Weshalb der Justizjournalismus in Helvetien darbt

Embedded Journalists, unerfahrene Gerichtsreporter, Desinteresse der Medien und die Angst der Justizbehörden vor Transparenz sind vier Gründe für das Malaise des Justizjournalismus in der Schweiz. Vier Forderungen, um dies zu ändern.

Der kritische Justizjournalismus darbt in der Schweiz. Das hat mit vier Gründen zu tun: Erstens bauen die Medien die Justizberichterstattung ab. So berichten heute selbst in der NZZ nur drei Personen über Justiz, hingegen fast zwei Dutzend Leute über Parlament und Regierung in Bund und Kanton Zürich. Das Missverhältnis in der Berichterstattung über die drei Gewalten ist bei andern Zeitung kaum anders. Oder kann sich jemand daran erinnern, dass Bundesrichterkandidaten vor den Wahlen ähnlich geröntgt wurden wie Bundesräte und Parlamentarier?

Zweitens sind die regelmässigen Gerichtsberichterstatter, welche die Kompetenz zur Justizkritik haben,  meist embedded journalists, die aus Rücksicht auf das Justiz-Biotop, in dem sie selbst leben, nicht alles schreiben können, was wichtig wäre. Drittens ist die grosse Masse der Gerichtsberichterstatter  unerfahren und vermeldet nur Sensationen, übt hingegen keine fundierte Justizkritik. Dass da die Justizbehörden von Polizei über Staatsanwaltschaften bis zu den Gerichten misstrauisch sind, ist zumindest zum Teil verständlich. Doch dies erklärt die Angst der Justizbehörden vor Transparenz bei weitem nicht, die viertens Justizkritik erschwert.

Schade eigentlich, denn Justizjournalismus tut not in der Schweiz. Er müsste drei Fragen stellen:

1. Liegt ein Justizfehler vor? (Wie zum Beispiel beim Bundesgerichtsentscheid zu Swissmedic)

2. Ist das juristisch korrekte Urteil auch gerecht? (Eine Frage, die sich zum Beispiel beim Fall Wyler/Zopfi stellt)

3. Gibt es Dysfunktionen im Justizsystem? (Wie zum Beispiel im Bezirk March, wo Anwälte und Richter Herrenabende feiern und sich danach wieder vor und hinter den Schranken des Gerichts unbefangen begegnen)

Damit Justizjournalismus und Justizkritik in der Schweiz diesen Fragen wieder fundiert nachgehen können, müssen 4 Forderungen erfüllt werden:

1. Sämtliche Justizbehörden müssen Zugang zu ihren Entscheiden gewährleisten. Kostenlos und schnell.

2. Justizjournalismus ist als spannendes Berufsfeld für Juristen bekannt zu machen.

3. Rechtswissenschaftliche Lehre und Justizjournalisten sollten häufiger zusammenarbeiten, denn beide machen das gleiche – wenn auch in unterschiedlichen Diskursen.

4. Medien sollten der Justizberichterstattung und der Justizkritik mehr Raum geben.

Also Bodenpersonal Justitias rege Dich!

Legalen Hanfanbau torpediert

Ein St. Galler Staatsanwalt 
zerstört die Geschäftsgrundlage 
einer Firma, die völlig legal 
­Cannabis für medizinische ­Zwecke anbauen will.

Dienstag, 17. Januar 2012, morgens kurz nach acht in einem verschlafenen St. Galler Dorf. 20 Polizisten unter der Leitung von Staatsanwalt Jan Duttweiler durchsuchen die Firma Ai ­Fame, die in Indoor-Anlagen auf rund 500 Quadratmetern Fläche Hanf anbaut.

Marco Gantenbein, Leiter der Qualitätskontrolle des Betriebs, stellt sich dem Einsatztrupp entgegen. Er beteuert, dass die Firma mit fünf Angestellten nichts Unrechtes tue: Der Hanf werde für medizinische Zwecke angebaut. Gantenbein zeigt dem Staatsanwalt den Inspektionsbericht der Heilmittelkontrolle Ostschweiz vom November 2011, die Bewilligung der Arzneimittelbehörde Swissmedic vom 11. Januar 2012 sowie das versandbereite Gesuch ans Bundesamt für Gesundheit (BAG) für eine Ausnahmebewilligung nach Betäubungsmittelgesetz. Es steht also ein Verfahren für den medizinischen Anbau von Hanf kurz vor dem Abschluss, das die Firma bereits Mitte 2010 eingeleitet hat.

