Medienfreiheit: Bundesgericht muss grundsätzlich über die Bücher

Beim Strassburger Entscheid geht es um mehr als nur die versteckte Kamera

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 24. Februar 2015 vier Medienschaffenden recht gegeben: Die Kassensturz-Journalisten durften eine versteckte Kamera einsetzen, um die irreführenden Beratungspraktiken in der Versicherungsbranche aufzudecken. Die Bussen, welche die Schweizer Justiz ausgesprochen hatte, sind EMRK-widrig. Damit erwacht die versteckte Kamera als Recherchemethode aus der Schockstarre, in die sie ein weltfremdes Urteil des Bundesgerichts 2008 versetzt hat. Doch der Entscheid der Strassburger Richter hat Bedeutung weit darüber hinaus.

Medienschaffende, die Recherchen ernst nehmen, stehen regelmässig vor der gleichen Frage: Darf ich Recht brechen, um damit eine Information von öffentlichem Interesse  zu recherchieren und an die Öffentlichkeit zu bringen?

_Diese Frage stellt sich, wenn Medienschaffende mit versteckter Kamera oder Tonband Gespräche aufzeichnen wollen, um einen Missstand glaubwürdig dokumentieren zu können. In der Schweiz ist es strafbar, fremde Gespräche abzuhören oder auf einen Tonträger (Art.179bis StGB) oder Bildträger (Art. 179quater StGB) aufzunehmen.

_Diese Frage stellt sich aber auch, wenn Medienschaffende ein vertrauliches amtliches Dokument in den Händen halten, das brisante Tatsachen belegt, die von öffentlichem Interesse sind. Art. 293 StGB verbietet die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen.

_Diese Frage stellt sich weiter, wenn sich zum Beispiel ein ausländischer Journalist inkognito von Schlepperbanden über die Schweizer Grenze schleusen lässt, um die Zustände hautnah beschreiben zu können. Das Ausländergesetz qualifiziert dies als illegalen Grenzübertritt.

In all diesen Fällen haben Medienschaffende vor einem Schweizer Gericht nur eine Chance, wenn ihnen der Rechtfertigungsgrund der „Wahrung berechtigter Interessen“ zugestanden wird. Und das Gericht steht immer vor der gleichen Frage: Sind das öffentliche Interesse an der Berichterstattung, aber auch die Medien-, Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit wichtiger als der Schutz der Geheimhaltungsinteressen (Privatsphäre, vertrauliche Dokumente, Untersuchungsgeheimnis, Geschäftsgeheimnis, Bankgeheimnis, Amtsgeheimnis etc.)?

Das Bundesgericht gibt in konstanter Praxis der Geheimhaltung mehr Bedeutung als dem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung und gewichtet die Kommunikationsgrundrechte wenig. Zudem wirft es den Medienschaffenden regelmässig vor, dass der Medienbericht nicht nötig oder nicht das mildeste Mittel gewesen sei, um das Informationsinteresse zu erreichen (Verhältnismässigkeit).

_Zitieren Journalisten aus vertraulichen Dokumenten werden sie fast immer bestraft (Art. 293 StGB). Bis heute macht das Bundesgericht nicht einmal zwingend eine Abwägung der Geheimhaltungsinteressen mit dem öffentlichen Interesse an einer Information und dem Gewicht der Medienfreiheit. So etwa im Fall eines Journalisten, der über einen Autounfall auf einer Lausanner Brücke berichtete und sich dabei auf Untersuchungsakten der Staatsanwaltschaft stützte. Das Bundesgericht hat eine Busse gegen ihn wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen bestätigt.

_Lässt sich ein ausländischer Journalist von Schleppern über die Schweizer Grenze schleusen, um die dortigen Missstände zu dokumentieren, wird er wegen illegalen Grenzübertritts bestraft. Das Bundesgericht hat das Informationsinteresse und die Medienfreiheit als zu leicht befunden.(BGE 127 IV 166ff

_Setzten Journalisten eine versteckte Kamera ein, um dubiose Beratungspraktiken zu belegen, wurden sie wegen illegalen Aufnahmen verurteilt. Das Informationsinteresse und die Kommunikationsgrundrechte waren dem Bundesgericht weniger wichtig als der Schutz der Privatsphäre.

Genau da – in dieser Grundsatzfrage – widerspricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Bundesgericht. Und das nicht zum ersten Mal. Strassburg verlangt mehr Gewicht für das Interesse an öffentlicher Information und vor allem für die Medien-, Meinungsaussserungs- und Informationsfreiheit. Kein Wunder, denn Strassburg prüft Menschenrechtsverletzungen, das Bundesgericht hingegen die korrekte Anwendung des Strafrechts. Und da hat das höchste Schweizer Gericht oft eine zu enge Optik, die von Strassburg in menschenrechtlicher Hinsicht korrigiert werden muss.

Bereits im Juli 2014 rüffelte Strassburg das Schweizer Bundesgericht, weil es eine Busse gegen einen Journalisten wegen Verletzung von Art. 293 StGB (Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen) abgesegnet hat. Der Journalist hatte gestützt auf geheime Verhörprotokolle über einen Autounfall auf einer Lausanner Brücke berichtet. Gemäss Strassburg verletzt dieser Bundesgerichtsentscheid die Medienfreiheit. Der Artikel des Journalisten sei von öffentlichem Interesse gewesen, habe weder die Gerichtsverhandlung beeinflusst noch die Unschuldsvermutung verletzt, urteilten die Richter des EGMR. Das Informationsinteresse und die grundsätzliche Bedeutung der Medienfreiheit schwangen obenauf.  Der Fall wurde allerdings von der Schweiz an die grosse Kammer des EGMR weitergezogen.

Genau auf der gleichen Linie liegt nun aber auch das Strassburger Urteil vom 24. Februar 2015 im Fall der versteckten Kamera des Kassensturzes: Der EGMR gewichtet wiederum das öffentliche Interesse höher – diesmal das öffentliche Interesse an einem Bericht über Missstände in der Versicherungsberatung. Und vor allem gibt Strassburg der Medienfreiheit mehr Gewicht und betont ein weiteres Mal die Watchdog-Funktion der Medien. Zudem misst Strassburg der Frage, ob der Bericht nötig oder das mildeste Mittel war, um das öffentliche Interesse an Information zu bedienen, eine geringere Bedeutung bei als das Bundesgericht. Strassburg genügt es, wenn der Medienbericht geeignet war, in einer wichtigen Debatte einen Beitrag zu leisten – unabhängig davon, ob er dieses Ziel auch ganz erreicht („Aux yeux de la Cour, seule importe la question de savoir si le reportage était susceptible de contribuer au débat d’intérêt général et non de savoir si le reportage a pleinement atteint cet objectif.“).

