Goldgrube für Rechercheure: Strafverfügungen der Verwaltung

Nicht nur Gerichte, nicht nur Staatsanwälte, sondern auch ganz simple Rechtsdienste der Verwaltungen sprechen Strafen aus. Und diese Entscheide müssen öffentlich zugänglich sein. So geht Swissmedic gegen Personen vor, die illegal Medikamente einführen; das Bakom straft Medien, die Schleichwerbung schalten; das BAZL schreitet ein, wenn ein Flugzeug den Walensee zu tief überfliegt; die Oberzolldirektion straft Leute, die illegal Papageien einführen…

Diese Entscheide sind gerade für Journalistinnen und Journalisten spannend, denn dahinter stecken interessante Geschichten. Und das besondere: Diese Entscheide sind wie Urteile und Strafbefehle öffentlich zugänglich, weil das Bundesgericht das verfassungsmässige Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV) auch auf solche Strafverfügungen ausgedehnt hat. Das geschah vor 20 Jahren. Doch bisher hats kaum jemand gemerkt, geschweige denn benutzt.

Ich habe einen Musterbrief für ein Einsichtsgesuch erstellt. Damit solche Einsichtnahmen einfacher sind und die Tätigkeit dieser Behörden des Verwaltungsstrafrecht besser kontrolliert wird.

Meldet mir Probleme, aber auch Erfolge mit dem Musterbrief. Auf spannende Geschichten!

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P.S. Tipp für engagierte RechercheurInnen: Wer diese Dokumente systematisch bewirtschaften will, sollte einfach mal die Systematische Rechtssammlung durchkämmen nach interessanten Gesetzen, das Gesetz anklicken und zum Ende scrollen: Da stehen allfällige Sanktionen, die ausgesprochen werden können. Dann rausfinden, welches Amt diese Sanktionen aussprechen darf und Einsicht verlangen. Eine wahre Goldader. Sicher. Beispiel gefällig: Das Bundesgesetz über die Sperrung und die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte ausländischer politisch exponierter Personen. Gemäss Art. 25-27 können hohe Bussen verhängt werden. Ist das schon mal passiert? Gegen wen….?

Urteile, Strafbefehle oder Anklageschriften herausverlangen

Was belegen Justizdokumente wie Urteile, Einstellungsverfügungen + Co? Wie viel Beweiskraft haben sie? Und wie kann man sie einsehen? Diese kleine Wegleitung zu Justizdokumenten ist ein Service zur besseren Kontrolle der Justiz.

Urteile, Strafbefehle oder Einstellungsverfügungen sind für Rechercheurinnen und Rechercheure Gold wert: Sie belegen, was das Justizsystem für wahr hält und wie es die belegten Vorfälle rechtlich qualifiziert (Mord, Diebstahl, Veruntreuung etc.). Das gilt aber nur für rechtskräftige Entscheide – also Entscheide, bei denen die Beschwerdefrist ungenutzt verstrichen ist oder die vom Bundesgericht gefällt wurden. Ist ein Entscheid noch nicht rechtskräftig, kann eine übergeordnete Instanz den Fall noch immer anders entscheiden.

Spannend sind auch Dokumente aus der Voruntersuchung der Staatsanwaltschaften wie zum Beispiel Einvernahmeprotokolle, Gutachten, Protokolle über Augenscheine etc. Diese Dokumente gelten als geheim. Man kann sie sich nur über die Parteien beschaffen. Medienschaffende müssen mit ihnen vorsichtig umgehen, sonst droht eine Verurteilung wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB).

Die Beweiskraft der einzelnen Dokumente und der Nutzen für Medienschaffende hängen stark von der Art des Dokumentes ab. Deshalb kommentiert „Recht brauchbar“ die wichtigsten Justizdokumente praxisnah in der Dokumentation 15_12_08_Justizdokumente_neu und stellt einen Musterbrief zur Einsicht in Urteile zur Verfügung 15_12_08_Musterbrief_Urteil

„Recht brauchbar“ ist interessiert an allen Erfahrungen mit Einsichtsgesuchen.

