt, denn dem Bundesgericht genügt es bereits, wenn Journalisten aus einem Schriftstück zitieren, das für geheim erklärt wurde. Den höchsten Schweizer Richtern ist egal, wenn die ganze Schweiz dieses Geheimnis bereits kennt. Und dabei kann es um Banalitäten gehen – weit weg vom Landesverrat.

Das musste zuletzt ein Journalist der NZZ am Sonntag erfahren, der aus einem (geheimen) Kommissionsprotokoll des Nationalrats Äusserungen der damaligen Justizministerin Eveline Widmer Schlumpf über den damaligen Bundesanwalt zitierte. Das alleine genügte dem Bundesgericht 2013 für eine Verurteilung.

Es war egal, dass die ganze Schweiz wusste, dass die Justizministerin und der Bundesanwalt das Heu nicht auf der gleichen Bühne hatten. Immerhin wurde der Entscheid an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen. Vielleicht muss hier Strassburg der Schweiz ein weiteres Mal beibringen, was Medienfreiheit heisst.  Doch bis zu einem Entscheid dauert es in der Regel rund sechs Jahre.

Denn die Schweiz erscheint im Vergleich zu Deutschland wie ein Entwicklungsland in Sachen Medien- und Pressefreiheit. Der entscheidende Unterschied liegt in Artikel 293 des Schweizer Strafgesetzbuches, der jeden unter Strafe stellt, der aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, zitiert, die als geheim erklärt worden sind. Da braucht es keinen Landesverrat, sondern simpelste Geheimnisse (die manchmal gar keine sind) genügen. Das Parlament diskutiert zwar erneut über diesen Strafartikel, will ihn aber nicht streichen, sondern nur geringfügig modifizieren.

In Deutschland wurde ein vergleichbarer Straftatbestand 1980 gestrichen. Das Land lebt gut damit. Verwaltung und Parlament sind nicht zusammengebrochen. Und das Verfahren wegen Landesverrats wirkt wie das letzte Aufbäumen eines alten Staatsverständnisses, das offenbar nur noch wenige teilen – wie die Proteste und Reaktionen der letzten Tage gezeigt haben.

Geheimnisverrat: Die Angst des Parlaments vor sich selbst

Veröffentlichen Journalisten in der Schweiz geheime amtliche Dokumente, sollen sie weiterhin bestraft werden können. Es sei denn, für die Geheimhaltung besteht kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse. Das will die Rechtskommission des Nationalrats. Der Vorschlag ist ein Rückschritt: Noch 2012 wollte die gleiche Rechtskommission den strittigen Artikel des Strafgesetzbuchs ersatzlos streichen.

Wenn Journalisten heute Informationen aus geheimen Akten, Untersuchungen oder Dokumenten öffentlich machen, erfüllen sie gemäss geltendem Gesetz immer den Straftatbestand der «Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» (Art. 293 StGB). Ein Freispruch ist nur möglich, wenn sich Medienschaffende mit der «Wahrung berechtigter Interessen» rechtfertigen können. Die Latte für diesen Rechtfertigungsgrund hängt das Bundesgericht aber sehr hoch.

Diese medienfeindliche Regelung wird vom Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seit Jahren gerügt: Strassburg verlangt, dass Richter immer die Geheimhaltungsinteressen des Staates und die Medienfreiheit gegeneinander abwägen.

Um das Strafgesetz dieser Rechtsprechung anzupassen, schlägt die Rechtskommission des Nationalrats nun vor, Artikel 293 StGB mit einem neuen Absatz 3 zu ergänzen: «Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Veröffentlichung kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegengestanden hat». Im Klartext: Strafbar sollen Medienschaffende nur noch sein, wenn das Interesse der Beamten, Politiker oder Justizbehörden an der Geheimhaltung der Dokumente grösser ist, als das Interesse der Öffentlichkeit an der Information.

Zuerst das Positive an diesem Vorschlag: Tritt er in Kraft, müssen Richter immer auch die Interessen der Öffentlichkeit an Information und die Medienfreiheit berücksichtigen. Und damit macht die Rechtskommission vor allem dem Bundesgericht Beine: Noch im Januar 2013 verurteilten die höchsten Richter einen Journalisten der NZZ am Sonntag nur schon deshalb, weil er geheime Kommissionsprotokolle des Nationalrats öffentlich gemacht hatte (Urteil 6B_186/2012).

Den höchsten Schweizer Richtern genügte für die Verurteilung, dass der Journalist aus Schriftstücken zitiert hatte, die vom Parlamentsgesetz für geheim erklärt werden. Zwar wog das Bundesgericht am Schluss des Urteils die Geheimhaltungsinteressen doch noch gegen das Interesse der Öffentlichkeit an Information ab, doch war dies für den Entscheid nicht mehr relevant. Dabei kamen die Bundesrichter übrigens zum gleichen Schluss: Der Journalist habe sich strafbar gemacht, als er Äusserungen der damaligen Justizministerin Eveline Widmer Schlumpf über den damaligen Bundesanwalt Erwin Beyeler wörtlich aus dem Kommissionsprotokoll zitiert hat. Der Streit zwischen den beiden sei hinlänglich bekannt gewesen, meinten die Bundesrichter. Die wörtlichen Zitate hätten deshalb für die Öffentlichkeit nur geringen Informationswert gehabt.