Doch der junge Staatsanwalt Duttweiler hat kein Erbarmen. Er habe das ganze Lager von 250 Kilogramm Hanf, Laptops und selbst den Brief ans BAG mitgenommen, erzählt Firmensprecher Gantenbein. Zwei Tage später macht Duttweiler vollends Ernst: Er lässt auch die Pflanzung roden und weitere rund 250 Kilogramm Hanf abtransportieren. «Diese unverhältnismässige Polizeiaktion hat unsere Firma ruiniert», sagt Gantenbein. Der beschlagnahmte Hanf sei unbrauchbar, weil die Qualitätsvorschriften von Swissmedic nicht mehr eingehalten werden können, wenn die Polizei das Gewächs lagere. Den Schaden beziffert er auf fünf Millionen Franken.

Die Firma Ai Fame baut schon seit Jahren Hanf an und stellt damit einen Likör her – ganz legal. Dies hat das Kantons­gericht St. Gallen im September 2010 festgestellt. Der Hanfanbau sei nur verboten, wenn er dazu diene, Betäubungsmittel zu produzieren, argumentierten die Richter. Das geschehe bei Ai Fame nicht. Mehr noch: Seit dem Jahr 2000 hätten die Untersuchungsbehörden den Geschäftsführer der Firma stetig überwacht, seine Telefonate abgehört und regelmässig Hausdurch­suchungen durchgeführt, ohne irgendein illegales Verhalten festzustellen. Die Kantonsrichter attestierten der Firma denn auch «Ernsthaftigkeit der Bestrebungen im Pharmabereich», weil sie sich intensiv um eine Bewilligung der Swissmedic bemühe.

Dieses Urteil war eine schallende Ohrfeige für die St. Galler Staatsanwaltschaft. Doch dann trat am 1. Juli 2011 schweizweit ein neues Recht in Kraft: Jeglicher Cannabis-Anbau wurde verboten – ausser der Hanf enthält weniger als ein Prozent des halluzinogenen Wirkstoffs THC oder es liegt eine Ausnahmebewilligung des BAG zum Anbau für medizinische Zwecke vor. So wollte der Gesetzgeber kontrollierte Drogenlabors in der Schweiz und die rezeptpflichtige Abgabe von Cannabis für Schmerztherapien ermöglichen. Damit hatte die St. Galler Staatsanwaltschaft eine neue Grundlage, um gegen Ai Fame vorzugehen, denn eine Ausnahmebewilligung des BAG liegt wegen des langwierigen Verfahrens noch nicht vor. Doch haben die Hanfpflanzen auch einen THC-Gehalt von mehr als ­einem Prozent? «Die THC-Analysen der Pflanzen dauern derzeit noch an», erklärt Staatsanwalt Jan Duttweiler freimütig.

Im Klartext: Die Strafermittler haben die Illegalität der Plantage vor der Razzia nicht gründlich abgeklärt. Gemäss Ai-Fame-Mitarbeiter Marco Gantenbein haben Messungen vor einem Monat einen THC-Gehalt der nunmehr beschlagnahmten Pflanzen von weniger als 0,5 Prozent ergeben. Was, wenn diese Messung stimmt? «Falls der Hanf weniger als ein Prozent THC enthält, wird es zur Haftungsfrage», sagt Jan Duttweiler lapidar. Will heissen: Der Kanton St. Gallen müsste zahlen.

Marco Gantenbein findet das Vorgehen des Staatsanwalts auch deshalb stossend, weil das Bewilligungsverfahren gemäss BAG in zwei Monaten abgeschlossen gewesen wäre. «Wieso konnte der Staatsanwalt diesen Entscheid nicht abwarten? Er hätte ja zum Beispiel die Räume versiegeln können.» Die Firma hätte sich auf das neue Recht halt einstellen müssen, entgegnet Staatsanwalt Duttweiler. «Nur weil kein Übergangsrecht erlassen wurde, muss ein Staatsanwalt nicht zuwarten.»