Urteile sind zeitlich unbeschränkt einsehbar

Eine hartnäckige Studentin, die von ihrem Dozenten gestützt wird, ein engagierter Anwalt und der Beobachter erkämpfen ein wichtiges Präjudiz für die Recherche in der Schweiz: Urteile können auch Jahre nach der Verkündung eingesehen werden.

Im März 2013 nahm die damalige Diplomstudentin Lisa Dätwyler am dreitägigen MAZ-Kurs Recherche II teil. Zusammen mit 15 anderen Studierenden und Gästen arbeitete sie an vertieften Recherchen und wurde dabei gecoacht von Martin Stoll, Redaktor der SonntagsZeitung, und Dominique Strebel, MAZ-Studienleiter und Co-Präsident des Recherchenetzwerkes investigativ.ch. Dätwyler fand heraus, dass ein Physiotherapeut, der wegen mehrfacher sexueller Nötigung und Belästigung rechtskräftig verurteilt worden war, im Kanton Schaffhausen weiter seinen Beruf ausüben konnte. Erstaunlich, denn Patientinnen und Patienten lassen den Mann vertrauensvoll an ihrem Körper arbeiten. Dätwylers Recherche führte zu vier Beiträgen auf Radio Munot.

Doch offen blieb die Frage, weshalb das Kantonsgericht die Verurteilung nicht ans Gesundheitsamt gemeldet hatte. Und deshalb verlangte die Munot-Redaktorin Einsicht in das Urteil – unterstützt von MAZ-Studienleiter Dominique Strebel, der sich seit Jahren mit der Problematik des Zugangs zu Urteilen auseinandersetzt (Blogbeitrag).

Doch das Kantonsgericht lehnte das Gesuch ab und verweigerte die Einsicht ins Urteil. Die Begründung: Das Urteil sei öffentlich verhandelt und mündlich eröffnet worden. Die Journalistin hätte an diesem Tag im August 2012 dabei sein sollen. Jetzt aber – Monate nach der Urteilsverkündigung – sei das Urteil Archivgut und erst nach 100 Jahren oder bei Nachweis eines wissenschaftlichen oder vergleichbaren Interesses wieder zugänglich.

Ein stossender Entscheid: Lisa Dätwyler war ja im Zuge von Recherchen, die überhaupt erst nach der Urteilsverkündigung stattfinden konnten, darauf gestossen, dass da vielleicht etwas zwischen Schaffhauser Kantonsgericht und Gesundheitsamt schief gelaufen war. In dieser Situation sind recherchierende Journalisten oft: Erst Monate nach einem Urteil wird klar, dass ein Entscheid wichtig ist.

Deshalb war es von grosser Bedeutung, die Zugangsverweigerung des Schaffhauser Kantonsgerichts anzufechten. Der Fall eignete sich als Pilotprozess und die Chancen standen gut, weil das Bundesgericht die unbefristete Einsicht in Urteile zwar nicht ausdrücklich, aber doch implizit bereits angedeutet hatte. Und mit dem Basler Rechtsanwalt Jascha Schneider, der mit dieser Thematik grosse Erfahrung hat, fand sich auch ein kompetenter Experte. Aus prozesstaktischen Gründen riet Schneider zu einem neuen Gesuch eines andern Mediums. Der Beobachter übernahm (http://t.co/nTXMsrWc7K ).

Und auf Beschwerde hin erklärte nun das Obergericht Schaffhausen am 19. Mai 2015 – notabene mehr als zwei Jahre nach dem ersten Einsichtsgesuch – «dass das Bundesgericht heute aus dem Gebot der öffentlichen Urteilsverkündung gemäss Art. 30 Abs. 3 BV (…) ein zeitlich unbefristetes Einsichtsrecht in ergangene Urteile ableitet» (Erwägung 5.1). Im Klartext: Journalisten können Urteile von Gerichten zeitlich unbefristet einsehen. Deshalb muss das Kantonsgericht Schaffhausen ein anonymisiertes Urteilsdispositiv und das Protokoll der mündlichen Urteilsbegründung herausgeben (vgl. das Urteil im Volltext 15_05_19_urteil_obergericht_sh).

