Vom Ringen um ein Recht – Willkür bei der Staatsanwaltschaft?

Ein Zürcher Staatsanwalt gewährt einem SVP-Kantonsrat, was er einem Betroffenen verweigert: Einblick in Strafbefehle nach dem aufsehen­erregenden Klimaprotest vor dem CS-Hauptsitz.

Christian Philipp, Leiter des Rechts­dienstes der Zürcher Ober­staats­anwaltschaft, gewährte dem Zürcher SVP-Kantons­rat Claudio Schmid Einsicht in 41 nicht anonymisierte Straf­befehle von Klima­aktivisten. Einem betroffenen Aktivisten gegenüber zeigte sich Philipp weniger kulant: Ihm verweigerte er das verfassungs­mässige Recht auf Justiz­öffentlichkeit. Der Fall zeigt, wie fragwürdig die Zürcher Staats­anwaltschaft mit diesem verbrieften Recht umgeht.

Jede Person in der Schweiz hat das Recht, in Gerichts­säle zu sitzen und zuzuhören, wie Richterinnen Recht sprechen. Und weil heute mehr als 98 Prozent aller Straf­verfahren nicht mehr von Gerichten, sondern von Staats­anwälten im einsamen Kämmerlein entschieden werden, darf auch jede Person diese Straf­befehle einsehen. Sie liegen bei den Staats­anwaltschaften auf – im Kanton Zürich 30 Tage lang, nachdem ein Straf­befehl rechtskräftig geworden ist. «Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung», schreibt das Bundes­gericht in einer wieder­kehrenden Formel, «bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinetts­justiz und soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und den übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetz­mässige Behandlung gewährleisten.»

Alles klar? Mitnichten. Das zeigt der Fall des Klima­aktivisten Marco Bähler. Ein Bericht über den Kampf eines David gegen Goliath in drei Runden. Mit Aufwärm- und Dehnphase.

Aufwärmen: Klima­aktivist Marco Bähler spielt am 8. Juli 2019 vor dem CS-Hauptsitz am Zürcher Parade­platz auf der Mund­harmonika «This Land Is Your Land». Der 64-jährige Physik­laborant ist einer von 64 Frauen und Männern, die mit Velos und Pflanzen­kübeln den Eingang der Grossbank verstellen. Wer in die Bank will, muss über die Ketten steigen, mit denen sich Aktivistinnen an die Kübel gefesselt haben. Sie protestieren gegen die Anlage­politik der CS, die ihrer Meinung nach den Klima­wandel beschleunigt. Die Polizei nimmt die Aktivisten fest, Marco Bähler sitzt 47 Stunden lang in Haft. Er verlässt das Polizei­gefängnis mit einem Strafbefehl wegen Nötigung und Haus­friedens­bruch, verurteilt zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tages­sätzen à 30 Franken und 800 Franken Verfahrenskosten.

Runde 1: Am 11. Juli, einen Tag nach seiner Freilassung, verlangt Bähler per Kontakt­formular der Zürcher Staats­anwaltschaft Einsicht in sämtliche Straf­befehle, die bei jener Polizei­aktion ausgestellt wurden – «gestützt auf das Öffentlichkeits­gesetz und die Bundes­verfassung». Er will wissen: Wie wurden seine Aktivisten­kolleginnen bestraft? Und vor allem: Wurden ausländische Beteiligte härter angefasst? Bähler will auch kontrollieren, wie unterschiedliche Straf­masse begründet sind. Mit gutem Grund, wie sich später zeigen wird: In Zürich wurden die Aktivisten zu Geld­strafen von 60 bis 80 Tages­sätzen verdonnert; in Basel, wo eine ähnliche Aktion stattfand, reichen die Strafen gar von 150 bis 170 Tage Freiheits­strafe oder 180 Tages­sätze Geld­strafe. In Lausanne hingegen wurden Klima­aktivistinnen im Januar 2020 wegen «recht­fertigenden Notstands» von der ersten Instanz zuerst freigesprochen, von der zweiten Instanz letzten Donnerstag aber zu bedingten Geld­strafen von 10 bis 20 Tagessätzen verurteilt.

Bähler erhält auf sein Gesuch keine Antwort. Wochen­lang. Wieso reagiert die Staats­anwaltschaft nicht? «Einsichts­begehren, welche über ein Kontakt­formular der Website der Staats­anwaltschaft ohne genügende Identifizierung des Antrags­stellers gestellt und auch nicht unterzeichnet sind, genügen der erforderlichen Form nicht», sagt Staats­anwalt Christian Philipp, Leiter des Rechts­dienstes und stellvertretender Medien­verantwortlicher der Zürcher Ober­staatsanwaltschaft. Das Kontakt­mail sei nur für allgemeine Anfragen gedacht und nicht für Rechts­begehren. Das sei auf der Website auch so vermerkt.

Entscheid des Ringrichters: Ein klares Foul der Staats­anwaltschaft. Sie informiert die Bürger zu wenig transparent darüber, dass sie gesetzlich während 30 Tagen die Möglichkeit haben, einen Straf­befehl einzusehen, und wie dieses Recht wahrgenommen werden kann. Darauf weist die Website nirgends hin.

Pause zwischen Runde 1 und Runde 2: Am 29. Juli 2019 stellt SVP-Kantons­rat Claudio Schmid als Bürger ein Einsichts­begehren per simplem E-Mail, ohne sich zu identifizieren. Auf sein Gesuch antwortet Staats­anwalt Christian Philipp am 5. September 2019: «Ihr Einsichts­gesuch wurde innert dreissig Tagen nach Rechts­kraft eines Teils der Straf­befehle gestellt, weshalb Sie ohne ein spezielles Einsichts­interesse geltend machen zu müssen (…) Einsicht in die Straf­befehle nehmen können.»

Runde 2: Etwa eine Woche später, am 6. August, fragt Physik­laborant Bähler per Mail bei der Staats­anwaltschaft nach, was mit seinem Einsichts­gesuch passiert sei und ob er jetzt Einsicht nehmen könne. Staats­anwalt Philipp antwortet am 7. August, dass man in Straf­befehle nur «nach begründeter Geltend­machung des Einsichts­interesses innert dreissig Tagen nach Eintritt der Rechts­kraft» Einsicht nehmen könne. Zu Bählers konkretem Gesuch meint der Staats­anwalt: «Die unbegründete, pauschale Einsichts­forderung von Ihnen in die besagten, grössten­teils noch nicht rechts­kräftigen Straf­befehle findet somit keine rechtliche Grundlage.»