Anwalt und Richter als Trinkkumpane

Ein Richter gilt nicht als befangen, auch wenn er mit dem Anwalt der Gegenpartei jede Woche Sport macht, Essen geht und in der Bar abhängt. Das meint das Bundesgericht.

Immer am Donnerstag gehen in Lachen (SZ) eine Handvoll Richter und Anwälte zusammen squashen, dann essen sie zusammen und beschliessen den Abend bei einem Digestif in der Bar. Herrenabend nennt sich das. Und die Herren kennen sich seit Jahren von der Studentenverbindung her.

Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Auch Juristen sollen Sport treiben und es lustig haben. Aber diese Herrenrunde trifft sich nicht nur zu Squash und Plausch am Donnerstagabend, sondern auch vor und hinter den Schranken des Gerichts. So geschehen in einem Verfahren um Eheschutz im März 2010 vor dem Bezirksgericht March.

Da sitzt also der eine Sport-, Ess- und Trinkumpan vorne auf dem Richterstuhl und der andere steht als Anwalt der Frau davor. Der Richter wird als Einzelrichter über die Unterhaltsfragen entscheiden. Das stört den Anwalt des Mannes. Er verlangt einen andern Richter, weil er mit dem Gegenanwalt freundschaftlich verbunden sei. Das sei ein Ausstandsgrund.

Doch der Einzelrichter aus dem Herrenabend, das Kantonsgericht Schwyz und nun auch das Bundesgericht sehen das anders. „Eine derartige freundschaftliche Beziehung weist nicht die Intensität und Qualität auf, die vom üblichen Mass abweicht“, schreiben die drei Bundesrichter. Es sei durchaus üblich und systembedingt, dass sich Richter und Anwälte auch ausserhalb ihrer beruflichen Tätigkeit in der Öffentlichkeit treffen.

„Dieser Entscheid befremdet mehr, als er überzeugt“, kritisiert Hansjörg Peter, Rechtsprofessor an der Universität Lausanne, den Entscheid in einem juristischen Fachblatt. Falls der Mann den Prozess am Schluss verliere, werde er überzeugt sein, dass dies nicht deshalb geschehe, weil es das Gesetz so will, sondern weil Richter und Gegenanwalt miteinander verbrüdert sind. „Genau das aber sollen die Regeln über Ausstand und Befangenheit verhindern: dass der Bürger einen unguten Eindruck der Justiz bekommt und das Vertrauen in sie verliert. Dem Einzelrichter wäre kein Zacken aus der Krone gefallen, wenn er sich zurückgezogen hätte – der Justiz hätte er einen grossen Dienst erwiesen.“

Geheimniskrämerei der Staatsanwälte

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug will zwar Einsicht in die Einstellungsverfügung im Fall FIFA geben, verlangt für das gutgeheissene Gesuch aber vom Gesuchsteller 1000 Franken. Dagegen hat der Beobachter nun Beschwerde eingereicht.

Der Fall sorgte für Verwunderung: Da ermittelten Zuger Staatsanwälte fünf Jahre lang gegen die Fifa und zwei bekannte Persönlichkeiten, welche den Weltfussballverband vertraten. Der Verdacht: ungetreue Geschäftsbesorgung und Veruntreuung. Doch trotz ermutigenden Ermittlungsergebnissen stellte die Zuger Staatsanwaltschaft das Verfahren letzten Oktober nach Art. 53 StGB ein, weil Beschuldigte 5,5 Millionen Franken Wiedergutmachung zahlten.

Ein Gesuch um Einsicht in diese Einstellungsverfügung hiess die Zuger Staatsanwaltschaft zwar Ende Februar 2011 vollumfänglich gut, auferlegte aber einzig dem Gesuchsteller Kosten in der Höhe von 1000 Franken. Die Begründung: „Vor dem Hintergrund, dass der Gesuchsteller als nicht betroffener Person die Verfahrenshandlung gemäss § 23 VRG veranlasst hat und der Gesuchsteller als Journalist auch gewinnorientiert arbeitet, rechtfertigt es sich, dem Gesuchsteller die Kosten der Verfügung aufzuerlegen.“

Dagegen hat der Beobachter nun Beschwerde wegen Verletzung des Willkürverbotes eingelegt. Die normalen Kosten von 250 Franken ist er bereit zu übernehmen. Den Mehraufwand hingegen nicht. „In casu ist der angefallene Mehraufwand jedoch ausschliesslich den Einsprachegegnern zuzuschreiben“, heisst es in der Beschwerdeschrift.