 Zwar ist der Entscheid noch nicht rechtskräftig, doch es zeichnet sich ab: Die Hartnäckigkeit von Lisa Dätwyler, des MAZ, des Beobachters und des Rechtsanwalts Schneider wird zu einem Präjudiz führen, das für alle anderen Journalistinnen und Journalisten in der Schweiz entscheidend ist und alle Schweizer Gerichte zu einem Umdenken zwingt: Anonymisierte Urteile kann man immer einsehen. Ob Wochen, Monate oder Jahre später. Ein Sieg für Transparenz in der Justiz und für die Justizkontrolle.

 Nächster Kurs «Recherche II – in die Tiefe recherchieren» am MAZ: Details und Anmeldung

Richter müssen mit Namen hinstehen

Journalisten haben einen Anspruch darauf zu erfahren, welche Richter einen Entscheid gefällt haben. Das neueste Präjudiz des Bundesgerichts zeigt, wie schwer sich (andere) Gerichte mit Transparenz tun.

Ein Journalist des Beobachters wollte wissen, welche Richter an einem Grundsatzentscheid von 2005 der damaligen Asylrekurskommission (ARK) beteiligt waren. Es ging in diesem Urteil um die Frage, ob Personen aus Eritrea, die vor dem Armeedienst desertiert sind, als Flüchtlinge gelten. Der Generalsekretär des Bundesverwaltungsgerichts, in das die damalige ARK heute integriert ist, schickte dem Journalisten Auszüge des Urteils, verweigerte aber gestützt auf das Archivierungsreglement des Bundesverwaltungsgerichts (SR 152.13) und den Schutz von Treu und Glauben der damaligen Richter die Bekanntgabe der Namen der Richter.

Das Bundesgericht hält nun klipp und klar fest, dass die Bekanntgabe eines Urteils nicht durch irgendwelche Archivierungsreglemente, sondern einzig durch Art. 30 Abs. 3 BV geregelt wird, der die grundsätzliche Öffentlichkeit der Justiz festlegt.

Und: Der Anspruch der Medien auf Bekanntgabe von Urteilen schliesst gemäss Bundesgericht auch die Namen der beteiligten Richter ein: „Die Kenntnisnahme erstreckt sich grundsätzlich auf das ganze Urteil mit Sachverhalt, rechtlichen Erwägungen und Dispositiv“, schreiben die fünf Bundesrichter. „Eingeschlossen ist auch der Spruchkörper. Die mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz verbundene Kontrollfunktion durch die Rechtsgemeinschaft wäre massgeblich beeinträchtigt oder gar illusorisch, wenn die beteiligten Gerichtspersonen unbekannt bleiben könnten.“ Und dann schreiben die Bundesrichter einen Satz, der ins Stammbuch aller Gerichte gehört: „Richter und Richterinnen üben ein öffentliches Amt aus, haben für die von ihnen getragenen Urteilen einzustehen und sich allfälliger Kritik (…) zu stellen.“

Fürwahr. Leider wurde dies bei vielen Gerichten – nicht nur dem Kantonsgericht Schaffhausen, das die Einsicht ins Dispositif eines Strafurteils gegen einen Physiotherapeuten verweigert – noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Wieviele Bundesgerichtsentscheide braucht es noch, bisauch den unteren Instanzen klar ist, dass Medien in der Regel einen Anspruch auf Einsicht in Urteile haben?

