Wiedergutmachung für Opfer von Zwangsmassnahmen – Rückblick auf ein kleines Wunder

Das Parlament hat beschlossen, Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bis zu 25’000 Franken Wiedergutmachung zu zahlen, Anlaufstellen in den Kantonen zur Verfügung zu stellen, die Akten zugänglich zu machen und das dunkle Kapitel Schweizer Geschichte umfassend wissenschaftlich aufzuarbeiten. Dieser Erfolg ist ein kleines Wunder. Mitgewirkt haben viele. Während fast 80 Jahren. Ein kleiner Rückblick.

1.Es war ein langer Weg von C. A. Looslis Kritik an den „Schweizerischen Konzentrationslagern“ bis zur umfassenden Wiedergutmachung für die Opfer.

1938: Der Journalist, Schriftsteller, Philosoph und Justizreformer Carl Albert Loosli prangert im „Schweizerischen Beobachter“ an, dass die Vormundschaftsbehörden in der Schweiz Menschen ohne gerichtliches Urteil in „Korrektions-, Arbeits- und Zwangserziehungsanstalten“ stecken. Er nennt es „administrative Willkürjustiz“ und gibt seinem Text den Titel „Schweizerische Konzentrationslager und Administrativjustiz“. Looslis Kritik wird als „weltfremd“ abgetan. Der damalige Sekretär der Zürcher Vormundschaftsbehörde Fritz Pesch kontert: „Falsche Humanität gegenüber den Haltlosen wäre Brutalität gegenüber ihrer Umwelt.“ Und Kritiker C. A. Loosli rät er, er solle sich doch zuerst informieren, bevor er  „mit gutgemeinten, aber abwegigen Artikeln Querulanten und asoziale Elemente zum Widerstand ermuntert.“ C. A. Loosli war als Jugendlicher selbst in der Zwangserziehungsanstalt Trachselwald versorgt. Seine Kritik geht im Getöse des 2. Weltkrieges unter.

15. September 2016: Der Ständerat heisst mit 35 zu einer Gegenstimme das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 gut. Der Nationalrat hat dem Gesetz, das als Gegenentwurf zur Wiedergutmachungsinitiative formuliert ist, bereits im April zugestimmt. Es sieht für Betroffene unter anderem Solidaritätsbeiträge von 25’000 Franken vor, Hilfsangebote durch Beratung und eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung

2. Von 1944 bis 2004 flackert das Thema immer wieder auf, wird aber schnell wieder verdrängt oder von der Politik aktiv negiert.

1944: Artikel des Reporters Peter Surava und des berühmten Fotoreporters Paul Senn führen dazu, dass die Zustände in der Luzerner Erziehungsanstalt Sonnenberg einen öffentlichen Skandal auslösen. Die Antwort der Behörden: Sie schliessen die Anstalt. Die Behördenpraxis geht weiter, „Liederliche“, „Arbeitsscheue“ oder „Verwahrloste“ ohne Gerichtsurteile in Heime einzusperren.

1970: Die Illustrierten „Sie+Er“, der „Schweizerische Beobachter“ und die katholische Jugendzeitschrift „Team“ veröffentlichen kritische Reportagen über Erziehungsanstalten. Die Zürcher Heimkampagne, die aus der 68-er Bewegung hervorgegangen ist, prangert 1971 mit spektakulären Aktionen die unhaltbaren Methoden in den Erziehungsanstalten an. Auch diese Kritik flaut wieder ab. Die Praxis der Vormundschaftsbehörden geht weiter, das Gesetz wird nicht geändert.

1970: Der „Schweizerische Beobachter“ macht publik, dass die Aktion Kinder der Landstrasse, gegründet von Pro Juventute und mitfinanziert vom Bund, Fahrenden jahrelang ihre Kinder weggenommen hat.

1981: Das Parlament schafft unter dem Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention die administrative Versorgung ab. Es können keine Menschen mehr ins Gefängnis gesperrt werden, bloss weil sie einen „liederlichen Lebenswandel“ haben, „arbeitsscheu“ oder „verwahrlost“ sind.

1986: Bundespräsident Alphons Egli entschuldigt sich offiziell bei den rund 2000 Fahrenden, die von der Aktion Kinder der Landstrasse betroffen waren.

2004: Der Bundesrat verweigert den Verdingkindern eine finanzielle Unterstützung – selbst für die historische Aufarbeitung ihrer Geschichte, weil „kaum Ergebnisse erwartet werden, die für die heutige Praxis nutzbar wären.“

2004: Das Parlament lehnt ein Gesetz ab, das Zwangssterilisierten Wiedergutmachung und eine Entschädigung zusprechen will. Gründe: Nicht der Bund, sondern die Kantone seien für das Fürsorge- und Vormundschaftswesen zuständig; der Gesetzgeber könne sich nicht zum Richter über die Vergangenheit aufschwingen; rehabilitiere man diese Gruppe, kämen bald auch andere etc.

3. Die Wende bringen mutige Betroffene, engagierte Medienschaffende, offene Politiker und Beamte sowie ein millionenschwerer Unternehmer

2008: Der Beobachter macht das Schicksal der administrativ Versorgten Ursula Biondi publik und lanciert einen Aufruf: Menschen, die ähnliches erlebt hätten, sollten sich an ihn wenden. 8o Menschen melden sich. Der Beobachter macht sich für eine umfassende Wiedergutmachung und Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels Schweizer Geschichte stark. Die Behörden reagieren zuerst nach bekanntem Muster: Der schwarze Peter wird vom Bund an die Kantone, von den Kantonen an die Gemeinden weitergereicht – niemand will zuständig sein; wenn man administrativ Versorgte entschädige, kämen bald andere Betroffenengruppen und das nähme kein Ende etc. Der Beobachter macht weiter Druck und stellt einen Forderungskatalog mit 8 Punkten auf. Zahlreiche Medien nehmen das Thema auf.

2010: Das Buch „Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen“ beschreibt die Schicksale Betroffener, das Denken der Vormundschaftsbehörden und Juristen und die Reaktion der Ämter.

September 2010: Bundesrätin Evelyne Widmer-Schlumpf entschuldigt sich bei den administrativ Versorgten anlässlich eines Festaktes in der Strafanstalt Hindelbank.

April 2013: Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigt sich bei allen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Juni 2013: Der runde Tisch mit Behördenvertretern und Betroffenen nimmt seine Arbeit auf.

März 2014: Das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen tritt in Kraft. Das Parlament anerkennt das Unrecht, das man den Betroffenen angetan hat; setzt für die wissenschaftliche Erforschung eine unabhängige Expertenkommission ein; sichert die Archivierung und das Akteneinsichtsrecht Betroffener, schliesst aber explizit eine finanzielle Wiedergutmachung aus.

Dezember 2014: Die Wiedergutmachungsinitiative – lanciert vom Unternehmer (und früheren Heimkind) Guido Fluri wird eingereicht. Sie fordert 500 Millionen Franken als Wiedergutmachung für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

15. September 2016: Der Ständerat heisst mit 35 zu einer Gegenstimme das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 gut. Der Nationalrat hat dem Gesetz, das als Gegenentwurf zur Wiedergutmachungsinitiative formuliert ist, bereits im April zugestimmt. Es sieht für Betroffene unter anderem Solidaritätsbeiträge von 25’000 Franken vor, Hilfsangebote durch Beratung und eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung.

 

 

 

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