Hingegen legt der Europäische Menschrechtsgerichtshof ein grosses Gewicht auf die journalistischen Sorgfaltspflichten. Nur wenn ein Medienbericht berufsethisch einwandfrei hergestellt, Stellungnahmen eingeholt, die Wahrhaftigkeit angestrebt („veracité“), der Eingriff in die Privatsphäre möglichst klein gehalten wurde (Verpixelung, Stimmverzerrung), ist er für Strassburg des Schutzes würdig. Das wurde übrigens der Sonntagszeitung zum Verhängnis, die auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die nachrichtenlosen Vermögen und das Nazigold zwei Artikel publizierte, in denen einem Schweizer Botschafter gestützt auf ein von ihm verfasstes Strategiepapier vorgeworfen wurde, die Juden zu beleidigen. Die grosse Kammer des EGMR hat die Beschwerde gegen die Verurteilung des Journalisten unter anderem deshalb abgewiesen, weil der Artikel unnötig reisserisch aufgemacht war – und so journalistische Sorgfaltspflichten verletzt hatte. Auf diesem Weg macht Strassburg den Journalistenkodex des Schweizer Presserates zu mitentscheidendem Softlaw.

Weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Medienfreiheit regelmässig höher und die Verhältnismässigkeit des Eingriffs in die Privatsphäre oder andere Geheimhaltungsinteressen tiefer gewichtet, haben auch zwei weitere, pendente Fälle gute Chancen in Strassburg: Der Fall des Journalisten der NZZ am Sonntag, der gebüsst wurde, weil er mit Zitaten aus geheimen Kommissionsprotokollen illustrierte, wie Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf über den damaligen Bundesanwalt Erwin Beyeler dachte (Urteil 6B_186/2012). Und der Fall der BAZ-Journalistin, die gebüsst wurde, weil sie gestützt auf den Quellenschutz den Namen eines Hanfhändlers nicht bekannt geben wollte, den sie porträtiert hatte.

In beiden Fällen geht es auch um die Abwägung von Informationsinteresse, Medienfreiheit auf der einen Seite und Geheimhaltungs- oder Strafverfolgungsinteresse auf der andern Seite. Und deshalb ist es absehbar, dass sich auch in diesen beiden Fällen die Unterschiede der beiden Gerichte in der Gewichtung von Informationsinteresse, Medienfreiheit und Verhältnismässigkeitsprinzip auswirken werden.

Das Bundesgericht täte also gut daran, seine Haltung zum Verhältnis von Geheimhaltungsinteressen auf der einen Seite sowie Informationsinteressen und grundsätzliche Bedeutung der Medienfreiheit auf der andern Seite zu überdenken. Was ist wichtiger: Geheimhaltung oder Transparenz und vierte Gewalt? Da sind wir heute definitiv in einer andern Zeit angekommen.

Der Gesetzgeber täte gut daran, den Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter Interessen ins Strafgesetzbuch zu schreiben. Denn das Bundesgericht hat nur schon deshalb Hemmungen ihn anzuwenden, weil es ihn selbst erfunden hat und er nirgends in einem Gesetz steht.

Quellenschutz in 11 Lektionen

2014 war das Jahr des Quellenschutzes: Die Gerichte stärkten ihn in fünf wichtigen Urteilen, das Parlament stoppte eine medienfeindliche Whistleblower-Vorlage und unlautere Praktiken gegen recherchierende Journalisten erreichten eine neue Dimension. Grund genug für einen Crashkurs in Quellenschutz.

Lektion 1: Quellenschutz im Detail abklären

Journalisten dürfen in den meisten Fällen das Zeugnis verweigern, so zum Beispiel in Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung. Sie dürfen sich auch gegen die Beschlagnahme von Dokumenten und Daten und eine Redaktions- oder Hausdurchsuchung wehren (so genanntes Zeugnis- und Editionsverweigerungsrecht, vgl. Art. 28a StGB; Art. 172 und 248 StPO). Dieses Verweigerungsrecht gilt aber nicht in allen Fällen. Das Gesetz definiert Ausnahmen vom Quellenschutz. So können Medienschaffende Informanten nicht schützen, wenn es um einen von 25 Tatbeständen geht, die im Gesetz ausdrücklich genannt werden: Neben Mord und vorsätzlicher Tötung gilt das zum Beispiel auch bei Kinderpornographie (Art. 197 Ziff.3 StGB) oder schweren Fällen von Drogendelikten (Art. 19 Abs. 2 BetMG). Dieser Ausnahmekatalog birgt Überraschungen. So fällt auf, dass ausgerechnet  Korruptionsdelikte wie Bestechung oder Vorteilsannahme vom Quellenschutz ausgenommen sind (Art. 322ter bis Art. 322septies StGB). Eine wenig durchdachte Regelung. Aber gerade deshalb sollten Journalisten den Ausnahmekatalog studieren. Damit er einfacher zu erfassen ist, ist hier eine Liste abrufbar (Deliktskatalog_Quellenschutz_kurz_15_01_16).

Dass der Quellenschutz löchrig ist, musste 2014 eine Journalistin der Basler Zeitung (BAZ) erfahren. Sie hatte einen Hanfhändler porträtiert und dabei erwähnt, dass er mit seinem Cannabisgeschäft 12‘000 Franken Jahresgewinn macht. Das hätte sie besser bleiben lassen. Ab einem Jahresgewinn von 10’000 Franken gilt gemäss Gerichtspraxis auch der Handel mit Hanfprodukten als «schwerer Fall» im Sinn von Art. 19 Abs. 2 BetMG. Das Bundesgericht hat den Quellenschutz also verneint und – erstaunlicherweise – das Strafverfolgungsinteresse höher gewichtet als die Medienfreiheit (vgl. Urteil 1B_293/2013 des Bundesgerichts vom 31. Januar 2014; Erläuterungen dazu von Denise Schmohl in medialex 3/2014, S. 70ff). Das öffentliche Interesse am BAZ-Text ist gemäss Bundesgericht nicht gross, da die Journalistin dem Hanfhändler eine Plattform eingeräumt und den Drogenhandel verharmlosend als „quasi normales Gewerbe unter Kollegen“ dargestellt habe. Konsequenz: Die Journalistin muss den Namen nennen, oder sie wird gebüsst. Da sie jedoch den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) weitergezogen hat, verzichtet die Staatsanwaltschaft bis auf weiteres auf eine Busse. Bis der EGMR entscheidet, dauert es im Durchschnitt sechs Jahre. Übrigens: Die Journalistin hätte sich den Ärger ohne grosse Abstriche am Text sparen können, wenn sie keine Zahl oder dann 9999 Franken Jahresgewinn genannt hätte (mit einem Smiley für den Staatsanwalt).

Lektion 2: Die Quelle von Anfang an schützen

Quellenschutz beginnt nicht erst, wenn der Journalist vor dem Staatsanwalt antraben muss und dem Amtsträger tapfer sagt: „Ich beanspruche mein Zeugnisverweigerungsrecht“. Dann ist es oft zu spät. Quellenschutz beginnt bereits beim ersten Kontakt mit dem Informanten. Dabei sind die untenstehenden Punkte 3 bis 10 zu beachten und mit dem Informanten ausführlich zu besprechen.