Sieg für Transparenz bei Zürcher Strafbefehlen

Der Zugang zu Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen wird im Kanton Zürich schneller und billiger. Die Zürcher Staatsanwälte verzichten in Zukunft darauf, die Stellungnahmen der Betroffenen einzuholen. Ein Sieg für Justizblog und das Recherchenetzwerk investigativ.ch

Kleine Rückblende: Ab 2011 luden die Zürcher Staatsanwälte die Betroffenen zur Stellungnahme ein, wenn Medien ein Gesuch um Einsicht in einen Strafbefehl oder eine Einstellungsverfügung stellten. Die Betroffenen waren danach berechtigt, gegen den Einsichtsentscheid des Staatsanwaltes Beschwerde zu führen – bis ans Bundesgericht. Deshalb dauerte die Einsicht in die Einstellungsverfügung im Fall Nef mehr als zwei Jahre. Und deshalb musste ein Journalist des Tages-Anzeigers Kosten von 4000 Franken übernehmen, weil sein Gesuch abgelehnt wurde.

Justizblog und investigativ.ch hatten diese Praxis von Anfang an als verfassungswidrig kritisiert, weil es die Justizöffentlichkeit wie sie in Art. 30 Abs. 3 BV vorgesehen ist, faktisch aushebelt: Kaum ein Journalist stellte bei so langwierigen Verfahren mit so hohem Kostenrisiko noch ein Einsichtsgesuch.

Damit ist nun Schluss: Nach Gesprächen von Justizblog und investigativ.ch mit dem Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich erstellte dieser einen Leitfaden Zugang zu Personendaten Dritter, der die Rechtsauffassung der Medien untermauerte. Gemäss Zürcher Informations- und Datenschutzgesetz (§ 17 Abs. 1 Bst. a IDG) ist der Zugang zu sensiblen Personendaten auch ohne Stellungnahme der Betroffenen möglich, wenn dies ein Gesetz vorsieht. Art. 30 Abs. 3 BV ist ein solches Gesetz.

Wegen dieses Grundlagenpapieres hat nun die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ihre Praxis geändert: „Es ist richtig, dass der Leitfaden „Zugang zu Personendaten Dritter“ des Datenschutzbeauftragten des Kantons Zürich die Praxis der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich betreffend Einsicht in Endverfügungen beeinflusst“, schreibt Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. „Demnach ist Art. 30 Abs. 3 BV als gesetzliche Grundlage im Sinne von § 17 Abs. 1 lit. a IDG zu qualifizieren, weshalb die Einsicht grundsätzlich zu gewähren ist und nicht von einer expliziten Einwilligung des Beschuldigten abhängt und auch auf eine Stellungnahme weiterer Drittpersonen verzichtet werden kann.“

Eckert betont danach die allgemeinen Voraussetzungen für die Einsicht: Der Gesuchsteller muss ein ernsthaftes Interesse an der Kenntnisnahme glaubhaft machen – dies ergibt sich gemäss Bundesgericht bei Medien von selbst aus ihrer Kontrollfunktion. Anderseits ist daneben auch immer eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei überwiegende öffentliche oder private Interessen dem allgemeinen Informationszugangsrecht Grenzen setzen können, was in jedem Einzelfall zu prüfen ist.

Diese Praxisänderung erleichtert den Medien nun den Zugang zu Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen, die mehr als 95% aller Urteile in der Strafjustiz ausmachen.

Ähnlich offen ist der Zugang in den Kantonen Luzern und Basel-Stadt. In Bern hingegen werden die Betroffenen immer noch um Stellungnahme angefragt, obwohl das Berner Datenschutzgesetz eine analoge Bestimmung zum Zürcher IDG enthält. Wenn ein Gesetz die Einsicht in sensible Personendaten vorsieht, müssen Betroffene nicht zur Stellungnahme eingeladen werden.

Also Berner ändert auch ihr Eure Praxis! Dasselbe gilt übrigens für die Bundesanwaltschaft.