Diese Erwägungen des Bundesgerichts zeigen deutlich: Der neue Gesetzesvorschlag wird die Situation der Journalisten kaum verbessern, denn das Bundesgericht ist in Sachen Art. 293 StGB nicht gerade medienfreundlich. Es gewichtet die Geheimhaltungsinteressen des Staates meist höher als die Interessen der Öffentlichkeit an Information. Dies bestätigt ein Strassburger Entscheid vom Juli 2014. Darin wirft der EGMR dem Bundesgericht vor, die Medienfreiheit verletzt zu haben. Die Bundesrichter hatten eine Strafe für einen Journalisten der Zeitschrift «Illustré» gutgeheissen, weil er gestützt auf Verhörprotokolle über das Strafverfahren gegen einen Autofahrer berichtet hatte, der in Lausanne von einer Brücke gestürzt war. Gemäss Strassburg verletzt dieses Bundesgerichtsurteil die Medienfreiheit. Der Artikel des Journalisten sei von öffentlichem Interesse gewesen, habe weder die Gerichtsverhandlung beeinflusst noch die Unschuldsvermutung verletzt, urteilten die Richter des EGMR.

Damit fällt ein erstes Fazit zum Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrats durchzogen aus: Die Gesetzesänderung ist zwar ein notwendiger Schritt, aber kein hinreichender, weil das Bundesgericht mit der Medienfreiheit Mühe hat. Rechtssicherheit für Medienschaffende – wie es die Kommission behauptet – ist mit dem neuen Absatz 3 noch lange nicht erreicht.

Die einzige Lösung ist die Abschaffung des umstrittenen Artikels 293 des Strafgesetzbuches – genau wie es der Bundesrat, die Rechtskommissionen von National- und Ständerat bereits 1996 vorgeschlagen und die beiden Räte 1997 beinahe beschlossen haben. Wäre da nicht der Fall Jagmetti dazwischengekommen. Am Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die nachrichtenlosen Vermögen und das Nazigold erschienen in der «Sonntagszeitung» zwei Artikel von Martin Stoll, in denen Botschafter Carlo Jagmetti gestützt auf ein von ihm verfasstes Strategiepapier vorgeworfen wurde, die Juden zu beleidigen.

Diese Texte führten zu einem Sinneswandel im Parlament, das die Streichung von Artikel 293 StGB in der Folge knapp ablehnte. Darauf wartete die Politik auf die Justiz. Das Bundesgericht verurteilte den Journalisten wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen, eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erklärte diesen Entscheid 2006 für konventionswidrig, da er die Medienfreiheit verletze. Die Schweiz zog den Entscheid an die grosse Kammer des EGMR weiter, welche dann 2007 zu einem andern Schluss kam und das Urteil des Bundesgerichts schützte. Entscheidend für dieses zweite Strassburger Urteil war unter anderem die unnötig reisserische Aufmachung der Artikel – nicht aber deren eigentlicher Inhalt.

Trotzdem hatte der Gerichtsentscheid politische Wirkungen: Der Bundesrat änderte seine Meinung und erklärte 2008, die Streichung von Artikel 293 StGB sei keine angemessene Lösung. Die Rechtskommission des Nationalrats hingegen blieb zuerst bei ihrer Haltung und schlug noch 2012 die Streichung vor. Erst im November 2014 schwenkte auch sie um und will Art. 293 jetzt nicht mehr abschaffen, sondern nur noch präzisieren. Der Grund: Es gebe eben doch Geheimnisse des Staates, die wichtig sind und für die selbst der Europäische Gerichtshof Strafen zulasse, wenn sie zu Unrecht öffentlich gemacht werden.

Diese Entstehungsgeschichte des aktuellen Vorschlags zeigt, dass er von sachfremden Motiven beeinflusst ist – von Emotionen in einer heissen politischen Auseinandersetzung – und vom Orakeln über einen Entscheid Strassburgs. Not tut aber eigenständiges Denken.

Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, Art. 293 StGB zu streichen:

  • Nicht die Urheber des Geheimnisverrats werden bestraft – also meist die Parlamentarier selbst, sondern die Journalisten als Überbringer der Botschaft. Medienschaffende müssen leiden, weil Parlamentarier oder Beamte ihren Laden nicht im Griff haben. Man schlägt den Sack und meint den Esel.
  • Art. 293 StGB wird von Parlament und Verwaltung sehr selektiv eingeklagt: Viele Indiskretionen bleiben ungeahndet – nur einzelne missliebige Journalisten werden ins Visier genommen. Diese Willkür ist eines Rechtsstaats nicht würdig.
  • In einem Staat, der stolz ist auf seine direktdemokratischen Elemente darf es keine «Geheimnisse» der Verwaltung oder des Parlaments geben, die strafrechtlich abgesichert werden müssen. Wieso sollen Parlamentarier oder Bundesräte vor Peinlichkeiten geschützt werden, die sie sich in den Kommissionen leisten? Wieso soll schlimmstenfalls sogar ihr Unvermögen der Öffentlichkeit verheimlicht werden? Deshalb braucht es für Parlament und Verwaltung keinen strafrechtlich geschützten Geheimbereich.

Anders liegen die Dinge allenfalls bei der Strafjustiz. Das Untersuchungsgeheimnis dient dazu, die Arbeit der Strafverfolger überhaupt erst möglich zu machen. Wenn Zeugen in den Medien von Aussagen anderer lesen, bevor sie einvernommen wurden, hat die Staatsanwaltschaft ein Problem. Zudem geht es in diesem Bereich oft um persönlichkeitsrechtlich sensible Informationen. Deshalb hat Deutschland 1980 einen mit Art. 293 StGB vergleichbare Bestimmung abgeschafft und durch spezifische Straftatbestände ersetzt, die das Untersuchungsgeheimnis schützen. Eine ähnlich differenzierte und sachlich abgestützte Lösung stünde der Schweiz gut an.