Wieso könnte Bähler die Straf­befehle erst «nach begründeter Geltend­machung des Einsichts­interesses» einsehen? Rechts­dienstleiter Philipp führt auf Anfrage aus, es gehe bei Bählers Gesuch «um Einsicht in Straf­befehle, welche es Dritt­personen ermöglicht, die politische Gesinnung bestimmter Personen und deren Welt­anschauung offenzulegen (Klima­aktivisten)». Die Ausgangs­lage sei somit nicht die gleiche, wie wenn jemand Einsicht in einen Straf­befehl nehmen wolle, bei dem es nicht um die «gesinnungs­bezogene Ausrichtung der bestraften Person» gehe. Philipp schreibt zudem: In solchen Fällen müsse man allen Verurteilten das rechtliche Gehör gewähren, ob sie in eine Einsicht einwilligen.

Eine Antwort, die Fragen aufwirft: Wieso soll das alles plötzlich bei Klima­aktivist Bähler gelten, nicht aber bei SVP-Politiker Schmid? Wieso muss Schmid kein begründetes Einsichts­interesse dartun, sich nicht identifizieren, und wieso werden bei seinem Gesuch die Betroffenen nicht angehört? Gerade beim SVP-Politiker wäre ja ein Schutz der Gesinnung von Klima­aktivistinnen allenfalls wichtig. Spielt es eine Rolle, dass der SVP-Kantonsrat 2018 einen Vorstoss eingereicht hat, der der Staats­anwaltschaft vorwarf, Verfahren zu verschleppen? Staats­anwalt Christian Philipp will zu diesen Fragen keine Stellung nehmen.

Entscheid des Ringrichters: Ein mehrfaches Foul des Staats­anwalts. Philipp erfindet eine Beschränkung der Justiz­öffentlichkeit, die weder in Verfassung, Gesetz noch in den Weisungen seiner eigenen Behörde, der Ober­staats­anwaltschaft des Kantons Zürich, vorgesehen ist. Das kritisiert Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungs­recht an der Universität Basel: «Offenbart eine Straftat eine gewisse Gesinnung des Verurteilten», erklärt er, «so ist es im Gegenteil umso wichtiger, dass sich die Öffentlichkeit vom Verhalten des Gerichts oder des Staats­anwalts ein Bild machen kann.» Und zum Zweiten misst Staats­anwalt Philipp ohne Grund mit ungleichen Ellen. «Aufgrund der geschilderten Fakten ist kein Grund für die rechts­ungleiche Behandlung ersichtlich», so Staats­rechtler Schefer. «Deshalb scheint es, dass der Staats­anwalt willkürlich gehandelt hat.» Zu diesen Vorwürfen will Philipp ebenfalls keine Stellung nehmen.

Pause zwischen Runde 2 und Runde 3: SVP-Kantons­rat Schmid nimmt Anfang Oktober 2019 Einsicht in die 41 rechts­kräftigen Straf­befehle – nicht anonymisiert, also alle mit Namen versehen. Das ist sein gutes Recht. Er publiziert darauf Namen, Herkunft und Straf­mass auf Twitter. So etwa am 8. Oktober 2019: «Angriff von Klima­aktivisten aus Deutschland gegen den Finanz­platz Zürich – U. B., Alter, Wohnort (von der Redaktion anonymisiert), 80 Tage Geld­strafe unbedingt, vorbestraft». Basierend darauf, erscheint am 18. Oktober 2019 in der rechts­konservativen «Schweizer­zeit» der Artikel «Angriff der Klima-Extremisten», geschrieben von Schmids Partei­kollege Hermann Lei, SVP-Kantons­rat aus dem Kanton Thurgau. Darin werden Herkunft, Tätigkeit, teilweise auch Namen der Aktivistinnen und die jeweiligen Strafen genannt.

Runde 3: Der Schlag­abtausch zwischen Klima­aktivist Bähler und Staats­anwalt Philipp wird intensiv: Einer rechten Geraden folgt ein Haken, dann ein Aufwärts­haken. Und der Rechts­ausleger gibt mit linker Gerade und Aufwärts­haken zurück. Es kommt zu einem Hin und Her von Gesuchen, Entscheiden, einer Beschwerde an die Justiz­direktion und einer Rechts­auskunft des von Bähler angerufenen Daten­schützers des Kantons Zürich. Dieser befindet: «Nach dem Willen des Gesetz­gebers sowie nach herrschender Lehre ist für die Einsicht­nahme in einen Straf­befehl kein Interessen­nachweis voraus­gesetzt. Eine zeitliche Beschränkung des Einsichts­rechts ist weder der Bundes­verfassung noch der Straf­prozess­ordnung zu entnehmen.» Schliesslich verfügt Staats­anwalt Philipp am 3. August 2020, dass Bähler sämtliche 41 rechts­kräftigen Straf­befehle anschauen darf – aber in anonymisierter Form.

Er habe das Einsichts­verfahren nicht verschleppt, wehrt sich Philipp. Das lange Verfahren sei darauf zurück­zuführen, dass Bähler erst im November 2019 ein formal gültiges Gesuch gestellt und danach Beschwerde erhoben habe. Zudem habe der Rechts­dienst der Ober­staatsanwaltschaft jährlich mehrere tausend Einsichts­begehren zu beurteilen.

Schlussentscheid des Kampf­richters: Ein klarer Sieg nach Punkten für Klima­aktivist Marco Bähler. Ein Jahr und 23 Tage nach seinem ersten Gesuch erhält er Zugang zu den Straf­befehlen, wenn auch in anonymisierter Form. Staats­anwalt Christian Philipp liegt angezählt auf der Matte. Transparenz und Justiz­öffentlichkeit leider auch.

Dehnphase: Klima­aktivist Marco Bähler hat eine Aufsichts­beschwerde an die Zürcher Justiz­direktion eingereicht. Er will damit das Verhalten des Leiters des Rechts­dienstes der Zürcher Staats­anwaltschaft sowie dessen Umgang mit dem verfassungs­mässigen Recht auf Justiz­öffentlichkeit grundsätzlich überprüfen lassen.

(Dieser Text ist erstmals erschienen am 30. 9. 2020 in der Onlinezeitschrift www.republik.ch )

Hausfriedensbruch einmal anders

Ein 70-jähriger Schweizer wird innert zwei Monaten drei Mal wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Es ist immer dasselbe Haus. Es steht in Zürich am Kreuzplatz 11. Wieso er das tut, bleibt ein Rätsel.