Einstellungsverfügungen: Auch Praxisänderung des Bundesanwalts

Die Bundesanwaltschaft legt nun auch Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB öffentlich auf. Ein Erfolg für das Schweizer Recherche-Netzwerk investigativ.ch.

In keinem Kanton werden Einstellungsverfügungen derzeit öffentlich aufgelegt. Die Bundesanwaltschaft geht nun voran und passt sich – nach Intervention von investigativ.ch – dem neuesten Urteil des Bundesgerichts an: Im Entscheid zur Einsicht in die Einstellungsverfügung betreffend Fifa hat das höchste Schweizer Gericht festgehalten, dass Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) öffentlich verkündet werden müssen (Erwägung 3.4 des Entscheides Urteil_BGer_Fifa vom 3.07.2012).

Die Bundesanwaltschaft legt deshalb in Zukunft nicht nur Strafbefehle, sondern auch Einstellungsverfügungen ab Erlass 30 Tage lang in Bern öffentlich auf. Im Unterschied zu den Strafbefehlen sind diese aber anonymisiert.

Strafbefehle: Praxisänderung der Bundesanwaltschaft

Die Bundesanwaltschaft erlaubt nun Kopien, wenn Journalisten vor Ort in Bern Strafbefehle einsehen. Ein Erfolg für investigativ.ch.

Viele Kantone legen Strafbefehle unmittelbar nach Erlass oder Rechtskraft zur Einsicht öffentlich auf. Nur der Kanton Sankt Gallen erlaubt es aber Journalisten, eine Kopie von einem Strafbefehl zu machen. In den meisten Kantonen kann man sich nur Notizen machen. So war auch die Praxis der Bundesanwaltschaft – bis vor Kurzem.

Sie widerspricht in mindestens einem Punkt der klaren Praxis des Bundesgerichts: In einem Entscheid vom 1. September 2006 (!!!) hat das höchste Schweizer Gericht klipp und klar festgehalten, dass Journalisten Anspruch auf eine Kopie haben (Entscheid 1P.298/2006).

Investigativ.ch wies die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft und die Bundesanwaltschaft auf dieses klare Präjudiz hin. Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser sieht keinen Handlungsbedarf: »Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.«

Ganz anders haben Bundesanwalt Michael Lauber und sein Rechtsdienst auf den Bundesgerichtsentscheid reagierte, auf den sie investigativ.ch hingewiesen hat:Sie haben umgehend die Praxis geändert und erlauben nun Kopien. Kostenlos.

Offen bleibt die Frage, ob die Bundesanwaltschaft in Zukunft auch Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) öffentlich auflegt. Der Rechtsdienst ist noch am Abklären. Zudem sind auch Abklärungen in Gang, ob Journalisten auch an den Zweigstellen in Zürich, Lausanne und Lugano Einsicht nehmen können. Fortsetzung folgt.

Verfassungswidrige Praxis der Strafbehörden

Einstellungsverfügungen von Strafbehörden müssen wie Urteile verkündet werden – sicher dann, wenn sie aufgrund einer Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) ergangen sind. Das hat das Bundesgericht in einem neuen Entscheid festgehalten, den der Beobachter publik gemacht hat (1B_70/2012, Erw.3.4).

Die Praxis sämtlicher Kantone,  solche Einstellungsverfügungen nicht öffentlich aufzulegen, widerspricht somit dem verfassungsmässigen Prinzip der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV).

Die Kantone Sankt Gallen, Zürich und Bern, die über den Zugang der Medien zu Einstellungsverfügungen nach Art. 53 StGB gar erst nach einem langwierigen Stellungnahmeverfahren bei den Betroffenen entscheiden, verhalten sich gar doppelt verfassungswidrig.

Offenbar macht dieser verfassungswidrige Zustand den Strafbehörden nichts aus. Sie empfehlen Journalisten, halt einen Pilotprozess zu führen. Doch: Was soll ein Pilotprozess, wenn das Bundesgericht die Rechtsfrage bereits entschieden hat?

