Hinschauen gleich schlimm wie dealen

Wer bei Krawallen aus der Distanz zuschaut, verdient die gleiche Strafe wie jemand, der mit 25 Gramm 
Heroin handelt oder mehrere Einbrüche begeht – urteilen die Zürcher Strafbehörden.

Christine Meier* und Thomas Haupt* werden Anfang Jahr vor Gericht stehen. Sie haben niemanden verletzt und auch sonst keinerlei Schaden angerichtet. Vorgeworfen wird ihnen, sie seien Mitte September 2011 am Central in Zürich «Teil einer öffentlichen Zusammenrottung» gewesen und hätten damit «die gewaltbereite Masse mit ihrer physischen Anwesenheit unterstützt». Landfriedensbruch heisst das im Juristenjargon.

Der 18-jährigen Christine droht eine bedingte Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken und zusätzlich eine Busse von 1600 Franken. Der 20-jährige Thomas soll 120 Tagessätze à 30 Franken und eine Busse von 800 Franken bezahlen. Damit fordert die Staatsanwaltschaft mehr als dreimal so hohe Strafen, wie sie sonst bei Landfriedensbruch üblich sind.

Für das gleiche Strafmass könnte Christine Meier mit 25 Gramm Heroin handeln, ein paar Einbruch- oder Entreissdiebstähle begehen, schwer betrunken Auto fahren oder sich mit 125 Kilometer pro Stunde innerorts blitzen lassen. «Die Strafen mögen von aussen betrachtet hoch erscheinen», gesteht der Zürcher Oberstaatsanwalt An­dreas Eckert ein. «Aber die Ausschreitungen am Central wollten wir konsequent ahnden.»

Die beiden Schweizer Jugendlichen, die noch nie straffällig geworden sind, verstehen die Welt nicht mehr. «Ich habe doch nichts Unrechtes getan», sagt Christine Meier. Sie hat in jener Nacht keine einzige Bierflasche geworfen, in keiner Art randaliert, sondern nur dagestanden und geschaut. Sie wollte Zeugin sein, wie die Polizei mit Jugendlichen umgeht, also mit ihrer Generation, in ihrer Stadt. «Und jetzt will man mich zur Kriminellen machen.»

Für Meier hatte alles Mitte Juli an einem Fest unter der Zürcher Duttweilerbrücke begonnen. Die junge Frau, die politisch nicht aktiv ist, schätzt solche Outdoor-Partys, weil sie nicht vom Kommerz gesteuert sind, der Eintritt nicht 30 Franken, nicht jeder Drink 15 und nicht jedes Bier zehn Franken kostet wie in einem Club. An jener Party im Hochsommer in einem kaum bewohnten Gebiet habe die Polizei mit einem Grosseinsatz die Musikanlage beschlagnahmt und grundlos mit Tränengas und Gummischrot in die Menge geschossen. Deshalb ging die 18-Jährige Mitte September ans Central, «um ein Zeichen zu setzen gegen solch sinnlose Gewalt der Polizei».

Auch Thomas Haupt ist Freiraum wichtig. «Freiraum heisst, sich vom Druck des Geldes zu befreien, von der Profitgier.» An jenem 17. September 2011 erfuhr er von Freunden per SMS, dass es in Zürich am Central eine Strassenparty gebe. Weil er an jenem Tag nach Zürich umzog, dachte er, es sei eine gute Gelegenheit, am neuen Wohnort Leute kennenzulernen.

Um Mitternacht traf Haupt am Central auf rund 1000 Partybesucher und 50 Polizisten. In Einsatzwagen warteten weitere Gesetzeshüter. Was als Party angekündigt war, sollte sich zur Strassenschlacht entwickeln. Einzelne Krawallanten warfen Bierflaschen gegen Polizisten, die Beamten antworteten mit Wasserwerfern und Gummischrot. Die Auseinandersetzungen dauerten fast zwei Stunden. Thomas Haupt wich in Nebengassen aus, blieb aber in der Nähe, weil er «das Terrain nicht der Willkür der Polizei überlassen» wollte. Gegen halb zwei Uhr nachts wurde er verhaftet.

Christine Meier stand gegen ein Uhr nachts mit Kollegen am Neumühlequai und beobachtete über die Limmat hinweg, wie Randalierer vor dem rund 100 Meter entfernten Hauptbahnhof ein Tramhäuschen demolierten. 20 Minuten später wurde sie mit Wasserwerfern Richtung Platzspitz getrieben, wo sie von beiden Seiten eingekesselt und danach verhaftet worden ist – wie Dutzende anderer Jugendlicher auch (siehe «September 2011: Die Bilanz einer Massenverhaftung», links).