Ort: Zürich
Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr: STAZL B-6 STR 2017 10034343 vom 24.10.2017, 10036353 vom 20.11. 2017 und 10040203 vom 21.12.2017
Thema: Strafbefehle wegen mehrfachen Hausfriedensbruchs

In schöner Regelmässigkeit wird Erwin Küng* gegen Monatsende bestraft: Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Immer wegen des gleichen Delikts: Hausfriedensbruch. Der 70-Jährige hat also ein Haus betreten, obwohl er das nicht durfte.

Zuerst verurteilt ihn die Staatsanwaltschaft Zürich/Limmat zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 30 Franken. Dann zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Tagen. Und das dritte Mal nochmals zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Tagen. Offenbar hat er noch öfter ohne Einwilligung ein Haus betreten: Gemäss Strafbefehl weist «der Beschuldigte 8 Vorstrafen wegen Hausfriedensbruch auf». Was hat der Mann für ein Problem?

Wie Justizblog und die Republik kürzlich berichteten, kommt man an die Strafbefehle erst nach einem langen und zähen Hürdenlauf. Dann ist klar: Das Haus, das Küng trotz Verbot immer und immer wieder betritt, steht am Kreuzplatz 11 in Zürich. Es ist ein Züri-WC.

"Der Beschuldigte wurde am 17. Oktober 2017, am 19. Oktober 2017 und am 7. November 2017 in der Toilette der Züri-WC am Kreuzplatz 11 in 
8032 Zürich angetroffen, und es wurde festgestellt, dass der 
Beschuldigte die Nächte vom 16. Oktober 2017 auf den 17. Oktober, vom 18. Oktober auf den 19. Oktober 2017 sowie vom 6. November 2017 auf den 7. November in besagter Toilette verbracht hatte. Der 
Beschuldigte tat dies, obwohl er wusste, dass gegen ihn mit Schreiben vom 30. März 2015 (dem Beschuldigten am 30. März 2015 persönlich 
ausgehändigt) für sämtliche Züri-WC ein gültiges Hausverbot besteht."

Auszug aus dem Strafbefehl B-6/2017/10036353 vom 20. November 2017

Zürich ist – gemäss Rating des Beratungsunternehmens Mercer – die Stadt mit der zweithöchsten Lebensqualität der Welt. Trotzdem übernachtet ein 70-jähriger Schweizer in einem WC und wird deshalb ins Gefängnis gesperrt. Unbedingt. 30 Tage lang.

Erwin Küng ist ein «Obdachloser». Eigentlich wohnt er in einem Haus für betreutes Wohnen des Sozialdepartements der Stadt Zürich. Aber offenbar zieht er die Toilette am Kreuzplatz 11 vor. «Niemand muss in der Stadt Zürich unfreiwillig draussen übernachten», sagt Seraina Ludwig, Mediensprecherin der Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich. «Grundsätzlich liegt es aber in der Entscheidung des Einzelnen, ob er oder sie unsere Angebote in Anspruch nimmt oder nicht.» Weshalb übernachtet Erwin Küng lieber in einem WC als in der städtischen Unterkunft? Weitere Angaben kann Ludwig «aus Gründen des Persönlichkeits- und Datenschutzes» nicht machen.

Pro Jahr spricht das Amt für Umwelt- und Gesundheitsschutz, das für die Züri-WC zuständig ist, ein bis zwei Hausverbote für städtische Toiletten aus. Die häufigsten Gründe: «Regelmässige Belästigungen von Kunden, Kundinnen oder Mitarbeitenden oder regelmässige, vorsätzliche Sachbeschädigungen», erklärt Mediensprecherin Bärbel Zierl. Was ist der Grund im Fall Erwin Küng? Wieso reicht Züri-WC gegen einen 70-jährigen Obdachlosen Strafanzeige ein? Auch Zierl kann aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine konkreten Angaben machen.

Was nützen 30 Tage Knast bei einem 70-jährigen Obdachlosen, der eine Toilette einem Haus für betreutes Wohnen vorzieht? Eine Strafe soll die Leute abschrecken, eine Straftat überhaupt zu begehen. Und sie soll einen Täter davon abhalten, erneut straffällig zu werden. Beides lässt sich bei Erwin Küng wohl nicht erreichen. Wieso wird er trotzdem bestraft? Warum etwa nimmt sich kein Sozialarbeiter der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) seiner an? Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich «nimmt keine Stellung zur Strafart und zur Strafzumessung in Einzelfällen», erklärt Christian Philipp, stellvertretender Leiter der Kommunikation.

Da zeigt sich ein Grundproblem des Schweizer Strafrechts: Urteilen Richter, müssen sie ihr Verdikt im Detail erklären. Urteilen hingegen Staatsanwälte – und das tun sie unterdessen in sagenhaften 98 Prozent aller Strafverfahren –, müssen sie ihre Strafbefehle nicht begründen. So erfährt die Öffentlichkeit nicht, weshalb genau Erwin Küng ein «Hausverbot» in Züri-WC hat und wer da genau wovor geschützt werden muss. Die unbedingte Freiheitsstrafe von 30 Tagen leitet die Staatsanwaltschaft rein formaljuristisch her:

"Aufgrund des Verschuldens von Erwin Küng, seines Vorlebens und 
seiner persönlichen Verhältnisse (der Beschuldigte weist 8 Vorstrafen wegen Hausfriedensbruch auf) sind die Voraussetzungen für eine 
bedingte Strafe nicht gegeben. Vielmehr ist davon auszugehen, Erwin 
Küng sei nicht bereit, sich rechtskonform zu verhalten. Eine 
Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit als Sanktionen kommen nicht 
infrage, da diese nicht vollzogen werden können, weil Erwin Küng 
weder über ein ausreichendes Einkommen noch über einen festen 
Wohnsitz in der Schweiz verfügt."