Genau gleich verhalten sich die Strafbehörden der meisten Kantone (Ausnahme Sankt Gallen) bei der Frage, ob Journalisten von Einstellungsverfügungen oder Strafbefehlen eine Kopie anfertigen dürfen. Die Strafbehörden verbieten das den Medien entgegen einem klaren Präjudiz des Bundesgerichts (Urteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006).

So teilte der Zürcher Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser Justizblog lapidar mit: „Wir haben die Frage der Kopien damals eingehend besprochen und möchten einstweilen bei unserer Praxis bleiben.“

Nachtrag August 2012: Auf Druck des Recherchenetzwerks investigativ.ch haben einige Strafverfolgungsbehörden ihre Praxis zur Auflage von Einstellungsverfügungen und zur Abgabe einer Kopie geändert.

Die Lehren aus dem Fall Hildebrand

Statt zu jubeln oder zu jammern, sollten aus dem Fall Hildebrand Lehren gezogen werden. Es braucht in der Schweiz eine neue Fehlerkultur.

Christoph Blocher und «Weltwoche» jubeln über ihren Sieg – der von ihnen gehasste Notenbankpräsident Philipp Hildebrand musste gehen. Nicht wegen schlechter Arbeit, sondern wegen eines Fehlers, der im Vergleich zu seinen Verdiensten für die Schweiz klein erscheint. Deshalb jammern die übrigen Medien und Politiker und beklagen, dass fähige Leute mit Kampagnen aus dem Amt gejagt werden können.

Aber der Fall Hildebrand ist weder ein Grund zum Jammern noch zum Jubeln. Er ist Anlass, Abläufe zu verstehen und aus Fehlern zu lernen.

1. Man kann es bedauern oder begrüssen, aber es ist schlicht eine Tatsache, dass politische Kampagnen gegen die höchsten Institutionen der Schweiz geführt werden. Mit allen Mitteln – selbst über Gesundheit und Wohlbefinden von Informanten hinweg. Oberstes Ziel ist die Wirksamkeit. Der Zweck heiligt die Mittel. Selbst mit fachlicher Brillanz und gekonntem Auftreten können sich Amtsinhaber nicht gegen solche Angriffe schützen. Schutz bietet nur moralische Integrität – selbst wenn die Angriffe von moralisch zweifelhaften Personen vorgebracht werden. Paradox, aber auch das eine Tatsache.

2. Moralisch integer ist heute nur, wer Interessenkonflikte meidet. Weder ein Notenbanker noch ein Bundesrat noch ein Richter noch sonst ein Machtträger darf auch nur den Anschein erwecken, andere als sachliche Interessen zu verfolgen. Das musste im Frühling 2011 Peter Hufschmied, der Präsident der AKW-Aufsichtsbehörde Ensi erfahren, als ihm die Medien nachweisen konnten, dass er auch im Solde einer Firma der AKW-Betreiberin BKW stand. Ein Rücktritt war unvermeidlich. Das muss jetzt Philipp Hildebrand erleben, der Dollarkäufe seiner Frau allem Anschein nach zumindest billigte, und sich damit dem Vorwurf aussetzte, sich durch Insiderwissen bereichert zu haben. Offenbar ist die nötige Sensibilität für Interessenkonflikte noch nicht bei allen Behördenvertretern vorhanden – oder kommt im Laufe eines hohen Amtes abhanden. Und eine kleine Bemerkung am Rande: Bei der Unabhängigkeitsprüfung gilt die Unschuldsvermutung nicht. Es genügt der Anschein der Befangenheit, um die Beweislast zu kehren.