Es geht bei der Beschwerde nicht darum, 750 Franken zu sparen, sondern um ein Präjudiz zugunsten der Justizkontrolle. Denn müssen Medienschaffende selbst bei gutgeheissenem Gesuch mit Kosten in vierstelliger Höhe rechnen, werden kaum mehr Einsichtsgesuche gestellt und damit faktisch das Verkündigungsgebot von Art. 30 Abs. 3 BV ausgehebelt (vgl. auch Justizblog zur ähnlichen Praxis der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft).

Wiedergutmachung für administrativ Versorgte naht

Der Regierungsrat des Kantons Bern und der Berner Gemeinderat sprechen sich für einen Härtefallfonds für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aus.

Die Antworten der Exekutiven des Kantons und der Stadt Bern auf parlamentariche Vorstösse sind ein Hoffnungsschimmer für administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Verding- und misshandelte Heimkinder. Auf ein Postulat von Grossrätin Christine Häsler (Grüne) antwortet der Berner Regierungsrat: „Es ist deshalb angezeigt, neben der moralischen Wiedergutmachung auch die Möglichkeiten einer finanziellen Entschädigung zu prüfen. Um schwierige Abrenzungen, Ungleichbehandlungen und damit erneute Ungerechtigkeiten zu vermeiden, sollte gegebenenfalls ein Unterstützungsfonds auf nationaler Ebene eingereichtet werden.“

Gleich tönt es beim Gemeinderat der Stadt Bern als Antwort auf eine Interpellation der Fraktion SVPplus: „Der Gemeinderat hat Verständnis für das Anliegen, in geeigneter Weise Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu rehabilitieren. Sollten sich auf eidgenössischer udn kantonaler Bestrebungen zur Äufnung einees Fonds zur Wiedergutmachung erlittenen Unrechts ergeben, ist der Gemeinderat bereit, eine Beteiligung der Stadt zu prüfen.“

Alles wartet also auf den Bund. Der wird bald Gelegenheit haben, dazu Stellung zu nehmen. Die SP-Nationalräte Paul Rechsteiner und Jacqueline Fehr bereiten nämlich eine parlamentarische Initiative zum Thema vor.

Betrachtet man die Parteicouleur der Parlamentarier, die in der Sache aktiv waren, erkennt man, dass die Rehabilitierung der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ein überparteiliches Anliegen ist.

Wie man mit Fehlern Geld verdient

Zwei Gerichtspräsidenten beherrschen das Einmaleins des Erbrechts nicht. Davon profitiert unfreiwillig der Kanton Aargau.

Manchmal sind auch einfache Fälle für Aargauer Bezirksrichter zu kompliziert. Da stirbt die Auslandschweizerin Dagmar Müller* im August 2004 in Athen. Sie hinterlässt kein Testament, aber einen britischen Ehemann und eine Tochter. Diese beiden erben deshalb Müllers Vermögen von rund 95’000 Franken zu gleichen Teilen. Nach einem halben Jahr stirbt auch die Tochter. Ihr Nachlass geht an den Vater, da sie ledig ist und weder Testament noch Nachkommen hinterlässt. Drei Monate später stirbt auch er.

Da nimmt sich Ende 2006 der damalige Kulmer Bezirksgerichtspräsident der Sache an – weil Dagmar Müller im Bezirk heimatberechtigt war. Und der Kulmer Richter macht gleich am Anfang zwei grobe Fehler. Erstens sucht er nach den Erben der Auslandschweizerin Müller, obwohl diese im Moment ihres Todes völlig klar waren: Tochter und Ehemann. Zudem bezeichnet er deren Bruder als Erbe. Auch das ist völlig falsch – so falsch, dass jeder Jusstudent durch die Prüfung gefallen wäre, hätte er dasselbe behauptet. Ein Bruder kann nämlich gar nicht gesetzlicher Erbe sein, wenn Ehemann oder Tochter zum Zeitpunkt des Todes der Erblasserin noch leben. Und das war 2004, als Dagmar Müller starb, der Fall.