Im Frühling 2014 hat ein Sonntagsblick-Journalist in einem Strafverfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung, das Nationalrat Christoph Mörgeli gegen Amtskollegin Kathy Riklin eingeleitet hatte, freiwillig auf seinen Quellenschutz verzichtet und gegenüber den Untersuchungsbehörden eine Aussage gemacht. Das Vorgehen stiess auf Kritik: Ein Journalist habe den Quellenschutz in jedem Fall zu beanspruchen, sonst verliere er seine Glaubwürdigkeit – lautete die einhellige Reaktion in Sozialen Medien, von Presserat und Sonntagsblick-Chefredaktorin Christine Maier. (vgl. Bericht im Tages-Anzeiger vom 30. Juni 2014).

Lektion 3: Reinen Wein einschenken und frei entscheiden lassen

Die Journalistin sollte mit dem Informanten besprechen, welche Konsequenzen Whistleblowing für ihn hat. Gemäss aktueller Rechtsprechung verletzt zum Beispiel ein öffentlich-rechtlich Angestellter das Amtsgeheimnis, wenn er Missstände nicht zuerst dem Vorgesetzten oder einer internen Meldestelle und danach einer externen Behörde (Staatsanwalt, Ombudsstelle) meldet, bevor er sich an die Medien wendet. Der Schutz vor Kündigung ist im öffentlichen Recht teilweise gut (vgl. etwa Art. 22a des Bundespersonalgesetzes), teilweise schlecht ausgebaut – im Privatrecht inexistent (die Kündigung ist in jedem Fall gültig; wegen missbräuchlicher Kündigung kann höchstens eine Entschädigung von 3-4 Monatslöhnen erstritten werden). Die aktuelle Gesetzesvorlage des Bundesrates will den Schutz von Whistleblowern im Privatrecht sogar noch verschlechtern und den Gang an die Medien ganz verbieten (vgl. dazu Justizblog: „Die Angst des Parlaments vor sich selbst“). Informanten sollten ihren Entscheid, an die Öffentlichkeit zu gehen, im vollen Bewusstsein der allfälligen Konsequenzen fällen. Eine solche Aufklärung schützt den Journalisten auch vor einem möglichen Vorwurf der Anstiftung zu Delikten wie Amts- oder Bankgeheimnisverletzung.

Lektion 4: Die Nadel im Heuhaufen verstecken

Der Journalist muss am Anfang seiner Arbeit mit der Informantin abklären, ob die Quelle überhaupt geschützt werden kann. Hat zum Beispiel die Informantin einen Missstand bereits als einzige an den Chef gemeldet, ist dem Chef sofort klar, wer an die Medien gelangt ist, wenn genau dieser Missstand öffentlich wird. Manchmal kann der Journalist mit gezielten Massnahmen die Nadel im Heuhaufen verstecken: Er nimmt mit möglichst vielen Personen innerhalb der Firma, des Amtes Kontakt auf, aus der die Informantin stammt, um so den Verdacht auf mehrere Personen zu verteilen. Verfügen die Informanten (oder das Medium) über finanzielle Mittel, lohnt es sich, einen Anwalt vorzuschalten. Der Anwalt tritt dann stellvertretend für die Informanten an die Öffentlichkeit. Er kann die Quelle zusätzlich durch das Anwaltsgeheimnis schützen.

 So hat etwa der Zürcher Rechtsanwalt Ueli Vogel-Etienne Missstände im Migrationsamt des Kantons Zürich publik gemacht, die zur Entlassung des Verantwortlichen geführt haben (vgl. den externen Untersuchungsbericht). Die Whistleblower konnten anonym bleiben.

Lektion 5: Mit den Informanten das Verhalten besprechen

Sinnvoll sind Instruktionen, was die Informantin machen soll, damit sie keinen (zusätzlichen) Verdacht auf sich zieht (vgl. die Verhaltenstipps für Whistleblower des Beobachters auf https://sichermelden.ch/). Whistleblower outen sich nämlich durch unvorsichtiges Vorgehen meist selbst. Gibt es zum Beispiel interne Sicherungsmassnahmen beim Zugang zu Dokumenten oder Dateien auf internen Computern? Oder wird das Layout von Dokumenten leicht geändert, um den Zeitraum des Downloads nachträglich bestimmen zu können?

Lektion 6: Informanten auf Strafverfolger vorbereiten (Versiegelung)

Der Journalist sollte den Informanten instruieren, dass dieser bei einer Hausdurchsuchung oder der Beschlagnahme von Dateien, Computern, Dokumenten sofort die Versiegelung verlangt (Art. 248 Abs. 1 StPO). Journalistische Dokumente oder Kontakte fallen nämlich gemäss Bundesgericht unter Quellenschutz – egal, wo sie sich befinden (vgl. Urteile 1B_424/2013, 1B_436/2013) – vorausgesetzt natürlich, dass überhaupt Quellenschutz besteht (vgl. Lektion 1).

Diese Entscheide hat Christoph Blocher erstritten. Gegen ihn ermittelt die Zürcher Staatsanwaltschaft wegen Gehilfenschaft und Anstiftung zur Bankgeheimnisverletzung im Fall Hildebrand. Sie durchsuchte im März 2012 sein Haus, beschlagnahmte Dokumente und Datenträger. Blocher verlangte sofort die Versiegelung und wehrte sich erfolgreich bis vor Bundesgericht gegen die Entsiegelung: Die Strafverfolger dürfen keine journalistischen Dokumente der «Weltwoche» verwenden – weder in Papier- noch in Datenform, urteilten die Richter (Urteile vom 22. Juli 2014 1B_424/2013, 1B_436/2013.).

Lektion 7: Informanten vor unlauteren Aktionen warnen

Informanten und Journalisten müssen sich bewusst sein, dass sie allenfalls von der kritisierten Person mit unlauteren Mitteln angegangen werden – zum Beispiel durch Privatdetektive, die sich als Journalisten ausgeben. Auch diese Erkenntnis wuchs im Jahre 2014 durch zwei Aufsehen erregende Fälle.

