Im Zweifel für die Stellungnahme

Berichten Medien über ein Gerichtsurteil, müssen sie gemäss Presserat dem Beschuldigten keine Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Dies gilt gemäss Presserat auch bei einem nicht rechtskräftigen Strafbefehl. Ein Fehlentscheid.

Am 28. Januar 2019 veröffentlichte «Blick» einen Artikel mit dem Titel «Dentalassistentin Sadia H.* (20) kritisiert ihren Ex-Chef auf Google. Jetzt muss sie 1400 Fr zahlen». Darin warf die Dentalassistentin Sadia H. ihrem früheren Chef vor, seine Angestellten und Patienten schlecht behandelt, unnötige Behandlungen vorgenommen und Hygienestandards nicht eingehalten zu haben. Der Zahnarzt habe seine Mitarbeiterinnen zudem wie «Sklaven» behandelt. Sadia H. habe deshalb gekündigt und ihre Lehre in einer anderen Praxis fortgesetzt.

Auf Google habe die Auszubildende eine Rezension über ihren früheren Arbeitgeber verfasst, um vor ihm zu warnen. Dabei hielt sie fest, er hasse seinen Job und breche Zahnbehandlungen bei Kindern auch dann nicht ab, wenn diese weinten oder fast erstickt seien. Der Zahnarzt sei «ganz schlecht» und die Praxis «echt gefährlich», schrieb sie.

Für diese Äusserungen wurde Sadia H. per Strafbefehl wegen Ehrverletzung verurteilt. Blick stützte seinen Bericht auf diesen Strafbefehl, der zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht rechtskräftig war.

Der Presserat wies deshalb eine Beschwerde des Zahnarztes ab (der dafür den Verein Fairmedia beauftragte): Die Berichterstattung des Blick gehe nicht über die im Strafbefehl geschilderten Details hinaus. Deshalb habe die Zeitung auch keine Stellungnahme des Zahnarztes einholen müssen (Stellungnahme 64/2019).

Der Presserat stellt also einen Strafbefehl einem Urteil medienethisch gleich. Das ist falsch. 

Bei einem Strafbefehl findet keine öffentliche Verhandlung statt. Zudem müssen Strafbefehle nicht begründet werden, und weder die Sicht des Opfers noch jene des Anzeigeerstatters oder Beschuldigten kommen im Strafbefehl zum Ausdruck, da oft – wie im konkreten Fall – keine Einvernahmen stattfinden.

Damit ist der Strafbefehl einseitig und die Sicht der Betroffenen kommt nirgends zum Ausdruck. In einem solchen Fall kann das amtliche Dokument zwar das Wahrheitsgebot erfüllen, nicht aber die Pflicht zur Stellungnahme ersetzen. Eine Stellungnahme ist somit bei Strafbefehlen immer einzuholen (sofern nicht oder nicht genügend anonymisiert darüber berichtet wird).

Grundsätzlich ist bereits die Praxis des Presserates zu kritisieren, dass bei einem Urteil keine Stellungnahme einzuholen ist. Sie ist allzu pauschal.

Ein rechtskräftiges Urteil gilt zwar als harte Quelle, die es erlaubt, das Gebot der Wahrheit zu erfüllen. Das Fairnessgebot muss aber zusätzlich beachtet werden. Dies kann meist dadurch erfüllt werden, dass die Sicht des Beschuldigten aufgrund der (öffentlichen) Gerichtsverhandlung oder der schriftlichen Begründung des Urteils geschildert werden kann. Ist dies aber nicht möglich, besteht die Pflicht des Journalisten, dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, zu den schweren Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Und nebenbei: Betroffene anzuhören, ist nicht nur eine grundsätzliche medienethische Pflicht, sondern schlicht auch interessant und bereichert jeden journalistischen Beitrag. Deshalb gilt die Faustregel: Im Zweifel für die Stellungnahme.

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