Vier Jahre lang passiert dann nichts in Kulm, bis der neue Gerichtspräsident Christian Märki die Sache in die Hand nimmt. Er erkennt den Fehler seines Vorgängers – macht aber sofort selbst einen. Im Mai 2010 teilt er Dagmar Müllers Bruder mit, er sei nun doch nicht Erbe, nur deren Tochter und Ehemann hätten geerbt. Und weil die Tochter vor dem Vater verstorben sei, sei das Vermögen ganz beim Vater gelandet. Soweit alles richtig. Dann kommt Märkis grober Schnitzer: Weil dieser später ebenfalls verstorbene Ehemann keine Erben habe, behauptet er, falle das Vermögen nun an den Kanton Aargau.

Damit hat auch der neue Kulmer Gerichtspräsident etwas Grundlegendes übersehen: Der Ehemann von Dagmar Müller war ein Brite wohnhaft in Griechenland – und deshalb hat die Schweiz mit dem Erbgang rein gar nichts mehr zu tun. Deshalb hätte Märki die Erbschaft niemals dem Kanton Aargau zuteilen dürfen.

Christian Märki sieht seinen Patzer aber nicht ein. Er begründet seitenlang und wiederholt, dass sein Entscheid völlig korrekt sei. Die Schweizer Gerichte seien für den Nachlass von Dagmar Müller zuständig gewesen und das auch geblieben, als später Tochter und Ehemann gestorben seien. Der Erbenruf – das heisst die Suche nach Erben – im Nachlass von Dagmar Müller entfalte auch Wirkung für den Ehemann. Kein Erbe habe sich gemeldet, deshalb sei das Gemeinwesen in den Besitz der Erbschaft einzuweisen. Zitieren lassen will sich der Gerichtspräsident aber nicht.

«Da hat ein Bezirksrichter das Einmaleins des Erbrechts nicht begriffen und gleich mehrere grobe Fehler begangen», meint dazu Erbrechtsspezialist Benno Studer. Als Dagmar Müller gestorben sei, sei der Erbgang völlig klar gewesen: Ihr Erbe ging an Mann und Tochter – da hätten Schweizer Gerichte gar nicht nach weiteren Erben suchen müssen. Und als Tochter und Ehemann ebenfalls gestorben waren, ging es nur noch um den Nachlass eines Briten, der in Griechenland gestorben ist. Das geht Schweizer Richter schlicht und einfach nichts mehr an. Ganz abstrus ist es, den Erbenruf im Nachlass der Ehefrau auch gleich für den Nachlass des Ehemannes gültig zu erklären.

Mit dieser Einschätzung ist Experte Studer nicht allein: Die Erbrechtsprofessoren der Universitäten St. Gallen, Zürich und Luzern, alles Mitverfasser massgeblicher Erbrechtskommentare, sind gleicher Meinung: «Das sind einfache Rechtsfragen, die ein Bezirksrichter im Griff haben müsste», betont Thomas Geiser, Professor für Privatrecht an der Universität St. Gallen und Mitverfasser eines Erbrechtskommentars. Und so fragt man sich langsam, wie unbelehrbar Richter sein dürfen.

Die rund 95’000 Franken verbleiben wohl trotzdem dem Kanton Aargau. Es gibt nämlich niemand, der die fehlerhafte Verfügung anfechten könnte. Mögliche Erben des Briten, denen das Geld eigentlich gehören würde, wissen nämlich bis heute nichts von ihrem Glück.

„Weltwoche“ plädiert für Beugehaft

Die „Weltwoche“ plädiert offen für die Beugehaft. Journalisten verlieren das Verständnis für den Sinn von Untersuchungshaft.

Wir vertrauen alle darauf: Verhaften darf man uns nur, wenn wir rechtskräftig verurteilt worden sind. Ohne Urteil darf man uns bei begründetem Verdacht nur in Haft nehmen, wenn wir sonst fliehen würden, Beweise vertuschen könnten oder gefährlich sind für die Gesellschaft.

Einen andern Grund für Haft darf es in einem Strafverfahren nicht geben.