So wurden etwa Ärzte, die Missstände im Herz-Zentrum Bodensee öffentlich gemacht hatten, von einem angeblichen Journalisten eines deutschen Fernsehsenders interviewt. Auf seiner Visitenkarte stand „Medienrecherche für Filmdokumentation“. Der Interviewer war aber nicht Journalist, sondern Privatdetektiv, der für die kritisierte Klinikleitung Informationen beschaffte (vgl Beobachter vom 21. Februar 2014 „Schnüffler gegen Ärzte“). In einem anderen Fall fand der damalige RTS-Journalist Yves Steiner auf seinem Computer eine von aussen installierte Software, die ihn ausspionieren sollte. Damals recherchierte er im Fall des Walliser Weinhändlers Dominique Giroud wegen des Verdachts auf Weinpanscherei und Steuerhinterziehung. Giroud soll mit Hilfe eines Privatdetektivs, einem Agenten des Nachrichtendienstes des Bundes und einem Hacker einen Trojaner auf den Computern des RTS-Journalisten und der Walliser-Korrespondentin von Le Temps eingeschleust haben. In dieser Sache laufen verschiedene Verfahren (vgl. Tages-Anzeiger vom 26. Juni 2014 „Girouds Anwälte gehen aufs Westschweizer Fernsehen los“). Unter anderem fordert Giroud von der SRG eine Entschädigung von 30 Millionen Franken. Die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) hat Mitte Oktober 2014 eine Beschwerde Girouds mit fünf zu vier Stimmen knapp abgewiesen.

Lektion 8: Wenn immer möglich analog kommunizieren

Die Journalistin sollte mit dem Informanten die Form der Kommunikation definieren. Analoge Kommunikation bietet den besten Quellenschutz: Direkte Treffen und Gespräche, physische Übergabe von Dokumenten. Digitale Kommunikation, also telefonieren mit Festnetz oder Mobile sowie verschicken von E-Mails, ist unsicher und kann nachträglich via Vorratsdatenspeicherung vom Staatsanwalt nachvollzogen werden.

Daran hat selbst Christoph Blocher nicht gedacht, als er sich – erfolglos – gegen die nachträgliche Telefonüberwachung wehrte (Bundesgerichtsentscheid vom 22. Juli 2014, Urteil 1B420/2013). Er hat nicht gerügt, dass durch die Auswertung seiner Kommunikationsdaten der Quellenschutz verletzt worden sei. Darum hat das Bundesgericht diese Frage gar nicht behandelt.

 Immerhin darf ein Staatsanwalt E-Mails nicht direkt beim Arbeitgeber herausverlangen mit dem Argument, der Chef habe ja Anzeige erstattet und müsse jetzt im Verfahren auch gebührend mitwirken. Die Strafverfolger müssen diese Daten beim Dienst ÜPF anfordern und brauchen dafür eine Bewilligung des Zwangsmassnahmegerichts. Dies hat das Bezirksgericht Zürich im Fall Iris Ritzmann festgestellt (vgl. Urteil vom 2. Dezember 2014).

Die Universität Zürich hatte im Rahmen eines Strafverfahrens, das sie selbst durch eine Anzeige ausgelöst hatte, freiwillig und ohne Zwang E-Mails an Medienschaffende von Ritzmann und anderen Mitarbeitern der Universität übergeben. Die Staatsanwaltschaft kann diese nicht als Beweise verwerten, weil sie nicht auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg beschafft wurden. Sie hätte die E-Mails via nachträgliche Telefonüberwachung beim Dienst ÜPF herausverlangen müssen.

Lektion 9: Elektronische Kommunikation unzugänglich machen

Falls eine Medienschaffende auf Telefon und E-Mail nicht verzichten will, sollte sie mit der Informantin vereinbaren, dass sie nur von (einer der wenigen verbliebenen) öffentlichen Telefonkabinen aus oder mit verschlüsselten Mails (Pretty Good Privacy PGP; vgl. Anleitung der Privacy Foundation) via Tor-Netzwerk kommuniziert. Für den Upload von Dateien gibt es sichere Software (vgl. etwa beim Beobachter www.sichermelden.ch); mit etwas Geduld lässt sich ein vergleichbar sicherer elektronischer Briefkasten auch privat installieren (vgl. etwa secure drop der Freedom of Press Foundation). Eine gute Zusammenstellung von Tipps und Tools für Whistleblowers findet sich auf der Website des Global Investigative Journalism Network. Medienschaffende sollten von ihren Chefs und Verlegern unbedingt fordern, dass es in der Redaktion mindestens einen Computer gibt, der mit der nötigen Software ausgerüstet ist.

Lektion 10: Vorsorgliches Gesuch an den Dienst für Überwachung stellen

Falls die Journalistin mit dem Informanten ungesichert mobil oder per Festnetz telefoniert hat, sollten sie dem Dienst für Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Dienst ÜPF) des Bundes umgehend mitteilen, dass diese Kommunikation unter Quellenschutz fällt und bei einem allfälligen Gesuch einer Strafverfolgungsbehörde auszusondern ist. Der Dienst ÜPF muss den Namen des Journalisten, des Informanten und die Intervention selbst geheim halten. Stellt später in einem allfälligen Strafverfahren ein Staatsanwalt ein Gesuch auf nachträgliche Telefonüberwachung, kann man diese Daten nicht mehr entfernen, ohne die Quelle zu verraten.

Nachtrag vom 5. April 2016: Diese Lösung ist schwer praktikabel, da man das Gesuch an die Polizei der 26 Kantone und die Fernmeldedienstanbieter stellen müsste. Nach Auskunft von Niels Güggi vom Dienst ÜPF werden die Randdaten bei der rückwirkenden Telefonüberwachung direkt vom Fernmeldedienstanbieter an die Polizei geschickt, ohne dass der Dienst ÜPF oder ein Zwangsmassnahmegericht eine Triage vornehmen könnten. So hebelt die Vorratsdatenspeicherung den Quellenschutz definitiv aus, denn der Beschuldigte erfährt davon erst am Ende des Vorverfahrens, der Journalist mitunter gar nie.

Lektion 11: An den eigenen Schutz denken

Nicht nur gegen Informanten, sondern auch gegen Journalisten können Strafverfahren eingeleitet werden. Das musste der Le Matin-Journalist Ludovic Rocchi erleben, der zu einem Neuenburger Universitätsprofessor wegen Plagiatsvorwürfen recherchierte und publizierte. Der Betroffene reichte gegen Rocchi eine Strafanzeige wegen Ehrverletzung ein. In diesem Verfahren führte der Staatsanwalt eine Hausdurchsuchung bei Rocchi durch und beschlagnahmte Datenträger. Dies geschah widerrechtlich, wie das Zwangsmassnahmegericht Val de Ruz (NE) in einem unterdessen rechtskräftigen Entscheid am 22. Mai 2014 feststellte (vgl. dazu auch den Artikel in Le Matin „Affaire Rocchi: Une Victoire pour la presse“. Der Quellenschutz schützt journalistische Dokumente auch in einem Strafverfahren gegen den Medienschaffenden selbst.

Die Daten dürfen nicht verwertet werden, aber trotzdem hatte der Staatsanwalt in den Stunden, bevor Rocchi die Versiegelung verlangte, wichtige Informationen einsehen können. Entscheidend ist also, dass der Journalist sofort die Versiegelung verlangt (Art. 248 Abs. 1 StPO), wenn die Polizisten mit Hausdurchsuchungsbefehl vor dem Haus stehen.