Thomas Haupt und Christine Meier verbrachten 14 Tage in Untersuchungshaft – wegen «Verdunkelungsgefahr». Sie erlebten diese Internierung als Druckmittel, als Beugehaft. «Am dritten Tag forderte mich ein Staatsanwalt auf, eine Strafe wegen Landfriedensbruchs zu akzeptieren», sagt Meier. Sie käme dann mit einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen davon. Das kam für Meier aber nicht in Frage, «weil ich ja gar nichts Unrechtes gemacht hatte». Als die Staatsanwaltschaft Meier nach der 
Untersuchungshaft zu 170 Tagessätzen – also fast der doppelten Strafe – verurteilen wollte, erschien ihr die Justiz wie ein Bazar. Sie hat den Strafbefehl vor Gericht angefochten. «Beugehaft ist verboten», widerspricht Oberstaatsanwalt Andreas Eckert. Ein Staatsanwalt zeige einem Beschuldigten nur Varianten auf. Das sei normal.

Christine Meier ist noch heute überzeugt, dass die Polizei eine wichtige Funktion habe, aber sie ist von der sinnlosen Gewalt ernüchtert, die diese einsetzt.

Die Stadtpolizei Zürich sieht die Ereignisse im Sommer 2011 anders. Bei der Party unter der Duttweilerbrücke, an der die Polizei unverhältnismässig Gewalt angewendet haben soll, hätten die Jugendlichen mit der Aggression begonnen und Flaschen geworfen. Erst dann hätten die Beamten Gummischrot eingesetzt. Und den Vorwurf, beim Central Unschuldige verhaftet zu haben, kontert Polizeisprecher Marco Cortesi mit der Aussage: «Wer sich stundenlang in einem Gebiet aufhält, wo es 
zu Ausschreitungen kommt, muss damit rechnen, eingekesselt und verhaftet zu werden. Wenn Krawalle länger andauern, muss man sich halt entfernen.»

Diese Auffassung hat zur Konsequenz, dass Teilnehmer Demonstrationen oder öf­fentliche Feste verlassen müssen, wenn Ein­zelne über längere Zeit Gewalt anwenden. So kann die Versammlungsfreiheit durch Krawallanten ausser Kraft gesetzt werden.

Mitverantwortlich für diese Situation ist das Bundesgericht. Es erklärte im Grundsatzentscheid zum Landfriedensbruch, der noch aus dem Jahr 1982 stammt, einzig für straffrei, wer sich als «bloss passiver, von der Ansammlung distanzierter Zuschauer gebärdet». Weil diese offene Formulierung zu ungerechten Verhaftungen führen kann, fordern Strafrechtler wie Günter Stratenwerth oder Stefan Trechsel, dass «blosse Gaffer, auch wenn sie der Polizei lästig fallen, straflos bleiben».

Ähnlich sieht es Jugendanwalt Beat Fritsche, Mediensprecher der Zürcher Jugendstrafrechtspflege. «Wenn sich beweisen lässt, dass ein Beschuldigter am Neumühlequai stand und über die Limmat hinweg zuschaute, wie am Bahnhofquai ein Tramhäuschen demoliert wurde, kann man ihn nicht wegen Landfriedensbruchs verurteilen», meint er deutlich.

Die Jugendanwaltschaft, die minderjährige Straftäter beurteilt, hat denn auch anders reagiert als die Staatsanwaltschaft. Von 20 Strafverfahren im Zusammenhang mit den Ereignissen am Central hat sie bereits sieben eingestellt und nur fünf Strafbefehle erlassen. Acht Verfahren sind noch pendent. Erste Entschädigungen wegen ungerechtfertigter Haft wurden ausbezahlt.

Sollen bei Krawallen auch Zuschauer bestraft werden können, das übliche Strafmass verdreifacht und Untersuchungshaft als Druckmittel eingesetzt werden dürfen? Diese Fragen werden ab Anfang Jahr Gerichte verhandeln – die aller Erfahrung nach die Grundrechte höher einschätzen als Polizei und Staatsanwaltschaft.

September 2011: Die Bilanz einer Massenverhaftung

In der Nacht vom 17. auf den 18. September 2011 hat die Polizei in der Stadt Zürich 91 Jugendliche verhaftet, als es bei einer Party auf öffent­lichem Grund zu Krawallen kam.

  • 25 Jugendliche wurden umgehend wieder freigelassen, weil offensichtlich nichts Straf­bares vorlag.
  • 9 Jugendliche erhalten definitiv keine Strafe, da das Verfahren mangels Beweisen bereits eingestellt wurde.
  • 31 Jugendlichewurden von Staats- und Jugendanwälten zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Das Strafmass liegt zwischen 120 und 180 Tagessätzen bei volljährigen Beschuldigten und zwischen 400 Franken Busse und einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen bei minderjährigen Beschuldigten.22 dieser Strafbefehle wurden rechtskräftig, 9 wurden bereits angefochten und gelangen somit vor Gericht.
  • 26 Strafverfahren sind noch hängig, das heisst, es ist 
unklar, ob sie eingestellt werden, 
in einen rechtskräftigen Strafbefehl münden oder vor Gericht verhandelt werden. Ein Strafverfahren wurde 
an einen anderen Kanton ab­getreten.