Doch, den muss es geben, meint nun die „Weltwoche“ in ihrer ersten Ausgabe des Jahres: Das Erpressen eines Geständnisses.  So lobt sie einen Aargauer Untersuchungsrichter, weil er zwei Linksextremisten sechs Wochen in Haft behielt, weil sie im Verdacht standen, Autos eines SVP-Lokalpolitikers angezündet zu haben.

„Üblich wäre gewesen, dass die beiden Delinquenten alles abstreiten und nach wenigen Tagen wieder auf freien Fuss kommen, ohne sich jemals vor Gericht verantworten zu müssen“, schreibt der Weltwoche-Journalist und bewundert den Untersuchungsrichter, weil er die beiden Verdächtigen in Haft behielt: „Er vertraute auf den Kulturschock, den die beiden Söhne aus reichem Haus im Gefängnis erlebten.“

Die Weltwoche lobt nicht nur, sie stimmt gar eine Hymne an: „Es kam zum ersten Fall in der Geschichte des neueren Schweizer Linksextremismus, bei dem die Täter konsequent verfolgt, verhaftet und überführt wurden.“ (Artikel im Volltext)

Kein Wort darüber, dass eine solche Haft mit dem Zwecke, ein Geständnis zu erzwingen, schlicht illegal ist. Kein Gedanke darüber, dass ein so entstandenes Geständnis vielleicht nicht stimmt – sondern einzig den Zweck hat, aus dem Knast zu kommen.

Leider ist die Weltwoche mit ihrem vorrechtsstaatlichen Verständnis der Untersuchungshaft nicht alleine. Ähnlich verständnislos hat der „Tages-Anzeiger“ argumentiert, als er sich wunderte, weshalb die drei jungen Männer, die in Kreuzlingen bei Gewalt gegen ein wehrloses Opfer gefilmt wurden, nach einem Tag U-Haft wieder auf freien Fuss gesetzt wurden. Und der „Blick“ empörte sich damals mit dem Titel: „Geschnappt – und schon wieder frei!“

Offenbar geht das Verständnis dafür verloren, dass Menschen nur gefangen gehalten werden dürfen, wenn sie entweder rechtskräftig verurteilt sind oder wenn Gefahr besteht, dass sie flüchten, Beweise vernichten oder dass sie für die Gesellschaft generell gefährlich sind.

Alles andere ist illegal. Egal ob es sich um Linksextreme oder Rechtsextreme handelt. Denn mit Ideologie hat das wenig zu tun, sondern mit dem Recht, wie es derzeit halt einfach gilt.

Endlich Qualigespräche für Richter

Der Kanton Bern führt Anfang 2011 Mitarbeitergespräche für erstinstanzliche Richter ein. Das ist dringend nötig wie das Beispiel eines Berner Strafurteils wegen Betruges zeigt, das auch ein Jahr nach mündlicher Eröffnung noch nicht begründet ist.

Der Fall ist aus dem Leben gegriffen: Ein Rentner verliert fast sein gesamtes Vermögen an einen dubiosen Anlageberater. Deshalb bekommt er keine Ergänzungsleistungen und muss an den Wochenenden arbeiten, um über die Runden zu kommen. Erstinstanzlich wurde der Anlageberater zwar bereits vor einem Jahr wegen Betruges zu einer bedingten Geldstrafe von 360 Tagessätzen à 40 Franken verurteilt, doch weil das Urteil auch heute noch nicht schriftlich begründet ist, zieht sich das Verfahren übermässig in die Länge und der Rentner muss auf seine Ergänzungsleistungen noch jahrelang warten.

Dieser Missstand hat gleich mit drei Fehlern der Berner Justiz zu tun:

1. Fehler der Berner Justiz. Die Ausgleichskasse des Kantons Bern hat dem Rentner zu Unrecht Ergänzungsleistungen verweigert. Sie argumentierte, der Rentner habe ein hochriskantes Anlagegeschäft getätig und damit auf sein Vermögen verzichtet. 450’000 Franken auf 18 Monate zu einem Zins von 5,2% anlegen kann heute wie auch 2001 nicht als hoch riskantes Geschäft im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eingestuft werden. Das Bundesgericht hat etwa eine Vermögensanlage zu 12 % mit einer Vollmacht für hochriskante Geschäfte als Vermögensverzicht im Sinne des Gesetzes über Ergänzungsleistungen bezeichnet. Aber eine Anlage zu 5,2% ohne entsprechende Vollmacht fällt sicher nicht darunter.

