Wie sich ein Justizskandal in Luft auflöst

«2600 Häftlinge abgehauen», kreischten die Medien. Bei genauerem Hinsehen schrumpft die Zahl auf etwa 200. 

 «Justizskandal», titelte die Sonntagspublikation «Sonntag» unlängst und meldete weiter: «Aus dem Schweizer Strafvollzug sind 2600 Insassen in einem Jahr entwichen.» Schnell wurde die Meldung von anderen Medien aufgegriffen. Sie passte voll ins Bild von Kuscheljustiz und Warmduscherstrafvollzug. Doch leider schaute kein Journalist genauer hin.

Der Artikel im «Sonntag» stützt sich auf die polizeiliche Kriminalstatistik 2008 (PKS). Darin sind für das Jahr 2007 tatsächlich 2625 «Entwichene» ausgewiesen. Alles korrekt also? Nein, denn mit Statistiken ist es so eine Sache. «Als entwichen gemäss dieser Statistik konnte je nach Kanton bereits ein Häftling gelten, der nicht rechtzeitig in die Anstalt zurück kam», erklärt Erich Leimlehner vom Bundesamt für Polizei, welches die PKS publizierte. Im Klartext: Kam ein Häftling vom Urlaub, von einem Arbeitseinsatz oder einem Arztbesuch ausserhalb der Anstalt auch bloss eine halbe Stunde zu spät zurück, galt er als «entwichen».

Zudem enthält die Zahl Mehrfachzählungen. «Entwich» ein Häftling aus einer Anstalt in Bern, in die er vom Kanton Zürich eingewiesen worden war, wurde er mitunter sowohl von Bern wie auch von Zürich als «entwichen» gemeldet. «Gerade die Zahl der „Entwichenen“ ist daher völlig ungenau», bringt es Leimlehner auf den Punkt. «Deshalb soll sie auch nicht mehr erhoben werden.»

Bleibt die Frage, wie viele Häftlinge im Jahr tatsächlich ausbrechen. Auch das Bundesamt für Statistik kennt die genaue Zahl nicht. Es weiss nur, dass rund 350 Häftlinge länger als 24 Stunden aus den Anstalten weggeblieben sind. Doch lange nicht alle dieser Häftlinge waren auf der Flucht. Und gefährlich sind die allerwenigsten.

Im Kanton Zürich zum Beispiel ist letztes Jahr aus geschlossenen Anstalten, wo die gefährlichen Straftäter eingesperrt sind, keine einzige Person entwichen. Und aus den offenen Zürcher Anstalten, wo weniger gefährliche Straftäter wie Diebe oder Drogendelinquenten auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden, sind letztes Jahr 52 Insassen «entwichen». Das heisst: Sie haben das ungesicherte Gelände unerlaubt verlassen oder sind verspätet zurückgekehrt. 45 kamen freiwillig zurück oder wurden von der Polizei zurückgebracht.

Rechnet man diese Zahlen auf die Schweiz hoch, werden aus 2600 Ausbrüchen weniger als ein Dutzend gefährliche und etwa 200 ungefährliche Straftäter auf der Flucht. Wieder gefasst wurden fast alle. Ist das ein Justizskandal?

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