Nicht-rechtskräftige Strafbefehle müssen nicht öffentlich aufgelegt werden, entschied das Luzerner Kantonsgericht schweizweit erstmals. Der Entscheid ist richtig, aber nicht zu Ende gedacht, denn entscheidend ist nicht die Rechtskraft, sondern die Frage, ob das Strafbefehlsverfahren fertig ist. Deshalb müssen auch nicht rechtskräftige Strafbefehle öffentlich sein, sobald der Staatsanwalt an ihnen im Einspracheverfahren festhält oder sie ans Gericht überweist.
Lena Berger, eine Journalistin der Luzerner Zeitung (LZ), stellte im August 2016 bei der Luzerner Staatsanwaltschaft das Gesuch, sämtliche Strafbefehle einzusehen, die zwischen dem 5. und 12. September erlassen werden. Die Staatsanwaltschaft lehnte das Gesuch mit einer rudimentären Begründung ab, die sich mit der geltenden Rechtsprechung zur Justizöffentlichkeit mit keinem Wort auseinandersetzte (Justizblog berichtete). Als Gründe führte der stellvertretende Oberstaatsanwalt den grossen administrativen Aufwand an und pendente Arbeiten der Schweizerischen Konferenz der Strafverfolgungsbehörden (SKS) zur Vereinheitlichung der Einsicht in Entscheide der Strafverfolger.
Auf Beschwerde der LZ hat das Kantonsgericht Luzern am 20. Oktober 2016 nun ein Urteil zur Sache gefällt, das bemerkenswert gut begründet ist – auch wenn die Argumentation auf halbem Wege stecken bleibt (2016-10-28-nlz-ag-bschluss-20-10-16-kg-lu ).
Zuerst einmal gibt das erstinstanzliche Luzerner Gericht der LZ und Lena Berger recht: Natürlich darf die Journalistin Einsicht nehmen in die rechtskräftigen Strafbefehle. Der administrative Aufwand und irgendwelche Vereinheitlichungsbestrebungen (die auch bis zum Redaktionsschluss dieses Blog-Beitrags noch nicht abgeschlossen waren) können keinen Grund darstellen, die Einsicht zu verweigern. Da ist die Rechtslage klar, wie dies später auch Oberstaatsanwalt Daniel Burri gegenüber der Zentralschweiz am Sonntag einräumte, der die Auskunft seines Stellvertreters als falsch bezeichnete. Umgehend konnte wieder jedermann rechtskräftige Strafbefehle 10 Tage lang vor Ort auf der Staatsanwaltschaft Luzern einsehen.
Insofern ist das Urteil nicht Aufsehen erregend. Es korrigiert einen erstaunlich unkundigen Entscheid eines stellvertretenden Oberstaatsanwalts.
Bedeutend ist das Urteil des Luzerner Kantonsgerichts hingegen, weil es sich schweizweit erstmals mit der Frage auseinandersetzt, ob Staatsanwaltschaften gestützt auf das Gebot der Justizöffentlichkeit (Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 69 Abs. 2 Strafprozessordnung) auch Einsicht in nicht-rechtskräftige Strafbefehle gewähren müssen. Und das Gericht verneint dies.
Die juristische Begründung ist fundiert, spannend und setzt sich auch mit dem Bundesgerichtsurteil vom 21. Juni 2016 auseinander (1C_123/2016), in dem das höchste Schweizer Gericht feststellte, dass auch nicht-rechtskräftige Urteile zu veröffentlichen sind. Justizblog hat daraus die Forderung abgeleitet, dass dies auch für nicht-rechtskräftige Strafbefehle gelte. Das Luzerner Kantonsgericht kommt in seinem unterdessen rechtskräftigen Entscheid zu einem gegenteiligen Schluss.
Zwar gesteht das Gericht dem Strafbefehlsverfahren eine „erhebliche Praxisrelevanz“ zu: „Es besteht daher ein grosses Interesse der Rechtsgemeinschaft zu erfahren, wie die Strafjustiz in diesem Bereich funktioniert“. Von diesem Interesse seien grundsätzlich auch nicht rechtskräftige Strafbefehle erfasst. Wenn auch nicht rechtskräftige Strafbefehle öffentlich zugänglich wären, könnten fragwürdige Ermittlungstätigkeit oder mangelhafte Verfahrensleitung kritisiert werden. Dem stellt das Kantonsgericht aber die privaten Interessen der Betroffenen entgegen, die regelmässig nicht wollen, dass ein Strafverfahren publik wird.