Auszug aus dem Strafbefehl B-6/2017/10036353 vom 20. November 2017

8. April 2018, 17.45 Uhr, Züri-WC am Kreuzplatz 11. «Platz» trifft es eigentlich nicht, es ist eher eine kleine Rettungsinsel im Verkehrsfluss, der sich von Zürich-Forch und Witikon in die City wälzt. Die Nummer 11 ist ein alter Sandsteinbau mit Schieferdach. Vier Säulen und eine ausgemalte Rundkuppel zeugen von altem Glanz. Unter der Rundkuppel duckt sich ein Kiosk, mit Graffiti versprayt. Und drei Züri-WC. Zwei davon sind gratis, in Vollchromstahl und hyperfunktional. Ein Trichter dient als Klosett und Lavabo in einem. Die WC-Brille schwenkt nach oben, wenn man sein Geschäft erledigt hat. Wer hier übernachten will, muss sich mit einer Grundfläche von einem Quadratmeter begnügen. Und einer Matratze aus Stahlgitter. Für den Eintritt ins dritte WC muss man einen Franken einwerfen, dafür hat es Heizung, ein separates Lavabo, eine fest montierte Klobrille und eine Grundfläche von vier Quadratmetern. An der Wand ein Schild:

"INFORMATION

Benützungszeit 15 Min.
Mit Eurokey 30 Min.
Achtung!
Tür öffnet 3 Minuten nach Aufleuchten der Warnlampe automatisch.
SOS-Taste nur im Notfall drücken."

An einem Ort, wo niemand lange bleiben will, wo Klobrillen in die Höhe schwenken, um nicht viel Platz einzunehmen, und Türen sich nach einer Viertelstunde automatisch öffnen, will der 70-jährige Erwin Küng auf einem Stahlrost von einem Quadratmeter oder einem Betonboden von vier Quadratmetern übernachten. Die Vollchromstahl-Einrichtung wirkt unzerstörbar. Von tätlichen Übergriffen ist nichts bekannt. Die Öffentlichkeit kann in dieser Zeit eines der drei WC nicht benutzen, und eine Putzequipe muss danach vielleicht sauber machen. Züri-WC und Staatsanwaltschaft geht das zu weit. Erwin Küng sitzt erst einmal 30 Tage im Knast.

* Name geändert

Dieser Text erschien erstmals am 25.4.2018 in der Onlinezeitung http://www.Republik.ch

Zürcher Strafverfolger verletzen die Bundesverfassung

Strafbefehle müssen öffentlich einsehbar sein, damit es keine Geheimjustiz gibt. Im Kanton Zürich erhält man erst nach einem monatelangen Hürdenlauf Zugang. Der zweite Teil der dreiteiligen Serie zur Praxis der Einsicht in Strafbefehle.Ort: Zürich

Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr.: STAZL B-6 STR 2017 10034343, 10036353 und 10040203
Thema: Strafbefehle

Der Fall von Erwin Küng* ist ein Rätsel. Und er muss es vorerst bleiben.

Innert zweier Monate hat die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat Erwin Küng dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Der 70-jährige Schweizer wird also durchschnittlich alle zwei bis drei Wochen verurteilt, stets wegen des gleichen Delikts. Warum? Das kann die Öffentlichkeit nur nach einem Hürdenlauf erfahren. Denn trotz vieler Telefonate und zweier Besuche bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ist es monatelang nicht möglich, die Strafurteile in seinem Fall einzusehen. Damit verletzen die Zürcher Strafverfolger die Bundesverfassung, Art. 30 Abs. 3: Urteile und Strafbefehle müssen öffentlich zugänglich sein. Doch die Verfassung wird nicht nur im Fall von Erwin Küng verletzt, das Zürcher System ist grundsätzlich verfassungswidrig. Es grenzt an Schikane.

Das zeigt das Protokoll eines Hürdenlaufs in fünf Etappen: mit drei Anläufen, einer Aufwärm- und einer Dehnphase. Und einem Prolog.

Prolog

Mehr als 98 Prozent der Strafurteile fällen in der Schweiz nicht Richter, sondern Staatsanwälte. Die Strafverfolger dürfen Freiheitsstrafen bis sechs Monate und Geldstrafen bis 180 Tagessätze aussprechen, ohne dass ein Richter sich deren annehmen müsste. Einsam in ihrem Büro vor dem Computer. Ihre Urteile heissen Strafbefehle. So haben im Jahr 2016 die Staatsanwaltschaften Zürich-Sihl und Zürich-Limmat 463 Anklagen vor Gericht erhoben, im gleichen Zeitraum aber 6059 Strafbefehle gefällt und 6412 Strafverfahren eingestellt oder sistiert.

Immerhin: Diese Strafbefehle müssen wie Urteile öffentlich verkündigt werden, damit keine Geheimjustiz entsteht. Bürgerinnen und Bürger sollen kontrollieren können, ob alles mit rechten Dingen zugeht, wenn der Staat jemandem eine Strafe aufbrummt. Das wollen Bundesverfassung, Strafprozessordnung und Bundesgericht so. Doch wer den Staatsanwälten im Kanton Zürich auf die Finger schauen will, muss viele Hürden überwinden.

Aufwärmen: Dezember 2017 und Januar 2018

Leicht gekürzter Mailwechsel mit Corinne Bouvard, Mediensprecherin der Oberstaatsanwaltschaft Zürich:

Justizblog: Ich möchte im Januar 2018 die Strafbefehle des Kantons Zürich anschauen. Wie gehe ich genau vor?
Bouvard: Die Strafbefehle liegen jeweils bei den Amtsstellen auf, Sie müssten sich telefonisch kurz anmelden, und dann können Sie Einsicht in die entsprechenden Listen nehmen.
Justizblog: Wo genau findet ein Bürger im Internet diese Informationen?
Bouvard: Fragen – welcher Natur auch immer – können an jede Amtsstelle, welche über ein entsprechendes Kontaktmail verfügt (ersichtlich auf der Homepage), gerichtet werden. Ansonsten sind auch die Wosta aufgeschaltet, welche für vieles Antworten liefern.

Wer die «Wosta» sucht, findet sie schliesslich. Es sind die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren – ausgebreitet auf 279 Seiten. Bürgernähe sieht anders aus.

Erster Anlauf: 1. Februar 2018

Der Sitz der Staatsanwaltschaften Zürich-Limmat und Zürich-Sihl an der Stauffacherstrasse ragt mächtig auf. Alter Sandstein aussen, hohe Gänge und Stuckatur innen. Man schreitet durch Türstürze aus schwarzem Marmor, rosarot ummalt. Hier wird über die Straftaten in Zürich gerichtet.

Der Gerichtssaal? Ein Amtsschalter in Zimmer 72, Parterre, mit Schild «Archiv». Und die öffentliche Verkündigung hat das Gesicht eines Archivars. Er schiebt zehn eng bedruckte Seiten unter dem Schalterfenster durch: die Liste der 724 Strafbefehle, die in der Stadt Zürich zwischen dem 15. Dezember 2017 und dem 31. Januar 2018 rechtskräftig wurden. Der hilfreiche Archivar verabschiedet sich: «Ich mues jetzt go vernichte. Schöne Tag no.» Er meint damit die Akten, die älter als fünfzehn Jahre sind und die er im Keller schreddert, um Platz für neue zu schaffen.