Literatur:

_Schmohl, Denise, Der Schutz des Redaktionsgeheimnisses in der Schweiz, Diss. Universität Zürich, Schulthess 2013
_Schmohl, Denise, Die Gewährleistung des Informanten- und Quellenschutz im Strafverfahren, Medialex 3/2014 vom 29. 8. 2014
_Zeller, Franz, Kommentar zu Art. 28a StGB in: Niggli, Marcel Alexander / Wiprächtiger, Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht, 3. Auflage, Basel 2013, 539 – 620
_Zeller, Franz, Kommentar zu Art. 172 StPO (Quellenschutz der Medienschaffenden), in: Niggli, Marcel Alexander / Heer, Marianne / Wiprächtiger, Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Auflage, Basel 2014, 1323 – 1358

Uni Zürich: Mails her oder ich verfüge

Die Rechtslage bei der Herausgabe von Mail- und anderen Kommunikationsdaten an die Strafverfolgungsbehörden ist komplex. Ein klärendes Urteil tut Not.

Die Universität Zürich hat Mail-Daten von Mitarbeitenden an die Zürcher Staatsanwaltschaft herausgegeben, damit sie in einem Strafverfahren wegen Amtsgeheimnis mögliche Täter eruieren kann. Offenbar übermittelte die Universität Zürich die Daten freiwillig an die Strafverfolger. Die Limmattaler Zeitung veröffentlichte dazu am 6. November Details:

«Die Anordnung einer rückwirkenden Teilnehmeridentifikation ist der Staatsanwaltschaft nicht möglich», schreibt Staatsanwalt Gnehm in einem Brief datiert vom 4. Oktober 2012 an den Rechtsdienst der Universität. Grund sei, dass Amtsgeheimnisverletzung keine «Katalogtat», also kein schweres Verbrechen sei. Im Wissen um die Tatsache, dass er die Herausgabe dieser Daten nicht anordnen kann, war Gnehm offenbar auf die Mithilfe der Universität angewiesen.

Man reibt sich die Augen? Keine „Katalogtat“? Wo soll es denn da einen Katalog geben? Vielleicht meinte der Staatsanwalt den Katalog der Straftaten, bei denen eine Überwachung angeordnet werden kann (Art. 269 StPO). Da ist die Amtsgeheimnisverletzung (Art. 320 StGB) tatsächlich nicht aufgeführt.

Doch handelt es sich in diesem Fall nicht um eine Überwachung nach Art. 269 StPO, sondern um eine Herausgabe von Daten nach Art. 273 StPO. Die Herausgabe ist bei allen Verbrechen und Vergehen möglich, also auch bei Amtsgeheimnisverletzung, aber sie braucht eine richterliche Genehmigung. Hat der Staatsanwalt also ohne richterliche Genehmigung Daten herausverlangt?

Nach Meinung der Grosszahl der Rechtsexperten nicht: Denn ein betriebsinterner Provider wie jener der Universität Zürich, auf dem die Daten lagen, unterstehe nicht dem Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs BÜPF, da gemäss Art. 1 Abs. 2 BÜPF nur staatliche, konzessionierte oder meldepflichtige Anbieter (z.B. Swisscom) und Internetanbieter darunter fallen.

Deshalb greift auch Art. 273 StPO nicht, denn gemäss herrschender Lehre ist diese Bestimmung nur bei Providern anwendbar, die unter das BÜPF fallen.

Die Universität Zürich ist aber Anzeigeerstatterin und deshalb gemäss StPO grundsätzlich editionspflichtig.  Auf diese Editionspflicht hätte sich der Staatsanwalt also berufen können. Die Universität hätte im Gegenzug aber verlangen können, dass der Staatsanwalt sein Begehren in eine Verfügung kleidet.

Der Verzicht auf eine solche Verfügung ist ein Fehler, der für die Universität noch Konsequenzen haben könnte. Hätte die Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Daten nämlich verfügen müssen, hätte sie genau umschreiben müssen, welche Daten sie will. Eine Rasterfahndung (alle Mails mit Adressat Tages-Anzeiger) kann ein Staatsanwalt nicht edieren lassen.

Die Universität kam mit der freiwilligen Herausgabe der Daten zwar ihrer Editionspflicht nach, hat aber möglicherweise arbeitsrechtliche (Fürsorgepflicht) und datenschutzrechtliche (Verhältnismässigkeit) Pflichten verletzt.

Ob dies der Fall ist, wird wohl im Strafverfahren geklärt werden, das gegen Iris Ritzmann wegen Amtsgeheimnisverletzung läuft. Die ehemalige Angestellte des medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich wird wohl den Antrag stellen, dass die herausverlangten Daten als Beweise nicht zulässig sind, weil diese unrechtmässig (Verstoss gegen Arbeitsrecht, Datenschutz) erlangt wurden.

Dann muss das Gericht klären, wie hier korrekt hätte vorgegangen werden müssen. Diese rechtlichen Erwägungen werden wichtig sein für alle Arbeitgeber, die von Staatsanwaltschaften um Datenherausgabe angegangen werden.

Jugendliche härter bestraft als Erwachsene

Ab 1. Oktober 2013 werden Erwachsene, die nicht mehr als 10 Gramm Cannabis bei sich tragen, nur noch mit einer Ordnungsbusse in der Höhe von 100 Franken bestraft. Es gibt weder eine Verzeigung noch ein ordentliches Strafverfahren. Mit dieser Änderung des Betäubungsmittelgesetzes sollen Polizei und Justiz entlastet und Kosten gespart werden.

Damit behandelt die Schweiz in Zukunft geringfügigen Cannabiskonsum ähnlich wie eine Verkehrsbusse und macht einen Schritt in Richtung Legalisierung. Aber nur für Erwachsene. Jugendliche unter 18 Jahren werden bei Cannabiskonsum weiterhin in einem ordentlichen Verfahren nach  Jugendstrafprozessordnung beurteilt. (Die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit wollte das  Ordnungsbussenverfahren bereits ab 16 Jahren zulassen; erst in der nationalrätlichen Beratung wurde das Alter auf 18 Jahre erhöht.)

Dass Jugendliche schärfer bestraft werden als Erwachsene ist ungewöhnlich. Das Jugendstrafrecht führt in der Regel zu milderen Strafen. „Die unterschiedliche Behandlung halte ich für völlig uneinsichtig und auch inkonsistent“, meint denn auch der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli.

Anders sieht es sein Zürcher Kollege und SP-Nationalrat Daniel Jositsch: „Etwas Systemwidriges sehe ich da nicht“, sagt er. Man könne bezüglich Stafbarkeit von Drogenkonsum geteilter Meinung sein. „Der Gesetzgeber hat bei den Jugendlichen einen höheren Schutz gewollt.“

Höhere Strafe als höherer Schutz? Das werden Jugendliche anders sehen. Sicher ist, dass Cannabis weiterhin anders behandelt wird als Alkohol. Bei Alkohol sieht das Gesetz Verkaufsverbote vor, um die Jugendlichen zu schützen. Bestraft werden nicht die Jugendlichen, sondern nur die Händler, die Alkohol an Minderjährige  abgeben.