2. Fehler der Berner Justiz: Das Berner Verwaltungsgericht hat auf Beschwerde des Rentners hin die Verfügung der Ausgleichskasse zwar aufgehoben aber nicht geprüft, ob es ein hoch riskantes Geschäft ist, sondern einzig darauf hingewiesen, dass gegen den Anlageberater ein Strafverfahren wegen Betruges läuft. Die Ausgleichskasse müsse dieses abwarten und falls der Anlageberater rechtskräftig verurteilt werde, dem Rentner die Ergänzungsleistungen zusprechen. Damit hat das Verwaltungsgericht die Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht umgesetzt, sondern den Rentner dem Anlageberater erneut ausgeliefert. Solange die Verurteilung wegen Betruges nicht rechtskräftig ist, erhält der Rentner nämlich keine Ergänzungsleistungen und muss weiter am Wochenende arbeiten, um über die Runden zu kommen.

3. Fehler der Berner Justiz: Die erstinstanzliche Verurteilung des Anlageberaters wegen Betruges durch das Kreisgericht VIII Bern-Laupen vom 5. Dezember 2008 ist auch fast ein Jahr nach der Fällung noch nicht schriftlich begründet. Das heisst: Die Beschwerdefrist für einen Weiterzug ans Obergerich beginnt nicht zu laufen, das heisst die Rechtskraft des Urteils verzögert sich, das heisst der bald 70-Jährige Rentner muss umso länger auf staatliche Unterstützung warten, also umso länger weiter am Wochenende krampfen.

Genau solche Fälle, wo Richter eine schriftliche Begründung ein Jahr lang verschlampen und damit Bürger um ihr Geld und ihren unbeschwerten Lebensabend bringen, sollten in einem Mitarbeitergespräch zur Sprache kommen.

Da erscheinen die Bedenken von Anastasia Falkner, Präsidentin des Verbands bernischer Richter, als blosse Schutzbehauputungen eines Berufsstandes: Solche Mitarbeitergespräche würden die richterliche Unabhängigkeit gefährden, meinte sie in der Berner Zeitung von gestern. Da verwechselt sie wohl richterliche Unabhängigkeit mit geschützter Werkstatt.

Der mutmassliche Betrüger erhält übrigens seit 6 Jahren Ergänzungsleistungen. Mehr dazu im aktuellen Beobachter.

Bullshit am Berner Verwaltungsgericht

Manchmal sind Richter schlicht und einfach arrogant: Da klagt eine 70jährige Frau vor dem Berner Verwaltungsgericht gegen eine Pensionskasse, die ihr die monatliche Witwenrente von 590 Franken gestrichen hat. Doch die zuständige Einzelrichterin klärt nicht etwa die Rechtslage ab, sondern schreibt der alten Frau nach nur gerade sieben Tagen, die Klage müsse „aller Voraussicht nach abgewiesen werden“. Die Beschwerdeführerin solle doch sagen, ob sie die Klage nicht kostenlos zurückziehen wolle.

Damit macht die Richterin gleich zwei Fehler: Zum einen ist eine Klage gegen eine Pensionskasse, die Leistungen verweigert, eh kostenlos – ob die 70jährige den Streit nun gewinnt oder nicht. Der Hinweis des Gerichts erscheint wie der Versuch, einen Laien zu übertölpeln.

Zum andern ist die Rechtslage sonnenklar, aber anders als die Einzelrichterin schrieb: Die 70jährige hat gemäss zwei eindeutigen Bundesgerichtsentscheiden durchaus Anspruch auf die Witwenrente. Das sieht die Pensionskasse ein, als ein Anwalt ihr das mitteilt,  und erklärt sich sofort bereit, die Witwenrente zu zahlen.

Wofür halten die Richter eigentlich Laien? Für lästige Beschwerdeführer, die man möglichst schnell abwimmeln sollte? Da brachte es die Präsidentin des Berner Verwaltungsgerichts besser auf den Punkt, als sie vor zwei Jahren vor dem Berner Anwaltsverband zum Thema referierte: „Wie vermeide ich Bullshit in der Berufsausübung?“

Den ganzen Artikel im Beobachter 14/09 lesen