Eingeklemmt zwischen Eingangstür und Schalter, auf einem Ablagebrett von einem Quadratmeter, darf die Öffentlichkeit die Liste der Strafbefehle studieren. Aufgeführt sind Strafbefehlsnummer, Name des Verurteilten, Geburtsdatum und Bezeichnung des Delikts. Aber kein Wort, was sich da dereinst zugetragen hat und wie der Staatsanwalt sein Urteil begründet. Kontrolle der Justiz? Nur schwerlich möglich.

Lässt sich vielleicht wenigstens auswerten, welche Delikte in der Stadt Zürich die häufigsten sind?

«Wir können die Computerliste nicht nach Tatbeständen durchsuchen», sagt ein zweiter Archivar hinter dem Schalter, während der erste im Keller Akten schreddert. Der zweite – grauer Wollpullover über kariertem Hemd – hat es beim Chef (Leiter Abteilung Geschäftskontrolle) extra abgeklärt und zuckt mitfühlend die Schultern. So zählt denn die Öffentlichkeit von Hand die einzelnen Verurteilungen – auf dem Holzbrett im engen Raum zwischen Schalterfenster und Tür.

Die zwei Stunden dauernde Auswertung ergibt für die Stadt Zürich ein völlig anderes Bild der Alltagskriminalität als zum Beispiel für das ländliche Sursee. Die meisten Namen auf der Zürcher Liste sind ausländisch (in Sursee waren kaum welche dabei). Kein Wunder: Ein Drittel aller Verurteilungen betrifft Ausländer, die sich illegal in der Schweiz aufhalten und am Hauptbahnhof Zürich gestrandet sind (243 von 724 Strafbefehlen). Es folgen Delikte wie Diebstahl (113), grobe Verletzung der Verkehrsregeln (42) und Fahren in fahrunfähigem Zustand (33). Wegen Pornografie (6) und Exhibitionismus (4) wurden nur Leute mit Schweizer Namen verurteilt.

Und eben auffällig: Ein Erwin Küng, geb. 19.11.1947, wird innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs bestraft. Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Was hat dieser Mann für ein Problem?

Die Öffentlichkeit kann einzelne Strafbefehle im Wortlaut bestellen, indem sie diese auf der Liste der 724 ankreuzt. Der Archivar holt das Dokument aber nicht sofort, er schickt es mitsamt allen Akten zuerst an den leitenden Staatsanwalt. Der prüft, ob die Öffentlichkeit den Strafbefehl einsehen darf. Nach knapp einer Woche folgt ein Anruf des Archivars, muss ein zweiter Termin vereinbart werden, reist man erneut an, um die Strafbefehle einzusehen.

Zweiter Anlauf: 8. Februar 2018

Wieder Zimmer 72, Parterre, im mächtigen Bau mit schwarz-rosaroten Türstürzen. Wieder der Archivar im grauen Wollpullover. Man kennt sich mittlerweile am Schalter. Er schiebt 13 der 18 bestellten Strafbefehle durchs Fenster. «5 kann ich Ihnen noch nicht geben, weil die Akten samt Strafbefehl von einer Amtsstelle zurzeit benötigt werden.» Das sei etwa der Fall, wenn eine Geld- in eine Freiheitsstrafe umgewandelt oder jemand erneut straffällig geworden sei. Ist es denn nicht möglich, Kopien der rechtskräftigen Strafbefehle einzusehen? «Nein», sagt der Archivar. Warum, weiss er nicht. Er lächelt entschuldigend.

Unter den 5 unter Verschluss gehaltenen Strafbefehlen sind die 3 des Erwin Küng, 19.11.1947, der innert zweier Monate dreimal wegen Hausfriedensbruchs verurteilt wurde. Es wird also ein dritter Termin nötig, um diese Strafbefehle einzusehen. Und wer weiss, wenn der 70-jährige Erwin Küng weiterhin ohne Einwilligung in fremde Wohnungen, durch umzäunte Gärten oder Gebäude schreitet, sind die Strafbefehle möglicherweise nie einsehbar, weil sie dauernd für ein Nachverfahren benötigt werden.

Dritter Anlauf: 22. Februar 2018

Ein Telefonat mit dem Archivar ergibt: Die Strafbefehle des Erwin Küng sind noch immer nicht im Archiv eingetroffen. Der Archivar verspricht zurückzurufen, sobald sie da sind. Was bis zum Redaktionsschluss am 28. März nicht geschehen ist.

Dehnen: 22. Februar bis 28. März 2018

Im Kanton Zürich braucht es mehrere Telefonate, sicher zwei, mitunter sogar drei Besuche vor Ort und mehr als zwei Monate, um Strafbefehle einzusehen. Kaum jemand nimmt das auf sich. In den letzten eineinhalb Jahren – seit der einzige freischaffende Zürcher Gerichtsreporter gestorben ist – hat niemand im Archiv Einsicht genommen. Das hürdenreiche Prozedere verletzt das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit, weil es den Zugang zu Strafbefehlen faktisch aushebelt.

Im Kanton St. Gallen können Journalistinnen Strafbefehle zu Hause am Computer einsehen. Sie erhalten zuerst per Mail die Liste der rechtskräftigen Entscheide, wählen die Strafbefehle aus, die sie interessieren, und erhalten die Dokumente als PDF innert Stunden zugeschickt. Wieso ist das in Zürich so kompliziert?

Für die Mediensprecherin der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ist es «nachvollziehbar, dass Journalisten, die am Recherchieren sind, möglichst zeitnah Einsicht nehmen wollen». Darum bemühe sich die Staatsanwaltschaft Zürich, diesem Anliegen «im Rahmen des Möglichen» Rechnung zu tragen. Aber mailen wie in St. Gallen könne man Listen und Strafbefehle nicht, weil es sich um «besonders schützenswerte Personendaten» handle. Man halte sich an die Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, «welche festhalten, dass die Einsichtnahme auf der Amtsstelle erfolgt». Dabei irrt die Mediensprecherin. Die Empfehlungen sehen nicht vor, dass die Einsicht vor Ort geschehen muss, sie legen nur fest, dass es «unter der Aufsicht der Kanzleien der Staatsanwaltschaften» geschehen soll. Wie auch immer: Solche Empfehlungen legitimieren eine Verfassungsverletzung aber nicht.