Wildwest am Kantonsgericht Schaffhausen

Die Schaffhauser Kantonsrichter verweigern einer Journalistin Einsicht ins Dispositiv und in die Akten eines wichtigen Urteils. Zudem haben sie es offenbar nicht geschafft, die korrekte rechtliche Grundlage für die Weiterleitung eines Entscheides ans Gesundheitsamt zu finden.

Eine Journalistin von Radio Munot wollte Mitte März 2013 beim Kantonsgericht Schaffhausen Einsicht in ein rechtskräftiges Urteil nehmen, in dem das Gericht einen Physiotherapeuten wegen mehrfacher sexueller Nötigung und sexueller Belästigung zu 22 Monaten bedingt verurteilte. Die Journalistin erhielt Dispositiv und Akten des Urteils zuerst von einem Mitarbeiter des Sekretariats ausgehändigt, drei Minuten später kam der zuständige Richter des Falls und nahm ihr die Unterlagen wieder weg – sie müsse ein schriftliches Gesuch stellen (eine Mustervorlage für Einsicht in Urteilsdispositive bei renitenten Gerichten findet man in diesesm Musterbrief_Urteil_ausführlich). Eine schriftliche Begründung des Urteils hat das Gericht nicht verfasst, da dies niemand innert Frist verlangt hatte.

Doch die Geschichte entwickelte sich weiter: Das Gesundheitsamt des Kantons Schaffhausen wollte der Journalistin zuerst keine Auskunft geben, ob der Physiotherapeut noch immer über eine Praxisbewilligung verfüge. Datenschutz, war hier das Argument. Erst nach einem Anruf beim Leiter des Gesundheitsamtes erhielt die Journalistin Antwort: Der Physiotherapeut habe eine Praxisbewilligung. Vom Entscheid des Kantonsgerichts wisse man nichts.

Damit war klar: Das Kantonsgericht hatte das Urteil nicht weitergeleitet. Die Nicht-Information des Amts begründete der zuständige SVP-Gerichtspräsident Markus Kübler damit, dass der Verurteilte seine Taten nicht als Physiotherapeut, sondern als Pfleger begangen habe, und dass das Gericht «keinen begründeten Anlass zur Prüfung weiterer Massnahmen» sah. Denn zum Zeitpunkt des Urteils habe der Verurteilte schon seit längerem nicht mehr als Pfleger gearbeitet, sondern im Bau.

Doch die Arbeit auf dem Bau zum Zeitpunkt des Urteils hätte der Verurteilte schon eine Woche nach der Verurteilung abbrechen und wieder als Physiotherapeut arbeiten können, ohne dass das Gericht davon erfahren hätte. Nicht die mögliche Zukunft des Verurteilten, sondern alleine das Urteil und die Schwere der Tat in Zusammenhang mit der Praxisbewilligung muss Grundlage des Entscheides der Meldung ans Gesundheitsamt sein. Dann ist am Gesundheitsamt, die Konsequenzen zu beurteilen. Es kann nicht sein, dass das Kantonsgericht aus falsch verstandenem Täterschutz die Abwägungen selber trifft, die das Gesundheitsamt vornehmen müsste.

In Artikel 74 Abs. 2 des Schaffhauser Justizgesetzes steht denn auch klipp und klar: „Die Strafbehörden haben die zuständigen Verwaltungsbehörden zu benachrichtigen und ihnen zweckdienliche Unterlagen zu übermitteln, wenn sich in einem Strafverfahren begründeter Anlass zur Prüfung ausserstrafrechtlicher Massnahmen ergibt.“

Nun untersucht die Justizkommission des Schaffhauser Kantonsrates die Praxis des Kantonsgerichts, denn dessen Reaktion zeigt, dass wohl weitere wichtige Informationen nicht ans Gesundheitsamt gelangten und somit Medizinalpersonen praktizieren, die eigentlich keine Bewilligung mehr haben dürften.

Der Fall illustriert exemplarisch, wie geheimniskrämerisch Gerichte Entscheide von der Öffentlichkeit abschirmen. Da muss definitiv ein Umdenken passieren. Das Ende der Omerta in der Justiz ist angesagt.

Die eindrückliche Berichterstattung von Radio Munot:

Beitrag 1

Beitrag 2

Beitrag 3

Beitrag 4

Höchstrichterlicher Freipass für Pharma-Geschenke an Ärzte

Eigentlich dürfen Ärzte keine „geldwerten Vorteile“ annehmen, wenn sie Medikamente verschreiben. Mit dieser Regel wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Pharmafirmen mit Geschenken Einfluss auf  Ärzte und Apotheker nehmen. Das Bundesgericht zieht dem Gesetz nun aber die Zähne: Wenn Ärzte geldwerte Vorteile annehmen, können sie nicht bestraft werden. Die Strafnorm sei nämlich zu wenig bestimmt und deshalb nicht anwendbar, meint das Bundesgericht.

Seit Jahren geht das Schweizer Heilmittelinstitut Swissmedic gegen Ärzte und Apotheker vor, die von Pharmafirmen „Geschenke“ annehmen. Es tut dies gestützt auf Art. 33 Absatz 2 des Heilmittelgesetzes HMG, der im Abschnitt „Werbung und Preisvergleiche“ steht:

2 Personen, die Arzneimittel verschreiben oder abgeben, und Organisationen, die solche Personen beschäftigen, dürfen für die Verschreibung oder die Abgabe von Arzneimitteln geldwerte Vorteile weder fordern noch annehmen.

Deshalb führte Swissmedic verschiedene Verfahren gegen Ärzte und Apotheker und sprach Bussen aus. Dafür stützte es sich auf die Übertretungsnorm des Heilmittelgesetzes:

Art. 87 Übertretungen

1 Mit Haft oder mit Busse bis zu 50 000 Franken wird bestraft, wer vorsätzlich:

b. gegen die Bestimmungen über die Werbung für Arzneimittel verstösst;

 In zwei Entscheiden hat das Bundesgericht dieser Praxis nun die Grundlage entzogen. Im April 2012 stellte die II. öffentlich-rechtliche Abteilung fest, dass Art. 33 HMG Swissmedic keine Kompetenz gebe, gegen Pharmafirmen zu ermitteln, die unzulässige Rabatte an Ärzte und Apotheker gewähren (Art. 33 Abs. 3 HMG). Dafür sei der Artikel zu wenig klar.