Aus dem Wortlaut von Artikel 69 StPO konnte das Kantonsgericht keine eindeutige Antwort ableiten, denn das Gesetz schreibe zum einen vor, dass alle „ergangenen“ Strafbefehle öffentlich zu machen sind – also auch nicht-rechtskräftige (Art. 69 Abs. 2 StPO), zum andern, dass das Strafbefehlsverfahren geheim sei (Art. 69 Abs. 3 StPO).
Das Gericht stellte sich sodann die zentrale Frage, ob ein nicht-rechtskräftiger Strafbefehl noch Teil des Strafbefehlsverfahrens und damit geheim ist, oder ob das Strafbefehlsverfahren bereits abgeschlossen ist und damit auch der nicht-rechtskräftige Strafbefehl dem Verkündigungsgebot unterliegt (Erwägungen 6.3.3.ff).
Das Kantonsgericht schlägt sodann alle nicht-rechtskräftigen Strafbefehle dem (geheimen) Strafbefehlsverfahren zu: „Bevor der Strafbefehl rechtskräftig wird und so zugleich zum Urteil wird (Art. 354 Abs. StPO) ist er ein schlichter Erledigungsvorschlag seitens der Staatsanwaltschaft, der mittels Einsprache der beschuldigten oder einer anderen betroffenen Person hinfällig wird. Bis zu seiner Rechtskraft ist der Strafbefehl somit ein Aktenstück des nichtöffentlichen Vor- bzw. Strafbefehlsverfahrens, das nach der StPO (…) genauso wenig von den Teilgehalten des Öffentlichkeitsprinzips erfasst wird wie ein anderes Aktenstück des Vorverfahrens.“ (Erwägung 6.4).
Diese Argumentation überzeugt in ihrem Ansatz, ist aber nicht zu Ende gedacht. Ein Strafbefehl ist nämlich in vier Fällen nicht-rechtskräftig:
Erstens, wenn die Einsprachefrist noch läuft, zweitens wenn der Beschuldigte Einsprache erhoben hat (Art. 355 StPO), drittens wenn der Staatsanwalt nach einer Einsprache am Strafbefehl festhält und viertens, wenn er den Strafbefehl als Anklage ans Gericht überweist. Nur in den ersten beiden Fällen läuft das Strafbefehlsverfahren noch. Und nur in diesen beiden Fällen greift die Justizöffentlichkeit und ist Geheimhaltung gesetzlich legitimiert.
Hält der Staatsanwalt also an seinem Strafbefehl fest oder erhebt er Anklage beim erstinstanzlichen Gericht, so ist das Strafbefehlsverfahren abgeschlossen und entsprechende Strafbefehle fallen ab diesem Zeitpunkt – und nicht erst unmittelbar vor der Gerichtsverhandlung – unter Art. 30 Abs. 3 BV und müssen öffentlich gemacht werden – obwohl sie nicht rechtskräftig sind. Das heisst: einsprachemässig bestätigte Strafbefehle oder zur Anklage erhobene Strafbefehle müssen öffentlich aufgelegt werden und zwar ab Entscheid, da das Strafbefehlsverfahren abgeschlossen ist. Die restriktive Praxis vieler Gerichte, Anklageschriften nur sehr spät herauszugeben, ist – zumindest bei Strafbefehlen, die zur Anklageschrift werden – rechtlich nicht haltbar.
Es ist schade, dass die Luzerner Zeitung das Urteil des Luzerner Kantonsgerichts nicht angefochten hat, denn damit bleiben diese Fragen gerichtlich undiskutiert. Und zu hoffen ist, dass die Arbeitsgruppe der SKS (endlich) einen Entwurf vorlegt, der den Bedürfnissen der Öffentlichkeit an Information über Strafentscheide möglichst entgegenkommt. Das dient der Strafjustiz und ist rechtsstaatlich wie verfassungsrechtlich geboten.
Anmerkung des Autors vom 1. März 2017: Die rechtliche Würdigung dieses Entscheids habe ich mit einem aktuellen Post verfeinert (und zum Teil revidiert).