3. Um die geforderten moralischen Standards garantieren zu können, braucht es eine neue Kultur, wie man mit Missständen und Fehlern umgeht. Statt sie zu vertuschen und unangenehme Missstandsmelder wie den IT-Mann der Bank Sarasin möglicherweise zu verurteilen, muss man deren Hinweise früh und gründlich nutzen, um Fehler zu korrigieren. Dazu braucht es Anlaufstellen für Whistleblower, die unabhängig sind, möglichst breit bekannt gemacht werden sowie umfassend und mit Biss ermitteln. Im Fall Hildebrand sind die Missstände möglicherweise sogar korrekt gemeldet worden. Sie wurden den zuständigen Aufsichtsbehörden zur Kenntnis gebracht: dem Bundesrat und der eidgenössischen Finanzkontrolle. Erst als das nichts nützte, gingen die Informationen an die Medien – nach wessen Willen auch immer. Der Whistleblower hätte sich zwar vorgängig an die interne Compliance der Bank wenden müssen, doch ob dies nicht auch geschah und ob dies bei der Meldung externer Missstände überhaupt nötig ist, ist heute unklar. Fehler haben hingegen die Anlaufstellen gemacht, indem sie zu wenig gründlich abklärten. Deshalb ist es möglich, dass ein Gericht den Whistleblower vom Vorwurf der Verletzung des Bankgeheimnisses freisprechen wird – falls er gutgläubig war, das heisst wirklich vor allem den Missstand beheben und nicht eine politische Kampagne führen wollte.

4. Das rigorose Durchsetzen von Geheimhaltungspflichten bringt nichts. Der Staat sollte wenn immer möglich umfassende Transparenz schaffen. Nur so kann heute Macht legitimiert werden. Auch das haben die Behörden noch nicht wirklich begriffen. So hat die Nationalbank mit ihrer verschleiernden Pressemitteilung vom 23. Dezember 2011 die politische Kampagne der SVP erst richtig in Gang gebracht. Sofort hätten das interne Reglement über Eigengeschäfte der Direktoriumsmitglieder und die Prüfberichte von Price Waterhouse Coopers sowie der eidgenössischen Finanzkontrolle veröffentlicht werden müssen. Und als allgemeine Lehre daraus: Behörden sollten Gesuche um Einsicht in amtliche Dokumente nicht wie heute leider üblich mit fadenscheinigen Argumenten abwimmeln, sondern wenn immer möglich gutheissen.

Werden diese Lehren gezogen, wird es schwierig sein, mit politischen Kampagnen demokratisch gewählte, fähige Leute wegen untergeordneten Fehlern aus dem Amt zu drängen. Und Informanten müssen nicht in der psychiatrischen Klinik landen.

www.investigativ.ch: Die Recherche-Plattform der Schweiz

Der Verein investigativ.ch baut seine Website zum Kompetenzzentrum für Recherche aus. Ab dem 1. November 2011 verraten Recherche-Journalistinnen und -Journalisten unter  www.investigativ.ch ihre Tipps und Tricks.

Der Mitgliederbereich der neuen Website bietet handfesten Service:  Rechercheanleitungen, kommentierte Links, Dossiers mit dem aktuellen Stand von Recherchen in wichtigen Themenbereichen. Zudem stehen Musterbriefe für Einsichtsgesuche zum Download bereit, und ein Forum ermöglicht den Austausch über konkrete Rechercheprobleme.

Auch Nicht-Mitglieder können sich über einen Blog über die aktuellen Entwicklungen in der weiten und nahen Welt der Recherche informieren. Und wer den Newsletter abonniert, ist über Veranstaltungen und Tagungen auf dem Laufenden.

Das Angebot wird von allen Mitgliedern des Vereins investigativ.ch aktualisiert und weiter angereichert. So berichtet die Website aktuell über die Herzberg-Tagung vom 2. November 2011, die dieses Jahr der Recherche gewidmet ist.

Recherchewissen ist shareware. Davon ist investigativ.ch überzeugt. Mitglied können alle hauptberuflichen Journalistinnen und Journalisten werden.

Investigativ.ch, das Recherche-Netzwerk Schweiz, ist  auch auf Twitter (investigativ_ch) und Facebook präsent. Reinschauen, „followen“ und „liken“.