Nun erklärt die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in einem Entscheid vom 11. Dezember 2012 den Artikel 87 Abs. 1 Bst. b HMG für zu wenig bestimmt und deshalb nicht anwendbar, weil die Strafnorm den sanktionierten Gesetzesartikel (Art. 33 Abs. 2 HMG) nicht ausdrücklich nenne.

Die fünf Bundesrichter begründen diese neue Praxis – die weitreichende Folgen im ganzen Verwaltungsstrafrecht haben wird – , ohne sich auch nur mit einem Wort mit der juristischen Lehre auseinandergesetzt zu haben.

Die einhellige Lehre ist nämlich anderer Meinung: Mark Pieth in der Schweizer  Ärztezeitung 2002 (und analog im Basler Kommentar zum StGB 2007): Diese Sondernorm [Art. 33 HMG] in einem verwaltungsrechtlichen Erlass ist ihrerseits durch die Strafbestimmungen des Heilmittelgesetzes (Art. 87) abgesichert“. Urs Saxer im Basler Kommentar zum HMG 2006: „Der Arzt eines öffentlichen Spitals, der geldwerte Vorteile im Zusammenhang mit der Arzneimittelabgabe annimmt, verletzt daher nebst Art. 33 allenfalls auch einen Straftatbestand gemäss Art.322ter ff. StGB.“ Gleicher Meinung sind Urs Jaisli und Benedikt Suter. Eine abweichende Meinung wird in keinem Kommentar vertreten.

Nach diesem Entscheid des Bundesgerichts reibt man sich die Augen: Apotheker und Ärzte können also derzeit unbehelligt von Swissmedic geldwerte Vorteile von Pharmafirmen entgegennehmen. Da hat offenbar das Parlament massiv gepatzert und ein völlig untaugliches Gesetz erlassen. Der unmittelbare Schaden für die Bekämpfung von unerwünschten Geschenken von Pharmafirmen an Ärzte wird sich in Grenzen halten, denn die Lücke wird durch die HMG-Revision bald behoben (vgl. Artikeln 57a + 57b und 86a E-HMG). Der Entwurf ist bereits in der Vernehmlassung.

Zahlreiche laufende Verfahren von Swissmedic hängen nun aber in der Luft. Zudem schafft das Bundesgericht mit diesem Entscheid einen umfassenden Überprüfungs- und Revisionsbedarf im Verwaltungsstrafrecht: Selbst bei Übertretungstatbeständen gilt nun gemäss Bundesgericht die strenge Anforderung, dass die sanktionierte Norm ausdrücklich genannt werden muss. Diese Voraussetzung erfüllen zahlreiche Verwaltungserlasse nicht.  Art. 71 des Gewässerschutzgesetzes etwa bedroht generell mit Busse, wer „in anderer Weise diesem Gesetz zuwiderhandelt“. Und Art. 90 Ziff. 1 des Strassenverkehrsgesetzes bestraft denjenigen mit Busse, „der Verkehrsregeln dieses Gesetzes“ verletzt. Das sind immerhin die Artikel 26 bis 57 des SVG! Solche allgemeinen Binnenverweise sind im Nebenstrafrecht völlig üblich.

Erstaunlich ist dabei, dass diese Erwägung des Bundesgerichts in der amtlichen Sammlung nicht publiziert wird. Amtlich veröffentlicht wird einzig die (begrüssenswerte) Neuerung der Praxis zur Verjährung: Neu läuft die Verjährung auch bei einem freisprechenden vorinstanzlichen Entscheid nicht mehr weiter (vgl. Erwägung 1 des BGE vom 11. Dezember 2012).

Erstaunlich ist zudem, dass kein einziges Schweizer Medium diese Entscheide des Bundesgerichts vertieft aufgegriffen hat. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmet dem Thema Woche für Woche lange Artikel. So hat es vermeldet, dass in Deutschland in den letzten Jahren mehr als tausend Korruptionsverfahren gegen Ärzte eingeleitet wurden. Ob dies in der Schweiz so anders ist?

Kraftausdrücke auf Facebook schlimmer als am Stammtisch

Zur Zeit wird in unserer Gesellschaft verhandelt, welche Bedeutung eine Äusserung auf sozialen Netzwerken hat. Ist sie vergleichbar mit einem Spruch am Stammtisch oder wie eine offizielle Publikation? Die Schweizer Justiz geht andere Wege als die britische.

Das Bezirksgericht Zürich hat am 3. Dezember 2012 einen 22jährigen Gymnasiasten wegen „Schreckung der Bevölkerung“ (Art. 258 StGB) zu einer unbedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen à 10 Franken verurteilt. Wie der Tages-Anzeiger berichtete, sass der junge Mann an seinem Geburtstag frustriert vor seinem Computer. Auf seinem Facebook-Profil kündigte er seinen 290 «Freunden» an, dass er es ihnen zurückzahlen werde, wenn sie sich heute nicht über seine Geburt freuen würden. Das sei keine Frage der Freundlichkeit, sondern eine Frage von Respekt und Ehre. Jetzt könne sie niemand mehr schützen. «Päng, Päng, Päng», beendete er seine Statusmeldung.

Ein Mitschüler meldete dies dem Schulleiter, und der Schulleiter erstattete Anzeige. Der junge Mann beteuerte, es sei ein Witz gewesen. Er hätte es nie wahrgemacht. Ein Gutachter bezeichnete ihn als „nicht gefährlich“. Die Richter verurteilten ihn, obwohl sie ihm glaubten, dass er nie zur Tat geschritten wäre. Aber die Äusserung sei geeignet gewesen, die Öffentlichkeit zu erschrecken.

Was also am Stammtisch ein blöder Spruch ist, ist auf Facebook eine Straftat. Daran werden sich Schweizerinnen und Schweizer erst gewöhnen müssen.*

Ganz anders sieht der Direktor der britischen Staatsanwaltschaft, Keir Starmer, am 19. Dezember 2012 die Problematik. Er setzte gemäss NZZ sehr hohe Hürden für Staatsanwälte fest, gegen Äusserungen auf Internetforen wie Twitter oder Facebook vorzugehen. Blosse Beleidigungen, schockierende oder verstörende Äussserungen zählten in der Regel nicht als Klagegründe, empfiehlt er seinen Untergebenen in einer offiziellen Richtline. Es spielt gemäss seinen Leitsätzen keine Rolle, wie geschmacklos oder schmerzhaft solche Aussagen für Einzelne sein könnten. Die Staatsanwälte sollen lediglich gegen Äusserungen im Interent vorgehen, wenn diese eine glaubwürdige Androohung von Gewalttaten gegen Personen oder Sachen entahlten.

Die Richtlinien stiessen in Grossbritannien auf breite Unterstützung. Für Aufsehen hatte der Fall des Bürgers Paul Chambers gesorgt, der im Januar 2010 auf Twitter schrieb: „Mist der Flughafen Robin Hood ist geschlossen. Ihr habt eine Woche Zeit, um eure Angelegenheiten zu ordnen, oder ich blase den Flughafen in die Luft.“ Ein Strafgericht verurteilte ihn wegen dieser Drohung, doch diesen Sommer hob es der Präsident der Gerichte in England und Wales mit der Begrüdung auf, Chambers habe offensichtlich nur dumm herumgealbert.