Und wann kann die Öffentlichkeit die 3 Strafbefehle gegen Erwin Küng, geb. 19.11.1947, endlich einsehen? Corinne Bouvard verweist an Daniel Kloiber, den leitenden Staatsanwalt Zürich-Sihl. Der ruft umgehend zurück, verspricht die 3 Strafbefehle – als PDF per Mail. Ausnahmsweise.

PS: Die 3 eingeforderten Strafbefehle trafen nach Redaktionsschluss ein. Sie werden Thema sein meiner nächsten Kolumne, die am 25. April 2018 in der http://www.republik.ch erscheinen wird.
PPS: Der Text wurde in der http://www.republik.ch vom 4. April 2018 erstmals publiziert.

* Name geändert

Uni Zürich: Mails her oder ich verfüge

Die Rechtslage bei der Herausgabe von Mail- und anderen Kommunikationsdaten an die Strafverfolgungsbehörden ist komplex. Ein klärendes Urteil tut Not.

Die Universität Zürich hat Mail-Daten von Mitarbeitenden an die Zürcher Staatsanwaltschaft herausgegeben, damit sie in einem Strafverfahren wegen Amtsgeheimnis mögliche Täter eruieren kann. Offenbar übermittelte die Universität Zürich die Daten freiwillig an die Strafverfolger. Die Limmattaler Zeitung veröffentlichte dazu am 6. November Details:

«Die Anordnung einer rückwirkenden Teilnehmeridentifikation ist der Staatsanwaltschaft nicht möglich», schreibt Staatsanwalt Gnehm in einem Brief datiert vom 4. Oktober 2012 an den Rechtsdienst der Universität. Grund sei, dass Amtsgeheimnisverletzung keine «Katalogtat», also kein schweres Verbrechen sei. Im Wissen um die Tatsache, dass er die Herausgabe dieser Daten nicht anordnen kann, war Gnehm offenbar auf die Mithilfe der Universität angewiesen.

Man reibt sich die Augen? Keine „Katalogtat“? Wo soll es denn da einen Katalog geben? Vielleicht meinte der Staatsanwalt den Katalog der Straftaten, bei denen eine Überwachung angeordnet werden kann (Art. 269 StPO). Da ist die Amtsgeheimnisverletzung (Art. 320 StGB) tatsächlich nicht aufgeführt.

Doch handelt es sich in diesem Fall nicht um eine Überwachung nach Art. 269 StPO, sondern um eine Herausgabe von Daten nach Art. 273 StPO. Die Herausgabe ist bei allen Verbrechen und Vergehen möglich, also auch bei Amtsgeheimnisverletzung, aber sie braucht eine richterliche Genehmigung. Hat der Staatsanwalt also ohne richterliche Genehmigung Daten herausverlangt?

Nach Meinung der Grosszahl der Rechtsexperten nicht: Denn ein betriebsinterner Provider wie jener der Universität Zürich, auf dem die Daten lagen, unterstehe nicht dem Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs BÜPF, da gemäss Art. 1 Abs. 2 BÜPF nur staatliche, konzessionierte oder meldepflichtige Anbieter (z.B. Swisscom) und Internetanbieter darunter fallen.

Deshalb greift auch Art. 273 StPO nicht, denn gemäss herrschender Lehre ist diese Bestimmung nur bei Providern anwendbar, die unter das BÜPF fallen.

Die Universität Zürich ist aber Anzeigeerstatterin und deshalb gemäss StPO grundsätzlich editionspflichtig.  Auf diese Editionspflicht hätte sich der Staatsanwalt also berufen können. Die Universität hätte im Gegenzug aber verlangen können, dass der Staatsanwalt sein Begehren in eine Verfügung kleidet.

Der Verzicht auf eine solche Verfügung ist ein Fehler, der für die Universität noch Konsequenzen haben könnte. Hätte die Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Daten nämlich verfügen müssen, hätte sie genau umschreiben müssen, welche Daten sie will. Eine Rasterfahndung (alle Mails mit Adressat Tages-Anzeiger) kann ein Staatsanwalt nicht edieren lassen.

Die Universität kam mit der freiwilligen Herausgabe der Daten zwar ihrer Editionspflicht nach, hat aber möglicherweise arbeitsrechtliche (Fürsorgepflicht) und datenschutzrechtliche (Verhältnismässigkeit) Pflichten verletzt.

Ob dies der Fall ist, wird wohl im Strafverfahren geklärt werden, das gegen Iris Ritzmann wegen Amtsgeheimnisverletzung läuft. Die ehemalige Angestellte des medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich wird wohl den Antrag stellen, dass die herausverlangten Daten als Beweise nicht zulässig sind, weil diese unrechtmässig (Verstoss gegen Arbeitsrecht, Datenschutz) erlangt wurden.

Dann muss das Gericht klären, wie hier korrekt hätte vorgegangen werden müssen. Diese rechtlichen Erwägungen werden wichtig sein für alle Arbeitgeber, die von Staatsanwaltschaften um Datenherausgabe angegangen werden.

Krawall am Central: Revision gegen alle Strafbefehle?

Sechs Jugendliche hatten sich dagegen gewehrt, dass die Staatsanwälte sie wegen Landfriedensbruchs zu hohen Strafen verurteilt hatten. Alle wurden von den Gerichten freigesprochen: Das blosse Gaffen beim Krawall am Central vor einem Jahr sei nicht strafbar. 27 andere Jugendliche hatten genau dasselbe gemacht, aber ihren Strafbefehl nicht angefochten. Sie könnten jetzt Revision verlangen.

Am 18. September 2011 wurden am Zürcher Central 91 Jugendliche von einer übereifrigen Zürcher Polizei verhaftet. 33 davon wurden von der Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruchs mit Strafbefehlen zu bedingten Geldstrafen von bis zu 180 Tagessätzen (der maximalen Kompetenz der Staatsanwälte) veruteilt. Die meisten hatten aber bloss aus mehr als 100 Metern Entfernung über die Limmat hinweg zugeschaut, wie ein paar Krawallanten das Tramhäuschen vor dem Hauptbahnhof beschädigten.

Bloss sechs haben den Strafbefehl mit Einsprache weitergezogen – und prompt wurden alle von den Gerichten freigesprochen. Blosses Gaffen sei kein Landfriedensbruch, befanden verschiedene Einzelrichter am Zürcher Bezirksgericht und das Obergericht. Am Schluss zog die Staatsanwaltschaft selbst die Rechtsmittel zurück, die sie gegen die Freisprüche des Bezirksgerichts eingelegt hatten.