Staatsanwälte, Gerichte und Gesellschaft sind also in Europa noch arg auf der Suche, wie Social-Media-Äusserungen zu werten sind.

*Nachtrag vom 3. Mai 2015: Das Bundesgericht hat den Fehlentscheid des Zürcher Bezirksgerichts (und nachfolgend des Zürcher Obergerichts) korrigiert und den Betroffenen freigesprochen. Facebook sei nicht mit der Öffentlichkeit gleich zu setzen.

„Bergier-Kommission“ zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen

Der Entwurf für ein Gesetz zur Rehabilitierung administrativ Versorgter sieht eine Art Bergier-Kommission zur Sozialhilfepolitik der Schweiz von 1940 bis 1981 vor. Ein grosser Fortschritt – auf einem langen Weg.

Ende letzter Woche hat das Parlament das Gesetz zur Rehabillitierung administrativ Versorgter  (Rehabilitierung_Erlassentwurf_de) in die Vernehmlassung geschickt (läuft bis 22. Februar 2013). Das Gesetz wurde mit 17 zu 5 Stimmen von der Rechtskommission verabschiedet. Auf Distanz ging die SVP.

Das Gesetz ist ein grosser Schritt vorwärts:

– Es spricht von Rehabilitierung statt nur von Anerkennung von Unrecht und springt damit über den formaljuristischen Schatten (Der Begriff der Rehabilitierung ist für die Aufhebung von Urteilen reserviert. Hier fehlen aber gerade Gerichtsentscheide. Das ist gerade das Problem).

– Es sieht eine Historikerkommission à la Bergier-Kommission vor – und nicht bloss ein weiteres Programm des Nationalfonds. Das ist – wenn es durchkommt – eine ziemliche Sensation! Denn so erhält die Untersuchung der Sozialpolitik der Schweiz mit ihren dunklen Seiten der fürsorgischen Zwangsmassnahmen das nötige Gewicht und hat eine Chance, ins kollektive Bewusstsein der Schweizer Eingang zu finden. Danach müssten die Erkenntnisse aber auch in der Dauerausstellung des Landesmuseum und in den Schulbüchern Aufnahme finden.

Negativ am Entwurf ist, dass das eigentliche Unrecht verniedlicht wird, indem das Parlament den damaligen Behörden einen Persilschein ausstellt – dabei haben sich die damaligen Vormundschaftsbehörden zwar (teilweise) ans schwammig formulierte Gesetz gehalten, aber aus heutiger Sicht Kerngehaltsverletzungen von Grundrechten begangen. Das sind qualifizierte Rechtsverletzung. Das kommt im Entwurf leider nirgends zum Ausdruck.

Wichtig ist, dass die Kantone nicht davon abgehalten werden, finanzielle Wiedergutmachungen, die Einrichtung einer Anlaufstelle oder einen Härtefallfonds weiter zu prüfen. Die Konferenz der Kantone und die Sozialdirektorenkonferenz haben auf diesem nötigen Weg bereits ermutigende Schritte getan.

Krawall am Central: Revision gegen alle Strafbefehle?

Sechs Jugendliche hatten sich dagegen gewehrt, dass die Staatsanwälte sie wegen Landfriedensbruchs zu hohen Strafen verurteilt hatten. Alle wurden von den Gerichten freigesprochen: Das blosse Gaffen beim Krawall am Central vor einem Jahr sei nicht strafbar. 27 andere Jugendliche hatten genau dasselbe gemacht, aber ihren Strafbefehl nicht angefochten. Sie könnten jetzt Revision verlangen.

Am 18. September 2011 wurden am Zürcher Central 91 Jugendliche von einer übereifrigen Zürcher Polizei verhaftet. 33 davon wurden von der Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruchs mit Strafbefehlen zu bedingten Geldstrafen von bis zu 180 Tagessätzen (der maximalen Kompetenz der Staatsanwälte) veruteilt. Die meisten hatten aber bloss aus mehr als 100 Metern Entfernung über die Limmat hinweg zugeschaut, wie ein paar Krawallanten das Tramhäuschen vor dem Hauptbahnhof beschädigten.

Bloss sechs haben den Strafbefehl mit Einsprache weitergezogen – und prompt wurden alle von den Gerichten freigesprochen. Blosses Gaffen sei kein Landfriedensbruch, befanden verschiedene Einzelrichter am Zürcher Bezirksgericht und das Obergericht. Am Schluss zog die Staatsanwaltschaft selbst die Rechtsmittel zurück, die sie gegen die Freisprüche des Bezirksgerichts eingelegt hatten.

Die 27 Jugendlichen, die ihre Strafbefehle akzeptiert hatten, hatten das Nachsehen. Doch genau ihnen hilft Art. 410 der eidgenössischen Strafprozessordnung:

Art. 410 Zulässigkeit und Revisionsgründe

1 Wer durch ein rechtskräftiges Urteil, einen Strafbefehl, einen nachträglichen richterlichen Entscheid oder einen Entscheid im selbstständigen Massnahmenverfahren beschwert ist, kann die Revision verlangen, wenn:

b. der Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht;

Rechtskräftig verurteilte Jugendliche, die ebenfalls bloss gegafft haben, aber jetzt mit einem Strafregistereintrag durchs Leben gehen müssen, könnten also Revision verlangen, weil ihre Verurteilung in „unverträglichem Widerspruch“ zu den Freisprüchen stehen.

Schön und gut, doch wo kein Kläger da kein Recht. Wer genau sagt den 27 Jugendlichen, dass sie Revision verlangen können? Wer hilft ihnen die Gesuche zu stellen?

Liebe Zürcher Strafverteidiger werdet aktiv!

Abgekürztes Verfahren in Deutschland in der Kritik

Spannende Story in der Süddeutschen Zeitung: Mit der „Erforschung der Wahrheit“ nehmen es viele Richter in Deutschland nicht so genau. Mehr als die Hälfte von ihnen greift laut einer Umfrage in Strafprozessen bevorzugt zum informellen „Deal“, der strafmildernden Abmachung zwischen Anklage und Verteidigung.

Dabei akzeptieren die Richter Anwälten zufolge häufig falsche Geständnisse. Mehr als die Hälfte der in einer Studie befragten Rechtsanwälte berichtet von wahrscheinlichen Falschgeständnissen ihrer Mandanten, um bei einem Deal mit einer niedrigeren Strafe davonzukommen.

Wie das wohl in der Schweiz mit dem abgekürzten Verfahren ist? Das wäre mal eine Umfrage wert. Welcher Rechtsprofessor nimmt sich der Sache an? Welcher Journis macht sich dahinter?