Die 27 Jugendlichen, die ihre Strafbefehle akzeptiert hatten, hatten das Nachsehen. Doch genau ihnen hilft Art. 410 der eidgenössischen Strafprozessordnung:

Art. 410 Zulässigkeit und Revisionsgründe

1 Wer durch ein rechtskräftiges Urteil, einen Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder einen Entscheid im selbstständigen Massnahmenverfahren beschwert ist, kann die Revision verlangen, wenn:

b. der Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht;

Rechtskräftig verurteilte Jugendliche, die ebenfalls bloss gegafft haben, aber jetzt mit einem Strafregistereintrag durchs Leben gehen müssen, könnten also Revision verlangen, weil ihre Verurteilung in „unverträglichem Widerspruch“ zu den Freisprüchen stehen.

Schön und gut, doch wo kein Kläger da kein Recht. Wer genau sagt den 27 Jugendlichen, dass sie Revision verlangen können? Wer hilft ihnen die Gesuche zu stellen?

Liebe Zürcher Strafverteidiger werdet aktiv!

Sieg für Transparenz bei Zürcher Strafbefehlen

Der Zugang zu Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen wird im Kanton Zürich schneller und billiger. Die Zürcher Staatsanwälte verzichten in Zukunft darauf, die Stellungnahmen der Betroffenen einzuholen. Ein Sieg für Justizblog und das Recherchenetzwerk investigativ.ch

Kleine Rückblende: Ab 2011 luden die Zürcher Staatsanwälte die Betroffenen zur Stellungnahme ein, wenn Medien ein Gesuch um Einsicht in einen Strafbefehl oder eine Einstellungsverfügung stellten. Die Betroffenen waren danach berechtigt, gegen den Einsichtsentscheid des Staatsanwaltes Beschwerde zu führen – bis ans Bundesgericht. Deshalb dauerte die Einsicht in die Einstellungsverfügung im Fall Nef mehr als zwei Jahre. Und deshalb musste ein Journalist des Tages-Anzeigers Kosten von 4000 Franken übernehmen, weil sein Gesuch abgelehnt wurde.

Justizblog und investigativ.ch hatten diese Praxis von Anfang an als verfassungswidrig kritisiert, weil es die Justizöffentlichkeit wie sie in Art. 30 Abs. 3 BV vorgesehen ist, faktisch aushebelt: Kaum ein Journalist stellte bei so langwierigen Verfahren mit so hohem Kostenrisiko noch ein Einsichtsgesuch.

Damit ist nun Schluss: Nach Gesprächen von Justizblog und investigativ.ch mit dem Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich erstellte dieser einen Leitfaden Zugang zu Personendaten Dritter, der die Rechtsauffassung der Medien untermauerte. Gemäss Zürcher Informations- und Datenschutzgesetz (§ 17 Abs. 1 Bst. a IDG) ist der Zugang zu sensiblen Personendaten auch ohne Stellungnahme der Betroffenen möglich, wenn dies ein Gesetz vorsieht. Art. 30 Abs. 3 BV ist ein solches Gesetz.

Wegen dieses Grundlagenpapieres hat nun die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ihre Praxis geändert: „Es ist richtig, dass der Leitfaden „Zugang zu Personendaten Dritter“ des Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich die Praxis der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich betreffend Einsicht in Endverfügungen beeinflusst“, schreibt Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. „Demnach ist Art. 30 Abs. 3 BV als gesetzliche Grundlage im Sinne von § 17 Abs. 1 lit. a IDG zu qualifizieren, weshalb die Einsicht grundsätzlich zu gewähren ist und nicht von einer expliziten Einwilligung des Beschuldigten abhängt und auch auf eine Stellungnahme weiterer Drittpersonen verzichtet werden kann.“

Eckert betont danach die allgemeinen Voraussetzungen für die Einsicht: Der Gesuchsteller muss ein ernsthaftes Interesse an der Kenntnisnahme glaubhaft machen – dies ergibt sich gemäss Bundesgericht bei Medien von selbst aus ihrer Kontrollfunktion. Anderseits ist daneben auch immer eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei überwiegende öffentliche oder private Interessen dem allgemeinen Informationszugangsrecht Grenzen setzen können, was in jedem Einzelfall zu prüfen ist.

Diese Praxisänderung erleichtert den Medien nun den Zugang zu Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen, die mehr als 95% aller Urteile in der Strafjustiz ausmachen.

Ähnlich offen ist der Zugang in den Kantonen Luzern und Basel-Stadt. In Bern hingegen werden die Betroffenen immer noch um Stellungnahme angefragt, obwohl das Berner Datenschutzgesetz eine analoge Bestimmung zum Zürcher IDG enthält. Wenn ein Gesetz die Einsicht in sensible Personendaten vorsieht, müssen Betroffene nicht zur Stellungnahme eingeladen werden.

Also Berner ändert auch ihr Eure Praxis! Dasselbe gilt übrigens für die Bundesanwaltschaft.

Strafbefehle: Praxisänderung der Bundesanwaltschaft

Die Bundesanwaltschaft erlaubt nun Kopien, wenn Journalisten vor Ort in Bern Strafbefehle einsehen. Ein Erfolg für investigativ.ch.

Viele Kantone legen Strafbefehle unmittelbar nach Erlass oder Rechtskraft zur Einsicht öffentlich auf. Nur der Kanton Sankt Gallen erlaubt es aber Journalisten, eine Kopie von einem Strafbefehl zu machen. In den meisten Kantonen kann man sich nur Notizen machen. So war auch die Praxis der Bundesanwaltschaft – bis vor Kurzem.

Sie widerspricht in mindestens einem Punkt der klaren Praxis des Bundesgerichts: In einem Entscheid vom 1. September 2006 (!!!) hat das höchste Schweizer Gericht klipp und klar festgehalten, dass Journalisten Anspruch auf eine Kopie haben (Entscheid 1P.298/2006).

Investigativ.ch wies die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft und die Bundesanwaltschaft auf dieses klare Präjudiz hin. Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser sieht keinen Handlungsbedarf: »Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.«

Ganz anders haben Bundesanwalt Michael Lauber und sein Rechtsdienst auf den Bundesgerichtsentscheid reagierte, auf den sie investigativ.ch hingewiesen hat:Sie haben umgehend die Praxis geändert und erlauben nun Kopien. Kostenlos.

Offen bleibt die Frage, ob die Bundesanwaltschaft in Zukunft auch Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) öffentlich auflegt. Der Rechtsdienst ist noch am Abklären. Zudem sind auch Abklärungen in Gang, ob Journalisten auch an den Zweigstellen in Zürich, Lausanne und Lugano Einsicht nehmen können. Fortsetzung folgt.

Verfassungswidrige Praxis der Strafbehörden

Einstellungsverfügungen von Strafbehörden müssen wie Urteile verkündet werden – sicher dann, wenn sie aufgrund einer Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) ergangen sind. Das hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid festgehalten, den der Beobachter publik gemacht hat (1B_70/2012, Erw.3.4).

Die Praxis sämtlicher Kantone,  solche Einstellungsverfügungen nicht öffentlich aufzulegen, widerspricht somit dem verfassungsmässigen Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

Die Kantone Sankt Gallen, Zürich und Bern, die über den Zugang der Medien zu Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB gar erst nach einem langwierigen Stellungnahmeverfahren bei den Betroffenen entscheiden, verhalten sich gar doppelt verfassungswidrig.

Offenbar macht dieser verfassungswidrige Zustand den Strafbehörden nichts aus. Sie empfehlen Journalisten, halt einen Pilotprozess zu führen. Doch: Was soll ein Pilotprozess, wenn das Bundesgericht die Rechtsfrage bereits entschieden hat?

Genau gleich verhalten sich die Strafbehörden der meisten Kantone (Ausnahme Sankt Gallen) bei der Frage, ob Journalisten von Einstellungsverfügungen oder Strafbefehlen eine Kopie anfertigen dürfen. Die Strafbehörden verbieten das den Medien entgegen einem klaren Präjudiz des Bundesgerichts (Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006).

So teilte der Zürcher Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser Justizblog lapidar mit: „Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.“

Nachtrag August 2012: Auf Druck des Recherchenetzwerks investigativ.ch haben einige Strafverfolgungsbehörden ihre Praxis zur Auflage von Einstellungsverfügungen und zur Abgabe einer Kopie geändert.

Zürcher Staatsanwaltschaft: Blamage wird noch grösser

Das Zürcher Obergericht hat heute einen weiteren Jugendlichen freigesprochen, den die Zürcher Polizei im September 2011 verhaftetete und die Staatsanwaltschaft nach langer U-Haft wegen Landfriedensbruch mit hohen Strafen verurteilen wollte.

Das Zürcher Obergericht hat einen (reduzierten) Schuldspruch des Bezirksgerichts in einen Freispruch umgewandelt. Wer bei einem Krawall bloss zusieht, begeht keinen Landfriedensbruch, urteilen nun auch die Oberrichter. Die Betroffenen erhalten Genugtuungen von mehreren tausend Franken wegen ungerechtfertigter Haft.

Damit zeichnet sich eine totale Blamage von Zürcher Polizei und Staatsanwaltschaft ab: Die Rechtsauffassung von Polizei und Staatsanwaltschaft, wonach auch blosse Zuschauer Landfriedensbruch begehen, erweist sich als völlig unhaltbar. Bereits das Bezirksgericht hatte vier Jugendliche freigesprochen, wovon einer vom Obergericht ebenfalls heute bestätigt wurde. Damit wurden fünf von sechs Jugendlichen freigesprochen, die Polizei und Staatsanwaltschaft mit hohen Strafen verurteilt sehen wollten.

Damit rüffeln die Gerichte die Strafverfolger durchs Band und vehement. Die Aktion vom letzten September, bei der 33 Jugendliche mit teilweise hohen Strafen belegt wurden, war völlig unverhältnismässig. Bloss 7 haben die Strafbefehle angefochten, 6 davon sind bereits freigesprochen.

Bei der Berichterstattung im unmittelbaren Nachgang fiel der Tages-Anzeiger durch eine undifferenzierte Berichterstattung und naive Kommentierung auf, welche die Argumentation von Polizei  und Staatsanwaltschaft unkritisch übernahm und ausdrücklich verteidigte.

Statt die Aktion von Polizei und Staatsanwaltschaft nun endlich kritisch zu würdigen, weil sie Straftatbestände überdehnte und unverhältnismässig war, stellt das Tages-Anzeiger online Portal die Jugendlichen auch jetzt noch tendenziell als Täter dar. So schreibt die Zeitung im Lead zum jüngsten Freispruch: „Die Geständnisse der Männer reichten aber nicht aus, um sie zu verurteilen.“

Gestanden haben die jungen Männer nur, um aus der U-Haft freizukommen. Das nennt man eigentlich Beugehaft.

Sieg für die Transparenz in St. Gallen

Im Kanton St. Gallen müssen Strafbefehle an Medien herausgegeben, wenn nicht ein überwiegendes privates Interesse dagegensteht. Ein Sieg für die Medienfreiheit – erkämpft vom Beobachter.

Der erste Staatsanwalt des Kantons St. Gallen, Thomas Hansjakob, hatte Anfang Jahr einen Bürger den Beobachter und Justizblog mit knappen Sätzen abgewimmelt: Nein, den Strafbefehl gegen zwei Jugendliche, die mit Tempo 260 auf der Autobahn und 160 innerorts vor der Polizei geflohen sind, dürfe man nicht einsehen, denn darauf bestehe kein Anspruch.

Dagegen wehrte sich der Beobachter – mit Erfolg: Die Anklagekammer des Kantons St. Gallen hat Ende Juni 2011 festgehalten, dass in Strafbefehle grundsätzlich «Einsicht zu gewähren ist, sofern keine überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen». Im konkreten Fall haben die Richter diese Interessenabwägung gleich selbst gemacht: Weil der Beobachter nur einen anoymisierten Entscheid verlange, gebe es gar kein Interesse, den Strafbefehl geheim zu halten. Fazit: «Die Staatsanwaltschaft hat den Strafbescheid in anonymisierter Form auszuhändigen.»

Damit ist auch klar, dass die Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Einsicht und der Geheimhaltung in Zukunft vom Staatsanwalt allein gemacht werden muss – ohne dass der Beschuldigte zur Stellungnahme eingeladen wird.
Das ist erfreulich. Der Entscheid ist rechtskräftig.

Damit kann man unterdessen im Kanton St. Gallen wie in Luzern und Basel Strafbefehle innert nützlicher Frist und ohne Kosten einsehen. In den Kantonen Zürich, Zug und Bern hingegen wird weiterhin ein langwieriges kostspieliges Verfahren durchgeführt, das Justizkontrolle verunmöglicht.